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Cusanus

Lebenstationen

Nikolas von Kues wurde als Sohn eines wohlhabenden Fischers in Kues an der Mosel geboren. Im Alter von zwölf Jahren konnte er dank der Unterstützung befreundeter Familien die Schule der "Brüder vom gemeinsamen Leben" im holländischen Deventer besuchen. 1416 immatrikulieret er sich an der Universität Heildelberg als Kleriker der Diözese Trier, verließ aber die Stadt ein jahr später wieder, da er dem dortigen Lehrbetrieb nichts abgewinnen konnte.

Er ging statt dessenzur Juristenfakultät nach Padua, wo er im Herbst 1423 promovierte. Anschließlich leistete er den Treueeid gegenüber der Universität und erhielt vom Bischof die Vollmacht, überall Vorlesungen über Kirchenrecht zu halten. Ab 1425 studierte er in Köln und widmete sich der Erschließung rechts- und kirchengeschichtlicher Quellen. Er entwickelte eine große Meisterschaft in der kritischen Sichtung der Rechtsquellen, was ihm wissenschaftlichen Ruhm, aber auch wachsenden Einfluß im kirchlichen Raum einbrachte.

Wirklich bekannt wurde er um die Jahreswende 1433/34, als er sein erstes großes Werk De concordantia catholica dem Konzil von Basel vorlegte. Zu dieser Zeit stritt man innerhalb der Kirche darüber, ob die oberste Gewalt beim Papst oder beim Konzil läge; Kues beantwortete dies mit der Feststellung, daß Papst und Konzil die Kirche darstellten. Als Kues zuerst die Reformbewegungen des Konzils gegen den Papst verteidigte und später dann den Papst gegen das gespaltene Konzil unterstützte, war er stets von dem einen großen Gedanken geleitet, wie die Einheit der Kirche und der Christenheit in allen ihren Stufungen zu erhalten bzw. wieder herzustellen wäre.

Am 20. Dezember 1448 wurde Nikolaus von Kues zum Kardinal erhoben. 1451-52 unternahm er eine große Legationsreise in die deutschen Lande. Schon vorher, 1450, hatte ihn Papst Nikolaus V. zum Bischof von Brixen in Tirol ernannt.

Nikolaus von Kues ist Mahner, Prophet und Deuter seiner Zeit gewesen, war seine großartige Schrift De pace fidei (Über den Frieden im Glauben) beweist, worin er für die Zukunft den Weg der Verständigung unter den Weltreligionen und Weltanschauungen gewiesen hat. Kues gehörte zu einer dreiköpfigen päpstlichen Delegation, die nach Konstantinopel reiste, um die Einigung der griechisch-orthodoxen Ostkirche mit der römisch-katholischen Kirche voranzutreiben. Diese Bemühungen um die christliche Einheit führten am 9. April 1438 zur Eröffnung des Unionskonzils in Ferrara (später Florenz), das 1439 in einer Union mit den Griechen gipfelte. 1453 jedoch wurde Konstantinopel von den Türken erobert und zerstört. Die Grausamkeiten, die dabei stattfanden, veranlaßte Kues zu seiner Schrift De pace fidei, wie er in seiner Einleitung schreibt.

Er umreißt dort seine Idee, die verschiedenen Glaubensrichtungen zu einer "einzigen und glücklichen Einheit" zu führen und einen ewigen Frieden in der Religion zu bilden.

