SPINOZA





Ein Umriß seines Lebens und Wirkens





von





Fritz Mauthner



















DRESDEN 1921


CARL REISSNER













Die vorliegende Ausgabe stellt eine erweiterte Neubearbeitung der im Jahre 1906 erschienenen Schrift dar.








Druck von Petzschke Gretschel, Dresden-A.
[6/7]




An



Martin Andersen Nexö,



den dänischen Dichter der stärksten Internationale, der internationalen Brüderschaft der Armut und des Leidens.

Lieber verehrter Freund,


es war für Sie ein leidiger, für mich ein günstiger Zufall, daß die italienische Regierung Ihnen, als einem „staatsgefährlichen" Dichtersmann, die Einreise verweigerte, daß Sie auf Ihrer Fahrt nach dem Süden am Bodensee haltmachen mußten und ich so Gelegenheit hatte, Ihnen persönlich und bald geistig nahe zu kommen. Wir haben einander schnell gefunden, in dem Gemeinsamen. Als ich nun darüber sann, wie ich Ihnen ein Zeichen dieser Gemeinsamkeit geben könnte, fügte es ein anderer Zufall, daß der Neudruck meines alten Bekenntnisses zu dem Weltüberwinder Spinoza zwischen uns zur [7/8] Sprache kam. Ich bitte Sie herzlich, die Widmung dieses Büchleins anzunehmen.
Es wäre ja leicht möglich - so weit mir das möglich ist - klingende Worte zu machen über die Notwendigkeit, Ihren Namen mit dem Spinozas zusammenzubringen: Sie waren ein proletarischer Arbeiter, bevor Sie der Dichter des Proletariats wurden, und Baruch de Spinoza war zeitlebens ein armer Glasschleifer, während er ohne Entgelt für sich und die anderen armen Menschen die Wahrheit suchte; Sie halten nicht allzuviel von der betriebsamen Vielwisserei der staatlichen Hochschulen, und Spinoza gar war so frei, so ganz frei, daß er, der mittellose Handarbeiter, ablehnte, als er ordentlicher und gutbezahlter Universitätsprofessor werden sollte. (Nebenbei: glauben Sie noch an einen Fortschritt der Kultur, wenn Sie daran denken, daß ein deutscher Kurfürst vor 250 Jahren es wagen durfte, einen konfessionslosen Menschen, einen von seiner Synagoge feierlichst verfluchten Juden, zu einem Professor in Heidelberg zu ernennen? Wir wollen dar-[8/9]über plaudern, bald, bei einem Viertel oder auch nur bei einem Achtel alten Meersburger.)
Aber diese Wortbrücke zwischen den Namen Spinoza, und Nexö wäre doch nicht ganz ehrlich, also nicht nach unsrem Geschmack. Sie wissen, daß die Linsen-Schleiferei damals noch ein Nebenberuf gelehrter Optiker war, daß Spinoza überdies vielleicht einer hübschen jüdischen Tradition oder Legende folgte, als er nicht von seiner Weisheit, sondern nur von seinem Handwerk leben wollte. Und bei der Zurückweisung der Professur bestimmte ihn doch wohl die Sorge, er würde als Beamter einer wissenschaftlichen Anstalt nicht seine volle Denk- und Redefreiheit behalten. Es wäre also besser, Ihnen das Büchlein zuzueignen, ohne Angabe der Gründe, nur als Äußerung eines Gefühls,
Und doch: der Wunsch kam mir, als Sie von der freien dänischen Volkshochschule erzählten, wo Sie einst ein Schüler und dann ein Lehrer waren. Volkshochschule! Mein alter Traum. Ich stimme [9/10] darin mit Ihnen und mit Richard Benz überein, daß die Volkshochschule der Zukunft nicht ein Ableger der Universität sein darf, nicht ein Almosen für das Volk, sondern eine Gegen-Universität, eine Revision der Grundlagen aller Wissenschaften, ein ganz Neues, wo die Studenten und die Professoren der alten Universitäten noch was lernen können.
In diesen Schulfragen bin ich nicht erst seit der „Revolution" ein Rebell, nicht erst seit zwei Jahren. Sie können es als Däne nicht wissen (und als ein Deutscher würden Sie es, unter uns, auch nicht wissen), daß ich im November 1897 im Berliner Rathause (bei Gelegenheit einer Versammlung für Volksunterhaltung) einen kurzen Vortrag hielt, worin ich auf die geistige Not der Proletarier hinwies und Abhilfe verlangte; daß ich 1910 (in dem Stücke „Schule" meines „Wörterbuchs der Philosophie") leidenschaftlich die Korruption angriff, die von der Volksschule bis zum Staatsexamen das Taglöhnerkind zugunsten der Sprößlinge der Plutokratie und der Bürokratie [10/11] schädigt; „zurück in den Dreck" rief ich den Söhnen der oberen Stände zu, die dümmer, fauler oder schlechter wären als Proletariersöhne; daß ich in meinen Lebenserinnerungen (noch vor dem Kriege ausgedruckt) bitter genug meine Erfahrungen, auf dem Gymnasium und auf der Universität erlitten, erzählte,
Für den vielzuvielen, für den chinesischen Wissenskram sind unsere mittelalterlichen, chinesischen Universitäten auch nicht gut genug. Die seltenen wirklichen Wahrheitssucher der Geistes- und der Naturwissenschaften wissen das am besten; sie sagen's nur nicht. Die Volkshochschule der Zukunft soll oder wird überall die erkenntniskritische (Sie wissen, ich meine, die sprachkritische) Grundlage schaffen helfen, sie wird in der geschichtlichen Darstellung auf offiziöse Schönfärberei verzichten und nur für wahrhaft vorbildliche Menschen Bewunderung lehren. Ich kenne keinen vorbildlicheren Menschen in Westeuropa als den „grenzenlos Uneigennützigen" Spinoza. Seine Wirkung muß endlich ins [11/12] Volk dringen. Nicht durch mich. Nicht wahr, diesen Gedankengang erwarten Sie nicht bei mir? Ich bin viel zu alt, um an meiner Volkshochschule selbst umzulernen. Durch Sie und Ihresgleichen muß Spinozas Wirkung ins nachgeborene Volk dringen.
Wissen Sie auch, was Sie mit dem Juden von Amsterdam verbindet? Die geistige Liebe zu der Natur, die er seinen Gott nannte, und die sieghafte Heiterkeit im Schauen und im Erleben des Menschenelends. Bleiben Sie so. Das ist unser Wunsch bei diesem unbescheidenen Gruße, mein Wunsch und der von H. Str.

Meersburg,
im Februar 1921.

Fritz Mauthner.
[12/13]




I.



Wer unter „Religion", entgegen allem gegenwärtigen Denken und Dichten, nach wie vor irgendeine Form der Furcht und Knechtschaft unter übermenschlich offenbarten Gesetzen verstehen will, der wird der Meinung zustimmen müssen, Spinoza sei der erste grundstürzende Gottesleugner gewesen; wer aber mit dem schillernden Worte „Religion" - mit mir - nichts ausdrücken will, als tiefen Ernst in der Besinnung über das Menschenleben, der wird erkennen müssen, daß Spinoza eine durchaus und wesentlich religiöse Natur war, der erste stillsiegende Bekenner der neuen Religiosität. Es brauchte eine lange Zeit, bevor diese Einsicht sich durchrang. Spinozas Philosophie war über hundert Jahre lang das Aschenbrödel, von ihren bösen Schwestern, den Philosophien der Schule, in den Schmutz verurteilt; erst seit Lessing und Goethe steht sie in ihrer [13/14] ursprünglichen Schönheit vor uns, die geborene Fürstin.
Spinoza wurde, da er noch lebte, von einigen freien Männern in England und in Frankreich als ein Gelehrter und als ein Weiser geschätzt, in Holland von wenigen Freunden und Freireligiösen als ein Heiliger verehrt; nur die rechtgläubigen Juden verfolgten ihn seit seiner Jugend, dann die ebenso rechtgläubigen Protestanten, nachdem er (1670) durch seinen „Traktat" Denkfreiheit verlangt und besonders Bibelkritik entscheidend begründet hatte. Nach seinem Tode (1677) wurde aber die Darstellung seiner Philosophie, die nur zufällig „Ethik" heißt, von seinen Genossen herausgegeben und seitdem gehörte es zum guten Ton wohlanständiger Schriftsteller, von Spinoza entweder gar nicht zu reden oder in herabwürdigenden Ausdrücken. Die protestantische Orthodoxie war noch eifriger als die erfolgreiche katholische Gegenreformation an der Arbeit, das Lebenswerk des verwegenen Denkers durch das wohlfeile Mittel der Beschimpfung zu vernichten; den ohne [14/15] Verabredung vereinigten Feinden der Gedankenfreiheit kam es zustatten, daß Spinoza jüdischen Stammes war; daß man also den immer bereiten Judenhaß gegen ihn aufreizen könnte, wie vielleicht schon Jesus Christus als ein Jude dem Römer Tacitus verächtlich schien (wenn nämlich die Stelle nicht doch ein späterer Zusatz ist). Die Bezeichnung „Spinoziste" wurde zu einem gemeinen Schimpfworte.
Es gibt wohl nur noch einen einzigen Fall, in welchem die Leistung eines bedeutenden Denkers ebenso brutal für lange Zeit totgeschlagen, in Kot begraben wurde, den Fall des Philosophen Epikuros, dessen materialistische, doch geistige und feine Weltanschauung gleich für zwei Jahrtausende beiseite geschafft wurde, nicht totgeschwiegen, aber totgeflucht und totgelogen; der Lügenfeldzug gegen Epikuros erbte sich über von den Stoikern, den Pharisäern des klassischen Altertums, zu den Kirchenvätern, zu den Scholastikern und noch zu den Kartesianern. Es sollte beachtet werden, daß die „Rettung" des Epikuros, die Verteidigung [15/16] seiner Persönlichkeit und auch seiner naturwissenschaftlichen Lehre, durch Gassendi erfolgte (1647), als der fünfzehnjährige Spinoza eben anfing, sich innerlich von der Religion zu lösen, in der er geboren worden war. Wahrscheinlich machte bereits dieser junge Spinoza auch die äußeren Bräuche seiner Stammesgenossen nicht mehr mit und fügte sich bald auch nicht mehr den Anordnungen der Rabbiner; diese Lostrennung wird den überfall durch einen frommen Juden veranlaßt haben, mag diese Roheit nun nur eine hitzige Rauferei oder wirklich ein Attentat gewesen sein. Die feierliche Austreibung aus der Judengemeinde von Amsterdam erfolgte erst 1656; Spinoza war an diesem seinem Ehrentage noch nicht 24 Jahre alt.
Der Bann, den die Synagoge über Spinoza verhängte, hatte nur die eine Folge, daß er ihn von jeder Rücksicht auf die jüdische Religionsgemeinschaft befreite; aber die Verfemung durch die orthodoxen Pastoren, die seit der Dordrechter Synode wieder mächtig geworden waren, [16/17] setzte sofort nach Erscheinen des freidenkerischen „theologisch-politischen Traktats" ein, und seitdem blieb Spinozas Denkarbeit geächtet. Der Traktat wurde verboten (die Neudrucke, die alle die Jahreszahl 1670 tragen, sind wahrscheinlich später erschienen und vordatiert). Mit dieser Ächtung hängt es vielleicht zusammen, daß sogar Spinozas „Opera postuma" nicht seinen Namen trugen, sondern nur die Anfangsbuchstaben B. d. S. Ganz grotesk erscheint uns Nachgeborenen diese Scheu, den Namen Spinoza auszusprechen, bei der Herausgabe der ersten deutschen Übersetzung seines Hauptwerkes. Um dieser Tollheit willen und um des Übersetzers willen muß ich einige Zeilen daran wenden,
Der Übersetzer war Lorenz Schmidt, ein Mann, der es nicht verdient hat, verschollen zu bleiben. Er hatte kurz vor Lessing in Wolfenbüttel eine Zuflucht gefunden, auch er - wie Spinoza - ein Verfemter; Lessing machte sich den Spaß, ihn - als der Zorn der Zionswächter über die Veröffentlichung der „Frag-[17/18]mente" auszubrechen drohte - für den wahrscheinlichen Autor der antichristlichen Stücke auszugeben, damit Reimarus, der wahre Verfasser, nicht bekannt würde. Dieser Lorenz Schmidt (geb. 1702, gest. 1749), Sohn eines Pfarrers und selbst Theologe, hatte im Jahre 1735 durch seine Übersetzung des Pentateuchs einen Sturm im theologischen Sumpf hervorgerufen, einen Zorn, zu dessen Verständnis wir uns heute kaum mehr hinabsenken können. Was man ihm so übel nahm, war zunächst die Verwegenheit, den durch eine Tradition von 200 Jahren beinahe geheiligten Text Luthers verdrängen zu wollen; dann aber war es der Wolffsche Rationalismus, mit welchem er den Urtext wörtlich wiedergab (z. B. „ein starker Wind" wehte über den Wassern, anstatt „der Geist Gottes")* und mit welchem er in zahlreichen und oft überflüssigen Anmerkungen die Bibelworte schlicht erklärte, in der durchgehenden Absicht, alle Weissagungen