Quelle: Neue Solidarität, Nr. 15 11.04.2001, von rado jadu 2001

Und doch gab es einen Geist mitten in dieser Zeit, der die philosophische Kraft und die Gewalt der Persönlichkeit zum Einheitswerk besaß und bewies, den armen Fischerssohn von Kues an der Mosel, Nikolaus von Kues (1401-1464). Sein Lebensgang hatte ihn durch die Schule von Deventer und dann nach Italien geführt, wo er neben Jura die Antike studierte und eifrig Handschriften der Alten sammelte; 1432 dann erschien er als Trierer Vertreter auf dem Baseler Konzil, wo er alsbald eine führende Rolle spielte; 1437 aber gewann ihn der Papst für sich, machte ihn zum Legaten und betraute ihn mit den wichtigsten diplomatischen Sendungen, um ihn 1448 endlich mit dem Kardinalshut auszuzeichnen. Als Gestalt wie als Denker erreicht Cusanus die Höhenlinie, die von Albert d. Gr. über Eckhart zu ihm und von ihm weiter zu Paracelsus und Leibnitz verläuft. Er stellt dar, was die Deutschen einem Leonardo da Vinci an die Seite zu stellen haben. In seinem Geisteswerk liegt die letzte große Universalphilosophie aus mittelalterlicher Haltung und mittelalterlichen Voraussetzungen vor.

Aber nicht nur mit der Feder, nein, mit der Tat und seiner ganzen Persönlichkeit setzte sich der bedeutende Mann für Reform und Erneuerung ein: uns wird geschildert, wie er auf seinem Maultier durch die deutschen Lande ritt, überall ratend und eingreifend, wenn auch viel angefeindet und manchmal bedroht, im ganzen freilich zu kurz und vergeblich wirkend. Schon vor dem Konzil hatte er in Koblenz seine große Erstlingsschrift begonnen. Ihr Titel "Von der katholischen Einheit" (De concordantia catholica) wie auch andere Titel bei ihm
(z.B. "Vom weisen Nichtwissen") zeigt voll und klar, was er will; und zugleich die große geistesgeschichtliche Linie unserer Betrachtung, die wir hier weiter spinnen, das Ringen um Einheit und Synthese.

Zwischen Mystik und Nominalismus sucht der Deutsche seine eigene Bahn. Auch er gibt nichts auf die Kraft der Vernunft, der Ratio. Zwischen Endlichem und Unendlichem ist kein Übergang denkbar, das sind Gegensätze. Wenn Cusanus hiervon ausgeht, so scheint ihn die negative Theologie zu beherrschen, und man wird den Stufenkosmos der aristotelischen Scholastik, den steten logischen Aufstieg in die höheren Erkenntnisschichten nicht bei ihm erwarten. Und doch galt es über die Gegensätze zu einer Einheit vorzudringen, doch vermochte der Philosoph gerade in jener "Ignoranz", unter der unser Erkennen steht, Weisheit und Erkenntnismöglichkeit zu entdecken.

Das geschah nicht nur auf die Weise des platonischen Ja zur Erscheinung als dem Zeichen der Idee. Sondern es geschah in einer neuen, folgenreichen Wendung der Erkenntnistheorie, durch die Cusanus zu der Einsicht kam, daß das Endliche, daß die Ratio zwar bedingt und begrenzt seien und geschieden vom Absolutem, daß sie aber über sich hinausweisen und das Unendliche sogar als Prinzip in sich selber trugen. Das legt er an der mathematischen Begrifflichkeit des Kreises dar, die symbolisch aufgefaßt für die ganze Seinsfrage überhaupt die Anschauungsweise ergibt. Der Kreis ist der Inbegriff aller möglichen Vielecke. Kreis und Vieleck sind Gegensätze, und doch treten sie in eine Beziehung und werden sie unter dem Gesichtspunkt des Unendlichen zu einer Einheit: die unendliche große Vervielfältigung des einbeschriebenen Vielecks gibt die Formel für den Kreis, im Unendlichen geht er als etwas ganz anderes aus dem Vieleck hervor. Hier ist der Schlüssel zum Weltbilde des Cusanus, wie wir wohl vermerken, ein Grundbegriff aus dem Bereiche der Mathematik, der Naturwissenschaft. Wir sehen hier auch (gegenüber Taulers Grenzmystik) die eigentliche Philosophie der Grenze; denn aus der scharfen Beobachtung jenes Grenzverhältnisses, des Übergangs zwischen endlich und unendlich, rational und irrational, sind die unanschaulichen mathematischen Erkenntnismittel gewonnen. Cusanus legte hier den Grund zur Infinitesimalrechnung, und sein Denken begann zu arbeiten mit den Funktionswerten des unendlichen Großen, den Größten und des unendlich Kleinen.