*) Auch diese nüchterne Übersetzung ist dem Spinoza entlehnt.
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des Alten Testaments, die auf Jesus Christus nämlich, kritisch abzulehnen. Er wurde für einen Religionsspötter erklärt, und besonders der bösartige Fanatiker Joachim Lange hetzte die evangelische Kirche und den Reichsfiskal hinter ihm her. Der Schutz des gräflichen Hauses Wertheim, wo er als Erzieher der jungen Herren lebte, konnte ihm nicht viel helfen, weil die fürstliche Linie des Hauses die Befehle des Kaisers auszuführen sich anschickte; doch ließ man ihn nach der Konfiskation des Buches und nach seiner Verhaftung (1737) freundlich entkommen, nach Altona, wo er wahrscheinlich als Korrektor und gewiß als Übersetzer der verrufensten Bücher der Freidenkerei sein Leben fristete, bis er eben endlich in Wolfenbüttel geduldet wurde und sterben durfte,
Der Herausgabe des deutschen Spinoza ging 1741 eine Übersetzung von Tyndals erschrecklicher Schrift „Christentum so alt wie die Welt" voraus; schon da deckte Schmidt sich schlau durch die Hinzufügung einer Widerlegung, [19/20] der von Forster. Die gleiche Vorsicht waltet nun bei der Herausgabe von Spinozas „Ethik" , nur daß hier schon der Titel grotesk wirkt - wie ich gesagt habe - und die Stellung grell beleuchtet, die Spinoza, nur 40 Jahre vor seiner Wiederentdeckung durch Lessing, in der Republik der Gelehrten einnahm. Noch durfte sein Name nicht genannt werden. „B. v. S. Sittenlehre widerlegt von dem berühmten Weltweisen unserer Zeit Herrn Christian Wo1f." Wolff hatte diese „Widerlegung" schon 1737 in seine natürliche Theologie eingeschaltet, wohl nicht ganz ehrlich, eigentlich in der Absicht, die alte Beschuldigung zu entkräften, daß er (Wolff) den freien Willen leugne, den Fatalismus lehre und somit dem Soldatenkönige verbiete, seine langen Kerls wegen Desertion zu bestrafen; war er doch seinerzeit deshalb bei Androhung des Stranges von der Universität Halle fortgejagt worden. Und Lorenz Schmidt haut in die gleiche Kerbe, da er in seiner Vorrede mit sichtlicher Übertreibung gegen die Gefährlichkeit Spi-[20/21]nozas als eines Fatalisten loszieht. Lediglich unter solchen Vorsichtsmaßregeln war es gelungen, die erste deutsche Übersetzung des verpönten Werkes herauszubringen,
Es war nicht das letztemal, daß ein Anhänger Spinozas den Namen des Denkers niederzuschreiben sich scheute. Selbst Goethe war noch 1786 so vorsichtig, in den Briefen aus Italien anstatt des Namens Spinoza den Buchstaben S. zu setzen oder zwei Sternchen; ich weiß nicht, ob ich lachen darf oder nicht, wenn ich erfahre, daß Goethe - als er diese Briefe zu seiner „Italienischen Reise" zusammenstellte - vergeßlich war: er irrte sich wirklich und ergänzte den Buchstaben S. mit „Sakontala", anstatt mit „Spinoza".
Die vier ungleichen Denker, die mit ähnlicher Sicherheit im Gebrauche einer metaphysischen Terminologie, aber mit sehr verschiedener Freiheit und Kraft Kant zu überwinden versprachen, hatten erst von den dichterischen Führern Deutschlands gelernt, daß Spinoza als [21/22] der eigentliche Philosophische Vernichter der Theologie mit Achtung genannt werden müßte. Schon Fichte rühmte sich, Spinoza verbessert zu haben; Schelling entnahm den wertvollsten Teil seiner Naturphilosophie den Gedanken, in denen Spinoza mit Bruno übereinstimmte; Hegel als der erste Kenner der Philosophiegeschichte meinte in einer guten Stunde, „Spinozist zu sein wäre der wesentlichste Anfang alles Philosophierens"; und Schopenhauer, in der Vernunftkritik wirklich ein Fortsetzer Kants, den Professoren Fichte, Schelling und Hegel ein bis zur Ungerechtigkeit strenger Karikaturist, sah auch in Spinoza einen Vorläufer, obgleich er tief genug hinunterstieg, um gegen einen Spinoza derb antisemitische Vorwürfe zu schleudern,
Seitdem ist viel Kleinarbeit geleistet worden, in Holland und in Deutschland, aber auch in Frankreich und in England, um die menschlichen Beziehungen Spinozas zu seinen Zeitgenossen und die geistigen Beziehungen zu den andern Kartesianern aufzuhellen; eine abschließende [22/23] Darstellung seiner Persönlichkeit besitzen wir nicht, so empfehlenswert auch das Kultur- und Lebensbild ist, das Wilhelm Bolin (in der Sammlung „Geisteshelden" von Anton Bettelheim) geliefert hat; Bolin hat ganz gut gesehen, daß Spinoza kein Erkenntniskritiker war, daß er seine allzu scholastischen Grundbegriffe fast ungeprüft von Descartes übernommen hatte, daß also sein System für uns veraltet ist, er hat seine Persönlichkeit mit verständiger Liebe gezeichnet, er hat als ein Schüler Feuerbachs die antikirchliche Befreiungstat Spinozas nach Gebühr gepriesen, aber er hat die unbewußte Macht nicht wahrgenommen, mit welcher Spinoza, groß und unbestechlich und unbefangen wie ein geniales Kind, über die Sprache seiner Zeit und über seine eigene Sprache hinweg die letzten Aufgaben zugleich der Naturwissenschaft und der Philosophie sah oder ahnte und einem Geschlechte, das ihn erst nach mehr als zwei Jahrhunderten verstehen sollte, eine Fackel reichte,
Ein neues und viel gerühmtes Werk [23/24] über Spinoza ist über den ersten Band, die Biographie, nicht hinausgediehen: „Spinoza, sein Leben und seine Lehre, von J. Freudenthal" (1904). Es ist doch nur eine alexandrinische Arbeit. Solche Bücher veralten immer in dem Augenblicke, wo ein jüngerer Professor auf den Plan tritt und abermals die philologische Einzelforschung der letzten Jahre in ein neues Buch verstaut. Geschichtschreibung [!] sollte immer Kunst sein, die Kunst: wirkende 'Persönlichkeiten durch ein eigenes Temperament zu sehen. Mit dem Historismus, unter dessen Banne wir alle stehen, ist es nicht getan, man studiert da die Vergangenheit nur um der Vergangenheit willen. Spinoza und Kant (von Sokrates und Platon gar nicht zu reden) wußten wenig von der Geschichte der Philosophie. Aber die deutschen Philosophieprofessoren, die der Welt keine eigenen philosophischen Gedanken zu schenken hatten, studierten und trieben eifrig Philosophiegeschichte. Sogar berühmt konnte man durch eine solche Beschäftigung werden; Kuno Fischer hat [24/25] so in seiner langen Siegesallee von Philosophiehelden auch das Standbild von Spinoza aufgestellt, gleich gründlich und gleich pathetisch gegenüber dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen. Nach ihm kam dann Freudenthal und konnte so allerlei berichtigen, was Berthold Auerbach, Bolin und Kuno Fischer an einer Schuhschnalle etwa nicht porträtähnlich genug gezeichnet hatten. Vortrefflich ist die wechselnde Umwelt Spinozas dargestellt, die der spanischen Juden und die der rechtgläubigen und der freireligiösen Sekten in Holland; nur für seinen Helden selbst reicht Freudenthals Augenmaß nicht aus. Nicht als ob er ihn zu wenig bewunderte. Natürlich macht er ihm. seine Reverenz, aber er macht die Reverenz gleich darauf auch den Gegenfüßlern Spinozas. Das hat mit seiner Parteilosigkeit der Historismus getan. Freudenthal will die Gegner Spinozas milder beurteilt wissen, weil sie fester auf ihrem tiefen Standpunkte stehen als er auf seinem hohen, und weil seine Worte gelegentlich zu schroff sind. Der Bannfluch [25/26] und die Denunziation, womit die Judengemeinde von Amsterdam ihren einzigen großen Mitbürger nach dem Muster christlicher Verfolgungssucht vernichten wollte, sollen uns „heute" in freundlicherem Lichte erscheinen, auch der schäbige Bestechungsversuch der, reichen Juden gegen den armen Spinoza. Dieser, mit seiner vorbildlichen passiven Tapferkeit, wird nicht geradezu ein Feigling genannt, aber für „Furchtsamkeit" wird sein Benehmen dennoch ausgegeben. Spinoza furchtsam! Spinoza, dessen Autorschaft aller Welt bekannt war, dessen Atheismus trotz aller Rücksichten offenkundig war, dessen Anhänger Koerbagh jämmerlich im Gefängnis starb. Wenn Spinoza furchtsam war, dann gab es keinen furchtlosen Philosophen von Sokrates bis Kant. Nur ein Zufall ist es, daß er seine Überzeugung nicht mit seinem Blute besiegelte; sein Leben war märtyrerhaft genug. Freilich sagt Professor Freudenthal, Spinoza sei kein Heiliger gewesen. „Heilige gibt es auf Erden nicht." Sehr richtig; nur daß just Spinoza zu den wenigen [26/27] Menschen gehört, bei deren Wirken man die Wahrheit dieses wohlweisen Satzes anzweifeln möchte. Fast noch drolliger ist es, eigentlich furchtbar komisch, wenn die Ehelosigkeit Spinozas bedauert wird. Spinoza hätte eine bessere Definition der Liebe gegeben, wenn er „die aus Schmerzen und Freuden geborene Mutterliebe nicht bloß vom Hörensagen gekannt hätte," Oh! Hat denn Spinoza an der zu Unrecht berüchtigten Stelle seiner Ethik die Mutterliebe definiert? Und hätte er als Gatte und Vater die Mutterliebe etwa wirklich durch Selbstbeobachtung kennengelernt?
Der Biograph Spinozas wirft die Frage auf, ob Spinoza ein Genie zu nennen sei. Er ist so freundlich, die Frage zu bejahen. Spinoza wird mit Leibniz verglichen. Leibniz wird einmal ihm „ebenbürtig" genannt, und später wird Spinoza unter Leibniz hinuntergedrückt; anders ist es nicht zu verstehen, wenn Spinoza Leibniz „in einigen Punkten erreicht, ihm in anderen nachsteht". Leibniz, dessen Fleiß, Gelehrsamkeit und Scharfsinn jede [27/28] Bewunderung verdienen, dessen Charakter aber noch eines rücksichtslosen Historikers harrt, hätte gerade von dem Biographen Spinozas nicht über oder, neben Spinoza gestellt werden sollen.
Endlich noch eine Kleinigkeit, die wohl in einer späteren Auflage des Buches getilgt worden wäre. Professor Freudenthal spricht an zwei gleichlautenden Stellen sein Bedauern darüber aus, daß dem begabten Spinoza „der Segen eines akademischen Unterrichtes nicht zuteil geworden sei". Es ist traurig, aber ein Engländer oder ein Franzose hätte diesen überheblichen Satz nicht geschrieben. Oder glaubt Professor Freudenthal wirklich, Spinoza hätte mehr geleistet, wenn ihm der Segen zuteil geworden wäre, in Heidelberg, Berlin oder Breslau ein Kolleg über Geschichte der Philosophie zu hören? Spinoza hat ja einen noch größeren Segen verschmäht. Der Kurfürst von der Pfalz bot ihm den Lehrstuhl für Philosophie an der Heidelberger Universität an. Spinoza lehnte ab, Professor zu werden. Professor Freu-[28/29]denthal erzählt das ganz ordentlich und meint dabei mit rührender Offenheit, es hätte für Spinoza verlockend sein müssen, seine Kraft „dem herrlichsten Berufe" widmen zu können. Das ist nun so ein geläufiges Wort. Gewiß ist die akademische Lehrtätigkeit ein schöner Beruf. Aber der Superlativ! Ist es wirklich nicht ein noch herrlicherer Beruf, ohne Amt und ohne Titel die Werke Spinozas zu schreiben?
Bald nach Freudenthal erschien (1908) eine kleinere und lesenswertere Schrift über Spinoza; aus acht Vorlesungen an der Universität Bern entstanden; von Anna Tumarkin. Diese Historikerin der Philosophie will sich nicht mit Kärrnerdiensten begnügen; sie kennt die Forderung Diltheys, die Gedanken von Dichtern und Philosophen aus deren Wesen und Erleben heraus zu verstehen, sie weiß, daß ein übermächtiges Gefühl bei Spinoza Herr wird über seinen kühlen Verstand, daß also seine glühende Mystik durchaus über seinem, von Descartes übernommenen, mechanistischen Ratio-[29/30]nalismus steht; und daß seine unvergleichliche Persönlichkeit nicht konstruiert werden kann durch Summierung fremder Einflüsse, die natürlich nicht geleugnet werden dürfen. Vorzüglich ist bei Anna Tumarkin die schwierige Darstellung von Spinozas Metaphysik, von der Freudigkeit der Unterwerfung unter die unerbittliche Notwendigkeit (im Gegensatze zu dem vernichtenden „Gefühl der Abhängigkeit" in dem vielverbreiteten Bilde von Sascha Schneider); vorzüglich die Hervorhebung des Satzes, der schon einen Goethe überwältigt hatte: „wer Gott recht liebt, muß nicht verlangen, daß Gott ihn wieder liebe",*) und die Bemer-