Die außerordentliche bedeutsame Wendung war geschehen, "den Charakter der Unendlichkeit von dem Gegenstand der Erkenntnis auf die Funktion der Erkenntnis übergehen" zu lassen, vom Objekt gleichsam auf das Subjekt. Zugleich ergibt sich hier ein weiterer Hauptgrundsatz dieser neuen Erkenntnishaltung, die "coincidentia oppositorum", das Zusammenfallen der Gegensätze. Im Kreise fallen die Gegensätze zusammen. Coincidentia oppositorum ist aber nicht nur erkenntnistheoretisches Mittel, sondern tiefster Wesensbegriff. Denn wendet man die Betrachtungsweise auf die religiösen Gehalte, so ist Gott der Kreis, dem das Universum als das Größte, als der Inbegriff der Erscheinungswelt in all ihren Möglichkeiten einbeschrieben ist. Gott ist die Einheit aller Gegensätze, ja selbst diese Bestimmung ist noch zu "relativ", er ist jenseits des Zusammenfalls der Gegensätze. Wie nun die Einheit des Kreises sich in die Menge der Vielecke in geheimnisvollem, ewig unbegreiflichem und unanschaulichem Übergang auffaltet, so enthält das Eine "komplizit" die Vielheit, und Erkenntnis ist Entfaltung (explicatio). Deshalb setzte Cusanus gleichsam über sein ganzes Werk den richtigen Titel, als er einer Abhandlung die Überschrift gab: "De beryllo"; der durchscheinende Stein, nach dem man die Brillen benannt hat, besitzt die Kraft, das Unsichtbare sichtbar zu machen; ist es nicht, als erscheine hier das Mikroskop als Symbol über diesem Denken?

Complicatio und explicatio, das Unendliche zu begreifen in seinem Verhältnis zum Endlichen, darin liegt das Schöpferische des nachschaffenden Verstandes, der eben selbst im Denken den charakteristischen Übergang tut. Deshalb ist der menschliche Geist "mens", wesenhaft der Messende, der auch das Unendliche als Maßstab in sich trägt. Denn alle Erkenntnis geschieht durch Vergleich (Proportion). Wenn ein Einzelnes aber gemessen, abgehoben werden soll, so kann es nur an Ganzen geschehen: nam non scitur pars, nisi toto scitur; totum enim mensurat partem. In dieser Weise hat auch der "mens" teil an der Einheit. Denselben Anteil hat jedes Endliche, und zwar alle in gleicher, nicht unterschiedlicher, nicht mystisch gestufter Weise. Denn alles Endliche ist gleichermaßen Gegensatz zum Absoluten und in gleicher Weise an die Grenze des Übergangs zu jenem zu stellen. Alle unsere Erkenntnisse und alle Erscheinungsformen sind nur Spielarten und Mutmaßungen (coniecturae).

Hier erheben sich erregende Folgerungen, hier tauchen vor dem geistigen Auge des Kardinals die wesentlichsten Umrisse des modernen Weltbildes auf, und der Bau der christlichen, theonom und hierarchisch geordneten mittelalterlichen Welt scheint in seinen Grundfesten zu zittern. Die Erde rückt aus dem Mittelpunkt der Welt, die unendlich ist und unendlich groß und nirgends und überall Mitte hat, astronomisch gesehen, geistig aber nur in Gott. In Kapitel 11 und 12 der "Docta ignorantia" ist Kopernikus vorweggenommen. Aber auch die Lessingsche Toleranz formt der deutsche Denker des 15. Jahrhunderts vor. Alle Religionen sind "Konjekturen", Spielarten der einen Wahrheit. "una religio in rituum varietate." Religionen und Kirchen brauchen deshalb nicht zu streiten, sie sollen sich vielmehr zum Ganzen und einem hinaufläutern, die katholische Kirche soll sie unter Wahrung ihrer Eigenheiten und Kulte zusammenfassen. Es hat etwas Erschütterndes zu sehen, wie hier vor dem Auseinanderfallen der deutschen Bekenntnisse die Idee der universalen Kirche und des Glaubensfriedens einem deutschen Gehirne entsprang, edelste Blüte des mittelalterlichen Ganzheitsringen und doch schon etwas wesenhaft Neues.

Und auch in das Politische erstreckte sich die Folgerung der Haltung und führte Cusanus dazu, den Herrschaftsanspruch des Papstes über das Kaisertum zu bestreiten und damit einen Strich unter den jahrhundertelangen Kampf des Mittelalters zu setzen. In seiner Schrift "De concordantia catholica" schildert er das Kaisertum so, wie es seit einem Jahrhundert und seit Dante die Besten betrachtet hatte: Gleichberechtigt steht die weltliche neben der geistlichen Macht; und so vermutet der Kardinal auch schon die Unechtheit der sogen. "Konstantinischen Schenkung", hierin wie in all seinen politischen Gedanken den Humanisten vorschreitend.

So modern und zukunftweisend aber dieses Weltbild auch erscheint, so hatte es doch das Mittelalter noch nicht hinter sich gelassen, sondern es gipfelte geradezu in seiner Sinngebung. Wohl war der Kardinal ein Revolutionär, aber ein unbewußter. Er philosophiert immer als Christ, "die geoffenbarten Heiltatsachen und Wahrheiten tönen überall mit" (Hoffmann 21). Die Christologie ist der Schlußstein seines Gebäudes. Wenn Gott der Kreis ist, so ist Christus gleichsam das größte der einbeschriebenen Vielecke, Verkörperung jenes Urrätsels und Urmysteriums des Übergangs zwischen Unvereinbarem. In ihm wird höchste coincidentia oppositorum sichtbar: größte Erhöhung und tiefste Erniedrigung. Wir erinnern uns hier dessen, was über Eckharts Seelenerkenntnis gesagt wurde. So sah Eckhardt die Seele. In der Tat stand Cusanus auf des Meisters Schultern, wir haben in Kues noch die Folianten mit Eckharts Schriften, die Cusanus mit seinen Randbemerkungen versehen hat. Aber noch ein anderer Weg leitet zu Christus, ein humanistischer. Das Universum muß einen Wertgipfel haben, ein Ziel, ein finis. Das ist Christus. Hier führt Cusanus nun doch wieder den (aristotelischen) Gedanken der Zielstrebigkeit ein, der Stufung, und bindet damit die humanistische Idee fest an die mittelalterliche Denkweise. Wenn das Universum die Wirklichwerdung Gottes ist, so muß das nicht nur als Summe, sondern auch als Wesensaufgipfelung und Wertspitze gedacht werden. Diese Gipfelstufe aber muß im Menschlichen gesucht werden, denn nur die mittlere Menschnatur kann die Verbindung zwischen Höherem und Niederem tragen. Wenn der Mensch an den sittlichen Ideen teil hat, so ist das nicht als ein Sein, sondern als eine Aufgabe zu betrachten (Einfluß der devotio moderna). Diese Aufgabe heißt "humanitas". Universum und humanitas verhalten sich wie das Größte und das Höchste. Die Gestaltwerdung der humanitas aber ist Christus.

Des Cusanus Weltsicht bricht wie ein Kristall in hundert Flächen. Denn in ihm kreuzt sich Vergangenheit und Gegenwart. Man wird fast alle Bestandteile der Theologie und Philosophie vor ihm in seinem Werk aufweisen können, und doch gestaltete er daraus ein Neues und Eigenes. Es darf auch nicht verhehlt werden, daß er nicht ohne Entwicklung blieb, die ihn zu manchen Rückzügen, Abstrichen und Milderungen führte, und daß er andererseits auch nicht ohne die starken Einschläge der dionysisch-areopagitischen Mystik ist mit ihrem durchgehenden Symbolismus der mystischen Schichtung und mit einer ganz charakteristischen Übertreibung in der Durchführung allegorischer Schematismen. Wenn sein Bild bei verschiedenen Forschern heute noch verschieden ausfällt, so liegt das daran, daß sie von verschiedenen Seiten und unter abweichenden Problemstellungen an ihn herantreten. Man darf auch Cusanus nicht glätten und idealisieren wollen.