*) Goethe spricht da („Dichtung und Wahrheit" III, 14) von „der grenzenlosen Uneigennützigkeit", die aus jedem Satze Spinozas hervorleuchte und ihn besonders gefesselt habe. Jenes spätere freche Wort Philinens („Wenn ich dich liebe, was geht's dich an?") sei ihm darum recht aus dem Herzen gesprochen. Die Goethe-Philologie hat darüber, daß Goethe sich selbst da falsch zitiert habe, viel mehr geschrieben als über die Tatsache, daß das scheinbar zynische, in Wahrheit weise Wort der Sünderin in Zusammenhang stand mit der abgründigen Mystik Spinozas. Philine erblickt in Wilhelm Meister ihren Gott, den sie liebt - allerdings nicht eben geistig -, ohne Gegenliebe verlangen zu dürfen.
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kung, daß bei Spinoza der Gott ebenso unpersönlich ist, ohne Willen und ohne Verstand, wie das Individuum. Und: es habe nie einen erhabeneren Wahn gegeben als den Spinozas, der mit seinem Pantheismus doch die Schranken des Ich habe durchbrechen wollen. Aber der Kulturtat, mit der Spinoza in seinem Traktat den Gott aller positiven Religionen als ein Gebilde menschlicher Phantasie nachwies, unwiderleglich, wird auch Anna Tumarkin nicht gerecht.
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II.