Er war ganz Mensch seiner Zeit, indem er tiefe Klüftung und Gespanntheit im Einheitsdrang zu überwinden sich sehnte. Zeitgenossen konnten ihm Gesinnungswandel vorwerfen, nachdem der Anhänger der Konzilsidee zum Parteigänger des Papstes geworden war. Dieser Entschluß ist nicht die einzige Stelle, wo man so etwas wie ein gewaltsames Niederringen des Ich, einen Selbstzwang zu Gehorsam empfindet bei dem Manne, in dem der kosmische Freiheits- und Einheitsgedanke glühte wie in keinem seiner Tage. Cusanus stand im Bau der Kirche, von ganz unten auf war er in ihn hineingewachsen, er will vor allem auch als Kirchenfürst verstanden werden. Er war ihr herzensverpflichtet, er, der doch die unerhörte Lehre von der Beziehungslosigkeit alles Einzelnen, von der geradezu schon monadenhaften Selbstheit des Individuums entfaltet hatte, die mit seinem Wahrheitsbegriffe gesetzt war (denn wahr sei, was der Andersheit entbehre, veritas est inalterabilitas). Welch unerhörte Spannungen müssen das alles in einem Menschen selbst von so gewaltigem seelischgeistigem Vermögen gewesen sein!

Wohl versteht er unter der "docta ignorantia" auch mystische Gottschau. Doch ist hierin keine enttäuschte Bescheidung, kein Kleinmut, sondern faustischer Drang des angeborenen unersättlichen Suchens (omnis enim intellectualis spiritus scire appetit). Deutsch aber war die unermüdete Harmonisierungsleidenschaft, der Vorstoß in die Tiefenschicht des Bewußtseins, wo man jenseits des kausallogischen Sic et non ist, die Begriffsbildung aus dem Glaubenserlebnis mystischer Einheit und mystischer Sehnsucht, das Organ für die Ganzheit, der Drang nach dem Leben gegen alle Zergliederung, der Sinn für Größe, Inbegriff und Entfaltung des Kosmos, der Mut zur Heiligung der Einzelheit, des Dings, des Individuellen in aller Unmittelbarkeit der Teilhabe am Einen.

In Nikolas von Kues ging damals der deutsche Geist der Welt voran. Mochte er auch in seinem Vaterland unermessen, unbegriffen oder auch giftig und fälschlich als Ketzer angegriffen sein, von den Humanisten nur als der erste Kenner des Hebräischen und Griechischen geschätzt — in Italien ist sein Einfluß gewaltig gewesen. Der große Einsame in seiner Zeit hat doch schon 1440 die Ideen entwickelt von der Gleichartigkeit aller Offenbarungen und Religionen, die dann Gemeingut der platonischen Akademie in Florenz werden. Leonardo und Galilei sind ihm tief verpflichtet, und Giordano Bruno feierte den Erfinder der Geometrie in ihm.

In Cusanus erhob sich mächtig noch einmal wieder der "Irrationalismus der Mystik." Der Kardinal ist keine rein humanistische Natur. Und doch fanden wir die große Gleichung Christus-humanitas bei ihm. Und doch erinnert seine religiöse Toleranzidee an den humanistischen Einschlag in der höfischen Geisteskultur; und es ist bedeutsam, daß die Gleichartigkeit der freien Menschlichkeit wieder auftritt verbunden mit der neu erschlossenen Beziehung zum Osten, zur reichen und hochkultivierten orientalischen Welt: nicht nur, daß Cusanus mit Georgios Gemistos Plethon, dem bedeutendsten der aus Byzanz nach Italien geflohenen Wissenschaftler, persönlich verkehrte, er wurde auch vom Papste Eugen IV. nach Byzanz gesendet als Sachverwalter der damals als Möglichkeit aufgetauchten Vereinigung auch der beiden christlichen Kirchen; auf der Seereise — der Fall erinnert an Herder — von Byzanz nach Italien 1438 blitzte ihm die Idee der coincidentia oppositorum auf. Aber Cusanus wollte das Mittelalter festhalten, und es ist von vorneherein entscheidend, zu erkennen, daß auch der Humanismus, und besonders der deutsche, als bewegende Kraft den Drang nach Erneuerung des religiösen Lebens in sich trägt, daß auch er dem Glauben und der Kirche dienen will, so scharf er sie immer angreift.