Anna Tumarkin hat nicht erkannt, daß just durch seine unbarmherzige Kritik aller Theologie Spinoza so einsam wurde unter seinen Zeitgenossen, wie kein Denker vor ihm oder nach ihm; seine Einsamkeit hat sie wohl nicht übersehen, doch auch Anna Tumarkin ist professoral-offiziös genug zu sagen, daß Leibniz unter den Mitlebenden ihn am besten verstanden habe. Ich halte es für verdienstvoll, diese Legende von den Beziehungen zwischen Leibniz und Spinoza zu zerstören. Ist es doch oft nützlich, eine in der Gelehrtenwelt allgemein gepflegte Lüge aufzudecken,
Die Einsamkeit Spinozas zeigte sich weniger darin, daß seine Gegner, die orthodoxen Scholastiker ebenso wie die durch Spinozas Ehrlichkeit kompromittierten Kartesianer, die angeblich „Modernen", ihn schmähten, sondern mehr [32/33] darin, daß auch seine wenigen Anhänger, ihn verleugneten, wenn es ihnen so paßte, oder ihn überhaupt nicht verstanden. Der erste Biograph Spinozas, der boshafte Arzt Jean Lucas, wagte sich selbst nicht zu nennen, weil man sich als Schreiber über Spinoza verbergen müßte, als ob man ein Verbrechen beginge. Ein Freund Spinozas, der Arzt und Theaterdirektor Johannes Bourmeester, der doch ein so ketzerisches Buch wie die konfessionslose Robinsonade des Arabers Ibn Tofail (aus dem 12. Jahrhundert) zu übersetzen berufen wurde, stellte brieflich die dümmsten Fragen an den Philosophen. Und Tschirnhaus, auch ein Freund, schrieb den halbverstandenen Spinoza (1687) eifrig aus, nannte ihn aber nicht, weil er kein Spinozist heißen wollte.
Dieser unzuverlässige Tschirnhaus, vielleicht auch der noch unzuverlässigere Schuller, der letzte Arzt Spinozas, vermittelten die persönliche Bekanntschaft zwischen dem damals erst dreißigjährigen, noch nicht weltberühmten, doch schon sehr selbstbewußten [33/34] Leibniz und dem Schöpfer der „Ethik". Die Begegnung fand im November 1676 statt, im Haag, in der Werkstätte des Denkers und Glasschleifers, nur vier Monate vor Spinozas Tode. Der zudringliche Gast trat wie ein geistiger Eroberer auf, der höfliche Wirt war ein Sterbender.
Über diese Begegnung sind wir ganz genau unterrichtet, seitdem Ludwig Stein alles sehr gut (leider nur zu schonungsvoll für den allzu gefeierten Leibniz) in einer besonderen Studie gesammelt hat. Und durch einen eigenen Aufsatz hat Theodor Gomperz, - der übrigens als feiner Kenner und Darsteller der griechischen Philosophen von mir nicht verkleinert werden soll - die Unterredung der beiden „Ebenbürtigen" zum Gegenstande einer „poetischen" Schilderung gemacht (1888), die seitdem von gewissenhaften Fachmännern der Philosophiegeschichte - auch von Freudenthal - ernst genommen und nachgeahmt worden ist. Als ob ein Hofmaler die Herablassung eines gekrönten Hauptes zu einem armen Schlucker von Wahrheitsforscher [34/35] gezeichnet hätte. Leibniz hat heute noch - wie zu seinen Lebzeiten - eine gute gelehrte Presse, weil er der Stifter und Lenker von Akademien war, als Diplomat und gefälliger Historiker an vielen Höfen wohlgelitten. Ganz gewiß ohne lügen zu wollen, hat Gomperz dem Präsidenten der ersten deutschen Akademie geschmeichelt, wie auch Georg Ebers ganz gewiß nicht lügen wollte, wenn er das Bild eines längst vermoderten römischen Kaisers ungebührlich verschönerte. Wir vertragen eine solche Schminkenmalerei nicht mehr in angeblich historischen Romanen; in einer historischen Darstellung, noch dazu in einer aus der Geschichte des Denkens, ist sie uns ganz unerträglich,
In Wahrheit war Leibniz lauernd zu dem einsamen Grübler gekommen, der, ein Schwindsüchtiger, gefaßt, still, heiter und ruhebedürftig seinem nahen Tode entgegensah. Leibniz wußte seit Jahren, daß Spinoza der Verfasser des kirchenfeindlichen Traktats war. In Paris erfuhr er ungenau von dem Vorhandensein des [35/36] damals noch ungedruckten Hauptwerks, der Ethik, die Spinoza bisher nur die zuverlässigsten Freunde hatte lesen lassen. Leibniz gab sich Mühe, sich eine Abschrift zu verschaffen; Spinoza, der dem vielgewandten Herrn nicht traute, gab seine Zustimmung nicht. Leibnizens Aneignungssucht - mag man nun diese nur aus einer rühmlichen Wißbegierde erklären oder auch aus einem weniger rühmlichen Beweggrunde - war größer als sein Stolz. Auf einer Reise - über Holland nach Deutschland - brachte es der kurfürstliche Herr Rat über sich, uneingeladen den blutarmen und todkranken Glasschleifer aufzusuchen, der im Verdachte stand, ein unerhörtes philosophisches System niedergeschrieben und noch nicht veröffentlicht zu haben. Wenn die Begegnung zwischen den beiden „ebenbürtigen" Männern wirklich so verlaufen wäre, wie die Geschichtsschreiber der Philosophie es seit dem Vorgange von Gomperz gern haben möchten, so wäre es doch unerklärlich, daß der Vielschreiber Leibniz nachher keinen Brief mehr an [36/37] Spinoza richtete, daß er in Briefen an einen gemeinsamen Freund den „sehr berühmten Naturforscher und sehr tiefen Philosophen" (so hatte ihn Leibniz vor wenigen Jahren sich anbiedernd genannt) nicht einmal grüßen ließ; Spinoza wird wohl im Bewußtsein seines Wertes den richtigen Abstand gewahrt haben und so kam es, daß ihm Leibniz später Eitelkeit vorwarf. Spinoza eitel! Es wäre fast nicht zu glauben, wenn es nicht bezeugt wäre, daß der hochgestellteste Philosoph der Zeit sich so über den uneigennützigsten Denker aller Zeiten äußerte.
Leibnizens Doppelzüngigkeit gegen Spinoza kann auch von den Offiziösen nicht geleugnet werden und ist an der Hand seiner Briefe und Schriften nachzuweisen. Er hatte schon vorher den Traktat ein unerträglich freches und ein entsetzliches Buch genannt, den Verfasser aber bald darauf seiner eifrigen Verehrung versichert. Nach dem Tode Spinozas will Leibniz die Erinnerung an den aufgedrungenen Besuch verwischen, rückt von dem jetzt verrufenen Atheisten [37/38] ab wie von der Leiche eines Pestkranken, behauptet, ihn nur ein einziges Mal gesprochen und ihm nur einen einzigen Brief geschrieben zu haben, was unwahr ist. Je angesehener Leibniz wird und je kecker er den Grundgedanken Spinozas - die Einheit von Geistigkeit und Körperlichkeit - unter Wahrung der kirchlichen Dogmen ausbeutet, desto mehr wächst seine Abneigung gegen den Mann, dem er sein Bestes verdankt. Da seine eigene Anlehnung an Spinoza nicht zu leugnen ist, hilft er sich mit unsauberen diplomatischen Redensarten: Spinoza habe viele schöne Gedanken gehabt, die den seinigen entsprechen; Spinozas System wäre richtig, wenn das System von Leibniz nicht wäre. Das Günstigste, was man noch zur Entschuldigung von Leibniz vorbringen könnte, wäre, daß er sich als ehrgeiziger Staatsmann hüten mußte oder hüten zu müssen glaubte, für einen Freund des berüchtigten Freidenkers, des wegen ungeheuerlicher Ansichten sogar von der Synagoge ausgestoßenen Juden zu gelten. [38/39]
Ich will nicht ungerecht sein gegen Leibniz, der in der Entwicklung der Geistesbefreiung zwar nur hemmend wirkte, als Vermittler und Allerweltsfreund, der aber auf dem Gebiete der Psychologie der scharfsinnigste Nacheiferer Lockes war und als Mathematiker, auch wenn seine Abhängigkeit von Newton einmal unzweifelhaft festgestellt werden sollte, doch durch die neue und brauchbare Methode seiner Differenzialrechnung eine Meisterleistung hinterlassen hat. Darum - weil also sein Ruhm übertrieben, doch nicht unberechtigt ist - und weil die Sache wohl immer ein ungelöstes Rätsel bleiben wird, will ich ihn nicht verdächtigen, daß er das noch ungedruckte Hauptwerk Spinozas in schlimmer Absicht habe an sich bringen wollen; wahrscheinlich wollte er sich nur die Ehre sichern, das Buch selbst herauszugeben, etwa mit abschwächenden und die Überlegenheit des Herausgebers beweisenden Anmerkungen. Gewiß ist nur, daß der gottsträfliche Arzt Schuller vorschlug und die Freunde Spinozas ernstlich daran [39/40] dachten, die Handschrift der Ethik an Leibniz zu verkaufen, um den Preis von 150 Gulden. Vielleicht um Läpperschulden zu bezahlen: Begräbniskosten, die Rechnungen des Notars und des Barbiers. Es ging unordentlich und unwürdig zu in dem Sterbezimmer des Glasschleifers Baruch oder Benedictus de Spinoza. [40/41]



III.



Seit Lessing erst ist also das Ansehen Spinozas im Wachsen begriffen. Vorher redete man von ihm „wie von einem toten Hunde". Hundert Jahre lang wagte fast niemand den Namen Spinoza anders als unter Verwünschungen zu nennen,
Und dabei waren seine Bücher so gut wie verschollen. Es war schwer, auch nur ein Exemplar der Ethik des Maledictus Spinoza aufzutreiben.
Nach Lessing haben Herder und Goethe in Spinoza ihren geistigen Erlöser gesehen, und man kann wohl sagen, daß unsere deutsche Weltanschauung, wie sie sich seitdem auch noch durch Schelling, Hegel und Schopenhauer entwickelt hat, teils spinozistisch sein will, teils spinozistisch ist. Vollends die Dichtung, weil sie sinnlich gestaltete Weltanschauung ist, hat in Deutschland seit Goethes Jugend nicht aufgehört, spinozistisch [41/42] zu sein. Vorher gab es in der Lyrik eine anthropomorphe, humanisierte Natur, eine Natur mit Menschenfratzen; jetzt möchte die Menschenseele selbst natürlich empfinden und reden. Früher gab es im Drama den Zwang von Moral oder Schicksal; jetzt erschrecken wir nicht mehr, wenn eherne Notwendigkeit des Charakters die schönen Linien der Handlung wie der Moral durchbricht. Darin übertrifft Spinoza alle Denker vor ihm und nach ihm, daß er wie keiner vor oder nach ihm die Notwendigkeit, die lachende oder doch stille Notwendigkeit all und jeden Geschehens immer und ohne Ausnahme empfunden und ausgesprochen hat, und daß ihn dieser Hohn des Weltlaufs, diese objektive Heiterkeit der Weltgesetze nicht erschreckt, sondern zur Forderung einer unzerstörbaren subjektiven Heiterkeit des Denkens geführt hat. Spinoza hatte wohl unter allen Menschen, die je ihr Denken auf die Nachwelt gebracht haben, zugleich die tiefste und die hellste Welterkenntnis. Aber er lehrte eine schlechte, ja recht eigentlich eine ver-[42/43]kehrte Erkenntnismethode. Die mathematische Methode, die nur auf Mathematik anwendbar ist. Denn: Ziffern sind keine Worte, die algebraischen Zeichen sind keine allgemeinen Sprachbegriffe.
Ich möchte empfehlen, einmal einen ganz neuen Auszug von Spinoza zu veranstalten. Man lasse doch sämtliche Beweise einfach weg, dazu alle die Definitionen und Lehrsätze, die nur die Lücken des Systems auszufüllen bestimmt sind. Man ordne dafür die Zusätze und Erläuterungen, die Vorreden und Anhänge gut zusammen, man füge aus seinem großen Traktate und aus seinen herrlichen Briefen das Nötige hinzu, und die Welt wird den unvergleichlichen Philosophen endlich lesen können. Denn so liegt die Sache bei Spinoza: wo er sich gehen läßt, steht ihm die eindringlichste Sprache zur Verfügung; wo er unter dem Banne seiner eigenen Methode steht, wo er also durch mathematische Logik Erkenntnis schaffen will, da sinkt er eigentlich noch unter die Scholastiker hinab. Diese hatten wenigstens ihre konventionelle Sprache ge-[43/44]meinsam und konnten einander verstehen was man so sagt. Spinoza schlägt seine gewaltige und persönliche Weltanschauung an das Kreuz einer persönlichen und dennoch konventionellen Sprache und wird immer da dem neueren Sprachgeiste unverständlich, wo er klar zu sein glaubt wie ein Mathematiker,
Er hat die Scholastik darin überwunden, daß er wirklich keine Autoritäten kennt. Er zuerst kritisiert gründlich die Bibel, er zuerst weist auf vergleichende Religionsgeschichte und schon auf Indien hin, er zuerst wirft sowohl den Platon als den Aristoteles ab. Aber leider kennt er auch nicht den Zweifel Descartes. Wäre Spinoza ein Skeptiker gewesen, wie ja doch die Juden geborene Skeptiker sein sollen, seine Bücher wären der Schlußstein menschlichen Denkens. Auch er aber unterlag dem Fluche des Menschengeistes, auch er glaubte an eine Erkenntnis durch Begriffe. Seine Bücher sind dogmatisch geworden, weil er an die Erkenntnis glaubte, weil er die Erkenntnis nicht immer nach ihrer Herkunft fragte. [44/45] Für Spinoza gehört die Möglichkeit der Erkenntnis von Ewigkeit mit zur ewigen Natur des Menschen. Seine Weltanschauung ist der höchste und freieste Pan-Naturalismus und steht hoch über dem beschränkten Materialismus, der auf ihn folgt. Der Materialismus vermag das Denken nicht zu erklären; Spinoza versucht es gar nicht. Der Materialismus ahnt seine eigene Beschränktheit wenigstens; Spinoza steht noch ahnungslos vor den Widersprüchen seiner Erkenntnistheorie.
Wer ist denn sein erkennendes Wesen? Er setzt Gott und die Natur einander gleich und sieht im einzelnen Menschen nur eine flüchtige Erscheinung Gottes oder der Natur. Sein Gott hat kein Gehirn, keine Sprache, sein Gott hat keinen Verstand, und sein Mensch ist eine Erscheinung Gottes oder der Natur. Wer kann also etwas erkennen?
Und was soll da erkannt werden,? Gott oder die Natur ist unendlich und ewig und unerkennbar, und außer Gott oder der Natur gibt es nichts Erkennbares. [45/46]
Hat also Spinoza mit seiner Erkenntnistheorie recht, so besitzt der Mensch, so besitzt auch Spinoza kein Denkorgan, diese richtige Weltanschauung zu begreifen und zu beweisen; hat aber Spinoza oder irgendein Mensch Erkenntnismöglichkeit, so muß die Theorie Spinozas falsch sein. Dieses traurige Dilemma scheint mir unwiderleglich.
Wie zum Trotz will aber Spinoza seine Lehre nicht nur in Begriffen mitteilen, sondern sie geradezu nach der Methode der Geometrie beweisen. Und dennoch war er der tiefste und dazu der überzeugungstreueste Denker.
Es fällt schwer, bei einer so übermächtigen Erscheinung erst noch nach der Glaubwürdigkeit zu fragen, bevor man ihr Zeugnis anruft. Es ist als ob der Leiter einer Gerichtsverhandlung seinen eigenen Vater nach dem Namen fragen wollte. Und es fällt schwer, bei Spinoza die Eigenschaft zu benennen, die für seine Glaubwürdigkeit zumeist bürgen könnte. Unbestechlichkeit, Ehrlichkeit, Tapferkeit, Wahrheitsliebe, alle diese schönen [46/47] Worte und Namen von Tugenden zerplatzen wie Seifenblasen, wenn man an ihnen Spinoza zu Ende denkt, der einen Muttermord, wie ihn Nero beging, kaltblütig und mit Verwerfung des Begriffs „böse" unter die Naturereignisse rechnet, wie man auch wohl ein einzelnes unregelmäßig geformtes Blatt nicht ethisch verurteilt. Es heißt darum nicht zu weit ausholen, wenn wir es so ausdrücken, daß Spinozas Einsicht niemals nachweisbar von den dreierlei Absichten der gemeinen Menschheit getrübt war, nicht von Liebesgier, nicht von Hunger und nicht von Eitelkeit. Nur wie der Schatten einer Legende zieht eine Neigung für jene Clara Maria über sein Leben hin. Bedürfnislos wie ein echter Orientale verdient er sich seinen Bissen Brot mit einer Handarbeit, die ihm doch zugleich wissenschaftliche Übung war. Und seine Eitelkeit ist so gering, daß er es mit Verachtung trägt, verachtet zu werden, und man von ihm wohl mit größerem Recht als von seinem jüngern Zeitgenossen Malebranche sagen könnte, er habe die [47/48] Wahrheit gesucht durch jeden Verruf hindurch und jeden guten Ruf (per infamiam et bonam famam). Zum Erweise seiner Absichtslosigkeit, seiner sittlichen Hoheit (so dürfte man banal von jedem andern als von Spinoza sagen), braucht man nur daran zu mahnen, daß und wie es Spinoza ablehnte, als Professor an einer deutschen Universität mitten unter Verfolgungen ein äußeres Lebensziel und Sicherheit vor Not zu finden. Der Kurfürst von der Pfalz, der Bruder von Descartes' Prinzeß Elisabeth, wollte ihn - wie schon erwähnt - zum ordentlichen Professor der Philosophie an seiner Universität Heidelberg machen. Spinoza sollte, wie das in der Welt ja' zuweilen vorkommt, der Vorgänger seines Nachlesers Kuno Fischer werden. Man versprach Spinoza Lehrfreiheit in vollstem Umfang und deutete nur bescheiden die Erwartung an, „er werde sie nach dem Vertrauen des Fürsten nicht zur Störung der öffentlichen Religionseinrichtungen mißbrauchen."
Spinozas Antwort ist einfach. Er lehnt [48/49] ab, zunächst, weil er nicht weiter denken zu können meint, wenn er junge Burschen unterrichten müsse. Dann aber auch, weil ihm kein Kurfürst die Gewißheit geben könne, er werde nie den Schein der Religionsstörung auf sich laden. Der Religionsstreit entspringe ja nicht aus regem Religionseifer, sondern aus allerlei gemeinen Leidenschaften,
Diese heiligende Absichtslosigkeit, die „grenzenlose Uneigennützigkeit", verklärt überall Spinozas armes Leben, Ähnlich wie Lessing verdirbt es Spinoza regelmäßig mit beiden Parteien, zwischen denen er wählen müßte; nur daß Lessing die Größe seines Charakters mit Bitterkeit bezahlt, Spinoza sie durch Heiterkeit krönt. Man könnte sagen, Spinoza sei als Jude in der glücklichen Lage gewesen, sich um christliche Pfaffen und um ihre Scheiterhaufen nicht bekümmern zu müssen. Im Jahre 1663, da Spinoza sein erstes Buch herausgab, das Buch über Descartes, wurde Descartes selbst auf den päpstlichen Index verbotener Bücher gesetzt. Man könnte sagen: Was ging das [49/50] den Juden Spinoza an? Für die Kirche war die Lehre Descartes' wahrscheinlich nur darum nicht annehmbar, weil der Begriff der Einheit aller Substanz der Mythologie von der Transsubstantiation widersprach. Die Götter waren eifersüchtig aufeinander; dem konfessionslosen Juden konnte das gleichgültig sein. So könnte man sagen. Und absichtlich vergessen, daß auch der Jude Spinoza zuletzt vor, der Hetze reformiert-christlicher Geistlichkeit nicht sicher war; daß wahrscheinlich nur sein früher Tod ihn vor dem grausamern Ausgang im Kerker bewahrte.
Gewiß war es günstig für Spinoza, daß er - als er eben die Kirche verließ - aus dem machtlosen Judentum austrat, und nicht aus dem mit Brandfackeln bewaffneten Christentum. Es machte ihn auch wohl innerlich freier, daß er in reiferen Jahren die Legenden nicht erst langsam abzustreifen brauchte; der zum Rabbiner ausgebildete Jüngling hatte im Alten Testament keine eigentlichen Dogmen gefunden und hatte die Vorstellun-[50/51]gen der christlichen Scholastik nicht früh genug kennen gelernt, um für Lebenszeit transzendent zu sein. Eine ganze Anzahl mittelalterlicher Wortfetische konnten ihm den Verstand nicht verrenken wie einem Descartes noch. Gewiß war es gut für ihn, daß seine nächsten Feinde nicht Dominikaner mit ihren Scheiterhaufen waren, sondern nur armselige Rabbiner, die ihn anspien. Der ganze Abstand zwischen christlicher und jüdischer Glaubenstollwut liegt darin, daß die erste verbrennen durfte, die zweite aber nur anspeien. Gewiß, hätte man einen christlichen Spinoza in Stücke gerissen, wenn er christlichen Glaubensrichtern mit sokratischer Ironie geantwortet hätte, wie Spinoza - man erzählt es - dem Rabbiner Morteira: „Spinoza habe bei ihm Hebräisch gelernt, so möge denn der Rabbi jetzt an ihm das Verfluchen lernen." Gewiß ist es ein Beweis der Ohnmacht seiner Gegner, daß die Juden einen Spinoza, auf den sie jetzt gern stolz sein möchten, durch die schmutzigste Bestechung, durch das Anerbieten eines [51/52] Jahrgehalts von tausend Gulden, zum Schweigen zu bringen suchten,
Aber am 27. Juli des Jahres 1656 wurde doch in der Synagoge von Amsterdam der große Bann über Spinoza ausgesprochen, wohlgemerkt, nachdem zuerst das Attentat auf seine Seele durch die Bestechung und vielleicht auch ein Attentat auf sein Leben vorausgegangen war. Wir kennen durch Gutzkows Theaterstück den Eindruck eines solchen ohnmächtig-blutdürstigen jüdischen Bannfluchs. Wir kennen jetzt auch den Wortlaut dieses Cherem, wo es nicht ohne eine gewisse Poesie der Bestialität unter anderm heißt:
„Nach dem Urteile der Engel und dem Beschlusse der Heiligen bannen, verstoßen, verwünschen und verfluchen wir den Baruch de Espinosa mit der Zustimmung Gottes und dieser heiligen Gemeinde im Angesichte der heiligen Bücher der Thora und der sechshundertdreizehn Vorschriften, die darin geschrieben sind; mit dem Banne, womit Josua Jericho gebannt, mit dem Fluche, womit [52/53] Elisa die Knaben verflucht hat, mit allen Verwünschungen, die im Gesetz geschrieben stehen. Er sei verflucht bei Tag und sei verflucht bei Nacht! Er sei verflucht, wenn er schläft, und sei verflucht, wenn er aufsteht! Er sei verflucht bei seinem Ausgang und sei verflucht bei seinem Eingang! Der Herr wolle ihm nie verzeihen."*)
Die Worte dieses symbolischen Anspeiens konnte Spinoza - so empfinden wir heute - ruhig verachten. Aber es blieb nicht bei Worten allein. Der „Cherem" schloß mit einer vollständigen Verfemung des Opfers. Die Lebensmöglichkeit soll ihm genommen werden. Niemand soll „vier Ellen weit von ihm" verweilen. Auch seine Schriften werden verboten und die Rabbiner schämen sich