Eine Fülle von Entwicklungsvorgängen und -tatsachen, eine neue geistige Lage sehr verwickelter Natur, vor allem die neue Geltung der Antike, ein Hinzukommendes also, mit dem religiösen Erneuerungsstreben verbunden zu haben charakterisiert uns das, was wir Humanismus nennen. Hierin leistete er eine neue Synthese, eine Vereinheitlichung in doppelter Hinsicht. Er faßte die neu belebte Antike christlich, überzeugt, daß beides aufeinanderpasse; zugleich war ihm das möglich, indem er Vernunft und Glauben wieder einigte, indem er die Vernunfttätigkeit in widerspruchsfreiem Dienst gerade als das Tragende der Glaubensmöglichkeit ansah. Inhaltlich drückte sich diese Synthese in einem so vorher nicht gekannten Bildungsbegriffe und Bildungsideale aus. Das Eigenartige des deutschen Humanismus besteht weiter darin, daß er die religiöse Lösung und die Vereinheitlichung der Weltanschauungsspannung nicht in einem Glaubenserlebnis und nicht in der Durchsetzung und Verkörperung eines neuen Lebensgefühls und Menschentypus bewerkstelligte, sondern in einer ästhetisch-literarischen Bildungsgläubigkeit und in einem Formalismus.

Was ist das Wesentliche an diesem Vorgang? Auf drei Punkte kommt es an. Zunächst einmal liegt der Aufbruch und die Grundrichtung im Gebiete des Glaubenskampfes, und deshalb gehört der Humanismus auch in diesen Betrachtungszusammenhang. Religion und Kirche sind bedroht von der Unbildung; wer nicht richtig Latein und die Bibel und die Bücher des Kultus nicht lesen kann, der ist ein Zerstörer des Glaubens und ein Gespött des aufmerksam gewordenen Volkes; gute Bildung in Sprachen, Grammatik und Denken dient also dem Evangelium. Das zweite Kennzeichen ist daher die Hochwertung der sprachlichgrammatischen Bildung, des Wortes und der Form. Bildung, die Grundlage der Frömmigkeit ist, erweist sich in der sprachlichästhetischen Prägekraft. Das geht dann so weit, daß der Form die Bedeutung beigelegt wird, die wahre Menschenwürde zu verleihen und darzustellen. Indem dieser Formalismus, mit dem man die aus den Fugen gehende Zeit zu heilen gedachte, seinen dienenden Sinn vergaß, wurde er Selbstzweck: eine kühne, hochgemute und nationalbewußte Geistesströmung, angetreten als Lebensbewegung und Wirklichkeitssehnsucht, schaltete sich selbst aus von den Anliegen des deutschen Lebens, indem sich ihr Bildungsbegriff zwischen den Menschen und das Volksleben schob. Ein drittes vereinigt sich mit den Genannten: die Entthronung des Christentums als einziger Offenbarung Gottes und ein neuer Sieg des (neuplatonisch gefaßten) Platonismus.