*) Es scheint, daß die grausigste Symbolik einer jüdischen Verfluchung bei dem Banne über Spinoza nicht angewandt wurde: das furchtbare Auslöschen schwarzer Kerzen in einer Schüssel mit frischem Blute. Wahrscheinlich nur darum nicht, weil das Verbrechen Spinozas aus juristischen Gründen damals noch nicht als Gotteslästerung aufgefaßt werden konnte, sondern nur als Ungehorsam.
[53/54]

nicht als ob sie Dominikaner gewesen wären, auch den weltlichen Arm gegen Spinoza zu lenken. Nicht lange vorher, als der achtjährige Knabe in der Rabbinerschule die Bewunderung seiner Lehrer erregte, hatte ein ähnlicher Cherem den feurigen und begabten Uriel da Costa dazu getrieben, seinem durch Rabbinergeifer beschmutzten Leben mit einem Pistolenschuß ein Ende zu machen.
Das war es, was Spinoza seinem Judentum äußerlich verdankte. Ihm freilich vermochte jüdischer Pfaffenmund nichts anzuhaben, ob der Mund Worte sprach oder schäumte. Wir müssen ihn uns vorstellen, wie er mit der Weltverachtung eines Heiligen durchs Leben ging. Noch im Tode mag er diesen Ausdruck festgehalten haben, was dann einem immerhin anständigen Gegner Anlaß gab, unter das Titelbild einer Lebensbeschreibung Spinozas zu setzen. Der Meister des ersten Lehrgebäudes unter den feineren Atheisten, der Fürst der zeitgenössischen Atheisten habe sein unseliges Leben geschlossen mit dem Aus-[54/55]druck der Verdammnis im Gesicht (characterem reprobationis in vultu gerens.)*)
Schon Hegel hat auf den Doppelsinn des Wortes hingewiesen (aber gewiß nur Goethe folgend - er schreibt ihm dabei einen Gedächtnisfehler nach -, der schon „Verwerfung und Verworfenheit" übersetzt hatte), wie denn réprobation im Französischen heute noch sowohl die passive Verworfenheit als die aktive Mißbilligung bedeuten kann. Für Verworfenheit, für Verdammnis mußten Pfaffen den tiefen Zug von Verwerfung und Verdammung halten, mit dem Spinoza in die Einsamkeit ging, um - nicht für die Juden - für den weltlichen Arm eine Verteidigungsschrift zu schreiben, aus der dann später in politisch kritischer Zeit der große theologisch-politische Traktat geworden ist.
Dieses bahnbrechende Buch geht uns hier zunächst nur so weit an, als es das stille Heldentum, die heitere Todbereit-

*) Eine Wiedergabe dieses Bildes wurde unserer Ausgabe beigefügt; es geht auf das Portrait zurück, das Spinozas Freunde dem Drucke der Opera postuma beigegeben haben.
[55/56]

schaft Spinozas, deutlich beweist. Nur Lessing wieder hat 100 Jahre später, wo freilich nicht mehr so leicht verbrannt und gemordet wurde, in ebenso freier Weise zugleich gegen die Orthodoxie und gegen die „Halben" gekämpft. Die Orthodoxen und die „Halben", scheinbar grimmige Feinde, waren doch einig in dem Hauptpunkte" es könne in der Bibel nichts Falsches stehen. Daß die „Ganzen" daraus den Schluß ziehen, es müsse also jedes Bibelwort wörtliche Wahrheit enthalten, daß die halben Pfaffen nur folgern, es müsse jedes unhaltbare Bibelwort darum bildlich oder sonstwie anders gedeutet werden, - das ist gleichgültig; ernsthafte Bibelkritik war erst möglich, wenn man die Möglichkeit zugab, die Bibel könne Falsches, könne Unsinn enthalten, wie jedes andere Menschenwort. Dies hat Spinoza ausgesprochen; ohne ihn sind Voltaire, Lessing und Strauß nicht zu denken.
Wieder 100 Jahre nach Lessing hat diesen klaren Satz Anzengruber am einfachsten und lustigsten wiederholt („Der [56/57] G'wissenswurm", I, 8). Der Bauerntartüff beruft sich auf ein Bibelwort. „Wird doch kein Unsinn g'schrieb'n stehn?!" fragt der geplagte Grillhofer. „Und warum net?" ist Dusterers Gegenfrage, in der der ganze theologisch-politische Traktat zusammengezogen scheint. Daß es der fromme Bauer ist, der diese vernichtende Frage stellt, ist ein recht Lessingscher, genialer Zug. Und ich kann aus eigenem Wissen bemerken, daß Anzengruber wußte, wie viel vom Pantheismus Spinozas und vom Wahrheitsstreben Lessings ihm „angeflogen" war; den theologisch-politischen Traktat selbst kaufte er erst viel später auf einer Sommerreise, von einem Bahnhofbuchhändler, in der wohlfeilen Übersetzung der Reclamschen Bibliothek, und erhielt einen übermächtigen Eindruck.
Diese drei Namen können zugleich als Beispiel dienen dafür, wie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein mit Beifall aufgenommener Schlager sein konnte, was hundert Jahre vorher selbst einem Lessing von seinem Fürsten das Verbot theo-[57/58]logischer Schriftstellerei eintrug, was 200 Jahre vorher den Verfasser des theologisch-politischen Traktats in Lebensgefahr brachte. Die Erregung gegen ihn war so groß, daß er sein Hauptwerk bei seinen Lebzeiten nicht drucken lassen konnte. Und eben in dem Jahre 1675, als Spinoza in dem freien Amsterdam vergebens einen Verleger für seine „Ethik" gesucht hatte, lag alles so ungünstig, daß selbst seine Bewunderer ihn zu einer Art Widerruf bewegen wollten. Es war einer, den Spinoza seinen Freund nannte, 0ldenburg, der ihm schrieb, „man" nehme besonders Anstoß an Spinozas Gleichstellung von Gott und Natur, an seiner Verachtung der Wunder und an seinem unklaren Standpunkte zu dem Gottmenschen Jesus Christus. Und noch schöner als der Traktat, der vom Buchhandel als Schmuggelware behandelt wurde, zeigt den ruhigen Mut Spinozas die Antwort, die er nicht viel mehr als ein Jahr vor seinem Tode, ein schwindsüchtiger Mann, an den zudringlichen, ängstlichen Oldenburg nach London richtete. Was den [58/59] ersten Punkt betrifft, so bekennt er sich offen zu seinem Pantheismus; wer aber glaube, Spinoza verstehe unter Natur eine tote Masse, wer ihn also (nach unserm Sprachgebrauch) für einen Materialisten halte, der verstehe ihn nicht. Was die Wunder anbelangt, so dürfe sich der Glaube nur auf die Weisheit der Offenbarungen stützen, nicht auf ihre Wunder, d. h. auf Ignoranz. Darum unterscheiden auch die Christen von den Bekennern anderer Religionen (es ist mir, als ob das Original von Lessings Nathan nicht der subalterne Mendelssohn, sondern der Spinoza dieses Briefes wäre) nicht die Treue, die Liebe und andere Früchte des h. Geistes, sondern allein eben die Meinung (opinio), weil auch die Christen ihre Religion auf Wunder allein gründen wollen, also auf Unwissenheit, die die Quelle aller Bosheit sei. Was endlich die Menschwerdung Christi anbelangt, so erklärt der Jude Spinoza ganz ausdrücklich, er könne den Sinn der Worte nicht verstehen; er bekenne offen, daß ihm solches Reden nicht weniger ab-[59/60]surd vorkomme als ein Geschwätz von der Quadratur des Zirkels.
Was heute alltäglich ist, war damals eine seltene Tat. Er verläßt das Judentum und schließt sich den Christen nicht an. Er verlacht den Rationalismus in der Theologie und ist in der Philosophie so sehr Rationalist, glaubt so fest an den Wert der Vernunft, daß er den herrschenden Dualismus überwindet und damit die Modernen jener Tage, die eigentlichen Kartesianer, die er dumm, nennt, aufs äußerste reizt. Er wirft das Gebäude aller Frommen um, und bannt doch für alle Folgezeit die beschränkten Materialisten - vier Ellen weit - von sich fort. Daß er dabei im Traktat dem Alten Testament feindlicher scheint, als dem Neuen, ist wohl aus seiner gründlicheren Kenntnis zu erklären. Nirgends ist die Einsicht von irgendeiner Absicht getrübt. Nicht im Leben, nicht im Denken, nicht in der Philosophie, nicht in der Politik. Denn auch als Politiker ist Spinoza ein reiner Charakter. Da die Oranier in den Niederlanden fast königliche [60/61] Macht gewinnen, da sie ihre Gegner, früher einen Oldenbarneveld und jetzt die de Witt bald gesetzlich, bald ungesetzlich ermorden lassen, schreibt der gebannte Jude Spinoza zugunsten dieser aristokratisch-republikanischen Partei, und verficht doch wieder (mit Hobbes) die Staatsallmacht über die Kirche. Und diesem allmächtigen Staate endlich spricht er das Recht ab, die Denkfreiheit zu beschränken.
So ist er ein Denker ohne Furcht und Tadel, ein klassischer Zeuge. [61/62]



IV.