Im "Ackermann von Böhmen" bereits war die Formel "Christus und Plato" verkündet worden. Wimpfeling spricht von Christus als dem "doctor doctissimus", und Erasmus betete: "Hl. Sokrates, bitte für uns." Auch in Plato wie in allen anderen Weisen der alten Zeiten findet man, so hieß es, die göttliche Erbweisheit und den Geist Christi. Indem die Betonung auf die ethischen und erkenntnismäßigen Werte der Religion fällt, kann so Antike und Christentum vereinigt werden. Es gibt keine Kluft mehr zwischen Wissen und Glauben, Vernunft und Offenbarung. Das war nur möglich, weil wieder ein "realistischer" Idealismus platonischer Färbung durchschlug, eine monistischmystische Synthese, die ursprüngliche Wesensverwandtschaft mit dem Göttlichen lehrt, Einheit der Welt erfährt in den Urbildern, den Ideen, die Stufen des Seins sinnbildhaft in der Körperwelt findet. Dies weltanschauliche Geschehen leitet sich hauptsächlich auf Italien und den Einfluß des Florentiner Platonismus zurück, aber auf Deutschland hat Italien vor 1500 kaum wesentlich gewirkt, und aus der deutschen mystischen Naturphilosophie gab es eigene Ansätze, wie sich denn die Florentiner dem Cusanus für verpflichtet erklären.

War also nicht die "Wiedererweckung des klassischen Altertums", die antike Literatur und ihre Einverleibung die Hauptsache? Nein, das waren wohl mehr Begleiterscheinungen. Der Zugang zu antiker Literatur, Form und Philosophie ist in jener dargelegten Verbindung von Antike und Christentum geschaffen, jetzt kann jenes einströmen. Wenn einer lateinische Gedichte macht und Beispiele und Exempel aus der antiken Geschichte und Poesie in eine didaktische Dichtung einsetzt, wie Brant, der Dichter des "Narrenschiffs", so hat er doch damit noch nicht die neue Weltanschauung. Die deutschen Frühhumanisten wurzelten nicht nur fest und fraglos im alten Glauben, sie waren besonders treue Söhne der Kirche, wie z.B. Wimpfeling, der sich zeitlebens mit dem Gedanken trug, der Welt zu entsagen und Einsiedler zu werden. Und doch hat er die humanistische Haltung besonders klar ausgesprochen und gestaltet. Sie sei deshalb an ihm beispielhaft belegt.

Ein seltsames Gemisch der Werte kündigt sich bei ihm in einer Heidelberger Rede (1478) an: "Die Philosophie ist das einzige Schiff, das uns zu Gott trägt, ihr Studium macht uns unserem Schöpfer recht angenehm. Sie gibt uns Unsterblichkeit, sie trennt uns von den unwissenden Tieren, sie macht uns glücklich, sie trennt uns von der unwissenden Menge und macht uns zu Gottes Lieblingen." Hier erscheinen alle bildungshochmütigen Individualismen angedeutet. Wimpfeling meint ehrlich, durch höhere Bildung werde sich Sittlichkeit und Glauben wie beim Einzelnen so im Gemeinwesen heben. "Unwissenheit ist schuld an allem Unglück." Wir erwähnten bereits, das Wimpfeling sein Streben auf die Jugend und ihre bessere Erziehung richtete, indem er für die Gründung eines Gymnasiums warb."Die Kutte und der geschorene Kopf machen niemanden selig, der nicht auch die Gebote Gottes hält." Das war der Kern, gewiß! Aber die ewige Folgerung ist: Tugend! Und deren ewige Voraussetzung ist: Wissenschaft. Wozu die Studien? "Zum Schmucke seiner Seele und zur Förderung der Tugend, zum Troste für Eltern und Angehörige, zur Ehre seiner ganzen Familie, zum Heile des Vaterlandes, zum Segen des Staates, zur eigenen Selbsterkenntnis wie zur Erlangung der Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele und zur leichteren Gewinnung des Himmels."

Quelle: Deutsche Kultur vom Zeitalter der Mystik bis zur Gegenreformation, H. Gumbel, Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, Potsdam, 1938, von rado jadu 2001

Nikolaus Krebs von Kues (Nicolaus Cusanus)
Biographie
Nicholas of Cusa
Daten seines Lebens
Human Knowledge and God in Cusanus' De docta ignorantia , Book I
eigentl. Nikolaus Krebs
Remarks on Eckhart's influence on Cusanus' 1456 sermon: "Ubi est qui natus est rex Iudeorum?
600 Jahre Cusanus


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