Nur ein dunkler Punkt ist vorhanden: Spinozas Gottesbegriff.
Wie wir wünschen, Spinoza hätte uns seine Weltanschauung ohne seine Beweise gegeben, d. h. seine Gedanken ohne seine Sprache, so wünschen wir auch, er hätte das Doppelspiel, das Gott der Natur gleichsetzt (Deus sive natura) und willkürlich bald „Gott" und bald „Natur" sagt" aufgegeben und das Wort „Deus" mit allen schwerfälligen und sophistischen Definitionen und Folgerungen dieses Wortes uns erlassen. Wir haben anfangs oft den Eindruck, Spinoza habe da nur vorsichtig gehandelt und sich selbst ein Hintertürchen offen gelassen, durch welches er die Schüler aus seinem Hause, der Natur, zu „Gott" hinauswerfen konnte, während doch sogar der Riese Kant weniger stolz war und das Hintertürchen der Moral öffnete, um Gott da-[62/63]durch wieder als Herrn einzuführen. Rücksichtsvoller gegen die Theologie als gegen die Philosophie. Erst der tapfere Forberg wagte es (in der Abhandlung, die zum berühmten Atheismusstreit Fichtes den Anstoß gab), die leise Andeutung Kants auszudeuten und vernehmlich zu sagen: wir wollen so handeln, a1s ob es einen Gott gäbe.
Es wäre aber unhistorisch, einem Spinoza unsere Denkgewohnheiten unterzuschieben. Großstädter sind jetzt in den Jahren, wo man im Glauben konfirmiert zu werden pflegt, mit den Begriffen: Gott, Engel u. dgl. schon fertig. Wir brauchen nachher das Wort „Gott" nicht mehr, wie wir nachher nicht mehr vom Storch sprechen. Man bedenke doch, daß wir darin wieder um ein Wort ärmer oder um eine Freiheit reicher geworden sind als z. B. Lessing und Voltaire, die das Wort noch emsig hin und her wendeten, um seinen Inhalt zu finden. So wird bald auch die Zeit kommen, wo die völlige Hohlheit des Begriffs Substanz oder Materie erkannt sein wird. Für Spinoza war Substanz [63/64] (übrigens identisch mit Gott) noch der höchste Begriff, und wir nehmen ihm diese Scholastik nicht übel. Warum wollen wir ihm den Gottesbegriff schlimmer deuten?
Wir sind diesem Begriff gegenüber wirklich noch zu nervös. Die Geschichte des christlichen Gottesbegriffs erzählt eine solche Fülle von Dummheit und Trug, von Gewalttat und Feigheit, daß wir uns über jeden freien Kopf ärgern. der diesem Begriff auch nur die geringsten Zugeständnisse macht. Und bei Spinoza werden wir - aber nur, weil Spinoza uns gelebt hat - anfangs die Empfindung nicht los, ihm sei, wie einst dem Epikuros die Götter nur die Lückenbüßer der Kenntnis waren, sein Gott bestenfalls nur ein altes Wort für das neugefundene x, für die Unbekannte, die natura naturans (die wirkende Natur), auf welche die natura naturata (die Wirklichkeitswelt) als letzte Ursache hinzuweisen schien.
In jüngeren Jahren war ich geneigt, Spinoza einer feigen Vorsicht zu zeihen. [64/65] Schopenhauer hatte mich irregeführt, der dem Juden Spinoza, gegen den er bei aller Bewunderung das niedrige Wort vom foetor judaicus gebraucht, geradezu Unaufrichtigkeit vorwirft. „Eine Schwierigkeit besonderer Art hat Spinoza sich dadurch aufgebürdet, daß er seine alleinige Substanz Deus nannte; ... er tat es, damit seine Lehre weniger Anstoß fände."
Das ist unhistorisch geurteilt, wie gesagt. Das Wort Deus war für Spinoza noch ein Begriff aus der Welt des Denkens; es konnte ihm noch nicht einfallen, das Wort zu veräußern oder es wegzuwerfen wie einen alten Kaftan. Er hielt es für seine Pflicht, den Begriff zu verinnerlichen, ihn von abergläubischen Zutaten zu befreien, den Kaftan zu reinigen. Und wahrhaftig, seine Definition des Gottesbegriffs war nicht vorsichtig. Uns ist sie lästig, weil wir des Wortes nicht bedürfen, weit es sich als ein störendes Synonym zwischen uns und Spinozas Natur schiebt; wir wissen, daß unsere Sprache über die natura naturata hinaus nicht bis zur natura naturans gelangen [65/66] kann. Aber geheuchelt hat Spinoza darum nicht. Sein Deus hat nicht gehindert, daß er bei Lebzeiten und noch im Grabe der Fürst der Atheisten genannt worden ist. Der Gott Spinozas hat nichts mit irgendeiner religiösen Anschauung zu tun; sein Gott ist kein konfessioneller Begriff. Spinoza sagt einmal tief und groß: Gott zuzumuten, daß er das Gute allein schaffen (also nach guten Zwecken allein handeln) könne, nicht auch das sogenannte Böse, heiße ihn von etwas Fremdem, von der menschlichen Idee des Guten abhängig machen; es sei für Gott weniger schlimm, ihm Willkür zuzutrauen, ,was Spinoza doch wieder für töricht erklärt.
Dieses Leugnen aller Zweckursachen, aller Absichten (bei Gott oder der Natur), dieses Betonen der ausnahmslosen Notwendigkeit der Welt, das wie Beethovens Siegessymphonie vernichtend zugleich und jubelnd über uns hereinrauscht, dieser Grundgedanke Spinozas, den er auch seinem Gotte nicht erläßt, scheidet seine Lehre wie von allen frühe-[66/67]ren Denkern, so auch von aller „Religion". Darum besteht ja die Religion nicht vor der interesselosen Einsicht, weil sie immer Interesse ist. Auch der Judengott hatte bei seiner Weltschöpfung einen Zweck; er schuf die Welt für den Menschen. Natürlich! hatte doch der Mensch sich ihn zu diesem Zweck erdacht. Einerlei, ob hier oder drüben, immer verspricht Religion etwas, sie will also immer etwas Künftiges, einen Zweck. Immer nennt sie einen wollenden Gott, dem sie den sollenden Menschen gegenüberstellt. Gott will, daß ich solle. Ich soll, damit Gott wolle, mir wohl wolle.
Weniger roh lehren die Philosophen dasselbe. Immer ist ihnen der Mensch das Maß der' Dinge, ohne daß sie es immer wissen oder sagen. Weil der lebende Mensch Erinnerung oder Sprache besitzt, weil er mit ihrer Hilfe die ewige Gegenwart in Vergangenheit und Zukunft auseinanderhalten kann, darum verlegen sie die Zukunft auch in die Wirklichkeitswelt und lassen sie durch Zwecke oder Absichten auf die Gegenwart wirken. [67/68] Alle sind sie teleologisch, alle bis auf den einen Spinoza. Alle, wenn man von den großen Skeptikern absieht, den wahren Alleszermalmern. Platon und Aristoteles sehen in der Natur Zwecke verwirklicht, und alle Neuen kehren zu den Absichten des alten Judengottes zurück. Kant selbst stellt, nachdem er groß die Unerkennbarkeit der innern Weltordnung dargetan hat, doch wieder eine erkennbare, höhere Weltordnung, die moralische auf, ein kategorisches Soll neben das Wollen des moralisch erschlossenen Gottes. Ja sogar die gottlose und gottesmörderische Welt Schopenhauers soll noch etwas, wenn auch nur die Weltflucht. Einzig und allein der Deus Spinozas will nichts. Er hat gar keinen Zweck, weshalb der Mensch auch nichts soll. Der Mensch hört auf, das Maß der Dinge zu sein. Weder dürfe man etwas gut nennen, weil Deus es angeblich gewollt habe; noch dürfe man glauben, Deus habe das und das gewollt, weil es gut sei. Die Aufhebung des persönlichen Gottes ist im Deus Spinozas besser erreicht, als im [68/69] „Stoff" der Materialisten, der sich „aufwärts" entwickelt, also zweckvoll; besser als im „Willen" des Atheisten Schopenhauer, der schon nach seinem Namen einen Zweck „wollen" muß.
Nur scholastisch freilich kommt Spinoza dazu, seinem Deus die Erkennbarkeit abzusprechen. Jede Bestimmung sei eine Verneinung; denn jede Bestimmung einer Definition gehöre nicht zum Wesen der Sache, sondern sei im Gegenteil ihr Nichtsein. Es ist also jede Definition, ich würde sagen, jede Erkenntnis, nur eine Umgehung der Wirklichkeit. Darum kann auch das höchste Sein, auch Deus nicht erkannt werden, darum können wir uns von seiner Persönlichkeit, von seinem Wollen oder seinem Verstande keinen Begriff machen. Spinoza kennt wohl' das Wort „Persönlichkeit", aber er kann sich nicht viel dabei denken. Was seine Persönlichkeit sei, werde Deus wohl erst am jüngsten Tage seinen Gläubigen enthüllen, fügt Spinoza hinzu; und mag bei diesen Worten wohl besonders scharf den character reproba-[69/70]tionis im lächelnden Antlitz getragen haben.
Der unendliche, undefinierbare, unpersönliche Deus hat also gar keine Individualität; und so gehört zu seiner Natur auch kein Verstand und kein Wille, wobei Spinoza die tiefe Einsicht besaß, daß der Wille nichts dem Verstande Entgegengesetztes, sondern gleich ihm Vorstellung sei. Spräche man dem Deus Verstand und Wille zu, so käme das auf eine willkürliche Benennung hinaus, da des Deus Verstand und Wille von unsern gleichbenannten Seelenkräften himmelweit verschieden sein müßten, himmelweit, wie etwa das Sternbild des Hundes am Himmel und der Hund, der unter meinem Fenster bellt. Nur die Worte seien gleich.
Es tut nichts, daß Spinoza auf scholastischem Wege zu seiner einheitlich großen Weltanschauung kommt. Auch Jesus kam auf einem Esel; und Spinozas Weltanschauung war in ihm, bevor er sie sich bewiesen hatte; wie wir ja wissen, daß der Satz früher ist als das Wort, der [70/71] Schluß früher als die Prämissen. So ist es auch gleichgültig, daß Spinoza sich und die geometrische Methode quält, um in seinem Deus die gewaltige Vorstellung von der Weltkette der durchgängigen Notwendigkeit und das Menschenwort Freiheit zu vereinigen. Außer dem Deus gäbe es nichts, es sei also nichts vorhanden, von dem er bestimmt werden könne, also sei Deus frei; und da doch Notwendigkeit zu seinem Wesen gehöre, so sei es eine freie Notwendigkeit. So sinnlos konnte selbst Spinoza Worte aneinanderreihen. Es fiel ihm noch nicht ein, eben aus solchen Gründen Gott zu leugnen, weil nämlich Freiheit zu seinem Begriffe gehören müßte, wenn er existierte, und weil es doch auf dem Weltenrund nichts gäbe als die eherne Notwendigkeit. Einerlei. Wie die mathematische Methode die bis zum Extrem getriebene Verirrung Spinozas ist, der ärgste Mißbrauch des Worts, so ist das Mathematische seiner innern Weltanschauung bewunderungswürdig. Sub specie aeternitatis, zeitlos also, geht die Welt aus Deus [71/72] hervor, nicht als Schöpfung, nicht als Folge, vielmehr - so möchte ich sagen - als Eigenschaft, wie die Gleichheit der Radien aus dem Kreisbegriff. So kann Spinoza schreiben - hart an der Wahrheit vorbei, aber gewiß ganz aufrichtig: „Auf die Frage, ob ich von Deus eine so klare Idee habe wie von einem Dreieck, antworte ich mit ja. Fragst du aber, ob ich von Deus ein so klares Bi1d habe, wie von einem Dreieck, so sage ich nein." Nur daß „Idee" nicht mehr sei als „Wort", wußte Spinoza nicht. Er war Platons Ideenlehre gegenüber doch nicht Nominalist genug,
Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß in dieser Überschätzung der Ideen zugleich Spinozas Darstellungsmangel und seine Abhängigkeit von der höchsten Idee beruht, von seiner höchsten Idee, von seinem Deus. Und immer wieder muß es beklagt werden, daß die stolze Gewißheit von seiner Weltanschauung ihn an ihrer sprachlichen Form nicht zweifeln ließ. „Wer eine wahre Idee hat, der weiß auch, daß er eine [72/73] wahre Idee habe, und kann an der Wahrheit der Sache nicht zweifeln." Nach Spinoza offenbart das Licht sich selbst und die Finsternis, und die Wahrheit prüft sich selbst und das Falsche. Wahre Vorstellungen sind ihm über jeden Zweifel erhaben, denn sie seien nicht stumme Gemälde, sondern das Denken selbst. In diesem Vertrauen auf Ideen oder Worte ist also Spinoza ganz aufrichtig, wenn ihm der Begriff seines Deus ein Herzensbedürfnis ist, wenn ihm von da aus alles überaus klar zu werden scheint, wenn ihm auf der Stufenreihe der menschlichen Erkenntnis sein Deus als das Höchste und beste Wissen, als die intuitive Erkenntnis erscheint. Er hat vergessen, daß diese eine unmittelbare anschauliche Erkenntnis sein muß und daß er von Gott wohl einen so klaren Begriff hat wie von einem Dreieck, nicht aber eine solche Anschauung (imago).
In der von ihm gelehrten Stufenfolge der menschlichen Erkenntnis, die ihn zum Deus führt, sehen wir Spinoza gewaltig um die Wahrheit ringen. Er zwingt sie [73/74] nur nicht, weil seine Waffen Worte sind, die Wahrheit aber ungreifbar, weil wortlos. Es ist der Kampf des Menschen mit der Wahrheit ein Kampf des Bären mit dem Adler; das plumpe Tier kann die Erde nicht verlassen, das Wort.
Ich glaube aber nicht, daß ich Spinozas Vorstellungen entstelle, wenn ich seine Stufenfolge der Erkenntnis mit Worten meiner Sprache auszudrücken suche; Spinoza wäre tot, dürfte man ihn nicht mehr übersetzen.
Die erste Stufe ist die Erkenntnis durch Worte. Diese führt notwendig zum Irrtum. Spinoza muß dabei geahnt haben, daß diese Abstraktionen, die er darum verworren nennt, immer nur tastend und versuchend um die Wirklichkeitswelt herumjagen, nie aber in sie selbst eindringen.
Man hat diese erste Stufe der Erkenntnis ganz richtig dem Standpunkte des naiven Realismus gleich gestellt, der all das und nur das für wahr hält, was seine Sinne ihm von der Welt erzählen. Nur kann ja der naive Realismus noch [74/75] nicht wissen. daß diese Angaben der Zufallssinne wie die gesamte äußere Welt so auch das gesamte innere Denken allein ermöglichen, daß dieses naive Weltbild sich auch in dem Wortvorrat und in den Formen der Umgangssprache ausprägt. Die erste Stufe der Erkenntnis ist die der menschlichen Gemeinsprachen. Erst durch Bildung einer wissenschaftlichen Sprache (man sagt gewöhnlich: durch das Entstehen von Wissenschaften) wird die nächsthöhere Stufe erreicht.
Die zweite Stufe der Erkenntnis ist die der reineren Vernunft, welche die Dinge wesentlich unter einem gewissen Gesichtspunkt der Zeitlosigkeit betrachtet. So möchte ich den berühmten Satz von der Spezies der Ewigkeit wiedergeben. Denn die Welt begreifen, heißt das eherne Band ihrer Notwendigkeit begreifen. Lückenlos ist diese ewige Kette der Notwendigkeit. Eins folgt aus dem andern, aber nicht logisch, auch nicht in der Zeit. Zeitlos wie die mathematischen Gesetze, zeitlos wie die Gleichheit der Radien aus dem Kreisbegriff, so zeitlos und [75/76] darum ewig folgt das eherne Band der Welt aus dem Substanzbegriff des Deus. Und so scheint mir erklärt, was Spinoza unter dem Gemeinsamen verstanden habe, unter dem, was auf der zweiten Stufe der Erkenntnis den Dingen der Welt „gemeinschaftlich", was darum ewig ist. Kirchmann und andere haben unter den Communia wieder nur Begriffe verstanden, Kuno Fischer hat gar keine Erklärung versucht. Spinoza aber gibt deutlich zu verstehen, daß er unter den Begriffen oder Universalien der ersten Erkenntnisstufe diejenigen Abstraktionen sich denke, die sich der einzelne Mensch je nach seinem Verhältnis zu den Gegenständen, nach seinem Interesse, nach zufälligen Eindrücken mache. Die bloßen Bilder. Der eine denke sich unter „Mensch" das Geschöpf mit dem aufrechten Gang, der andere das Tier, das lachen kann, oder das zweibeinige Tier ohne Federn, oder das vernünftige Tier. Ebenso gehe es mit den Begriffen oder Universalien „Hund" oder „Pferd". Darum führt ja eben die erste Stufe mit ihren [76/77] Begriffen zum Irrtum; darum können die Communia der zweiten Stufe, darum kann das Gemeinsame in den Dingen, das zur Wahrheit führt, nicht in Begriffen bestehen oder in Worten. Und wenn ich communia mit „Gesetze" wiedergebe, wenn ich mir Spinoza so erkläre daß die Einzeldinge und die von ihnen abgeleiteten Begriffe an der Zeit kleben und darum vom Irrtum nicht loskommen, daß allein in den zeitlosen, mathematischen Beziehungen der Dinge, also in ihren ewigen Gesetzen, die Wahrheit stecke, so glaube ich einen Augenblick, über Spinoza, indem ich ihn richtig verstehe, hinausgekommen zu sein. Doch nur einen Augenblick. Das Wort „Gesetze" ist uns nur vertrauter, weil es ein mythologischer Begriff neuerer Prägung ist; Spinoza war weiser, da er nichts weiter behauptete als „etwas, was den Dingen gemeinsam" sei.
Der Inbegriff dessen, was auf dieser zweiten Stufe erkannt wird als das Wesentliche, Zeitlose, Gemeinsame der Welt, ist für Spinoza das Wirkliche, die wirkliche Natur, die natura naturata; darüber [77/78] hinaus erkennt er auf der dritten und höchsten Stufe intuitiv im Deus die Einheit aller Gesetze, das Bewirkende, die wirkende Natur, die natura naturans, ich glaube bestimmt, daß Lessings Maler (in „Emilia Galotti") diesen pantheistischen Gottesbegriff wiedergeben will, wenn er von der „plastischen Natur" spricht und - ganz Lessing - zweifelnd hinzufügt: „wenn es eine gibt." (Das Wort „plastische Natur" stammt von einem englischen Platoniker, ist aber spinozistisch.)
Die dritte Stufe der Erkenntnis möchte ich freilich am liebsten noch freier so übersetzen, daß sie den Trug der Wissenschaften, den Trug der vermeintlich erkannten Gesetzmäßigkeit in der natura naturata durchschaue. So gefaßt, wäre Spinozas „Intuition" der Zweifel an dem Werte der wissenschaftlichen Sprache, der Weg zur resignierten Skepsis. Das hieße aber, über Spinozas heitere Weltanschauung einen dunklen Schleier werfen, seinen frohen Glauben in einen Unglauben, seine Sehnsucht in eine Negation umwandeln. Spinoza, der Fürst des [78/79] Atheismus, der Verfasser des liber pestilentissimus, ist in seinem Empfinden kein Skeptiker.
Spinoza zweifelt nicht an der Erkennbarkeit der natura naturans, des Wirksamen, das freilich auch für uns nicht weniger begreiflich ist, als die natura naturata, als das Wirkliche. Ihm ist die Welt ein Buch. Auf der ersten Stufe buchstabiert das Kind gedankenlos; auf der zweiten Stufe faßt es die einzelnen Sätze, auf der dritten Stufe versteht es den Sinn des Ganzen.
So glaubt Spinoza ganz ehrlich und aufrichtig seinen Deus zu verstehn. Und weil es ein pantheistischer Deus ist, weil er nichts anderes ist, als die Welt selbst, und weil Spinoza Freude hat an der ehernen Weltkette, darum liebt er seinen Deus. Denn Spinoza hat die Liebe scheinbar so nüchtern und doch so tief erklärt als:[!] Fröhlichkeit, verbunden mit der Vorstellung ihrer äußern Ursache. Er fühlt den Deus in der ganzen Welt, auch in sich selbst, als Ursache der Welt, als Ursache seiner selbst (nämlich Gottes sowohl als [79/80] Spinozas), und so liebt er ihn, seine mystische Weltseele, er liebt ihn mit übermenschlicher Liebe, mit lächelnder Resignation, ohne Hoffnung auf Gegenliebe, ohne Eifersucht, er liebt ihn, wie man die einzig Geliebte lieben würde, wenn sie zeitlos und körperlos wäre, ein Gedankenbild. Spinoza wäre nicht, der er war, der größte und heiterste Denker, wenn er nicht bei allem Scharfsinn doch die blaue Blume gepflegt hätte, die letzte Zuflucht des gequälten Denkens, die Mystik. Wie wir noch sehen werden.
Diese Heiterkeit verliert, wer nicht in den mystischen Abgrund springt, wer jede Mystik für das Asyl der Verzweiflung hält und doch die Verzweiflung nicht fürchtet, wenn nur heiliger Zweifel zu ihr führt.
Noch einmal also: Spinoza hat in gutem Glauben an den Wert der menschlichen Sprache den Begriff „Gott" so ruhig untersucht, wie den Begriff „Substanz"; er hat in beiden etwas Wirkliches erblickt, und sogar in beiden ein und dasselbe: das Wirksame. So ist auch sein [80/81] Deus kein Grund, auf seine Aufrichtigkeit einen Verdacht zu werfen; wohl aber ist sein Deus das erste und stärkste Beispiel dafür, wie sich Spinoza wohl in seiner Weltanschauung über alle Zeiten erheben konnte, in seinem Sprachgebrauch aber niemals sicher war, zurückzusinken in die Scholastik. [81/82]


V.



An dieser Stelle muß ich, wie schon einmal („Geschichte des Atheismus" II, S. 349), ein Gerücht erwähnen, nach dem das Wort „Gott" in der ursprünglichen Fassung der „Ethik" gar nicht vorgekommen sei. Johannes Clericus (Jean le Clerc), ein niederländischer Aufklärer von einiger Feigheit, übrigens von starker Gelehrsamkeit und wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit, hat dieses Gerücht 1724 gebucht, nach der Erzählung eines „glaubwürdigen" Mannes. Spinoza habe sein Werk in holländischer Sprache verfaßt und es von dem Arzte Lodewyk Meyer ins Lateinische übersetzen lassen; das Wort Gott sei in dem Buche nicht vorgekommen, nur das Wort Natur. Der Arzt habe die Gefahr erkannt und Spinoza habe eingewilligt, das verfälschte Wort Deus einzufügen. Die Frage, ob Spanisch oder Holländisch die Mutter-[82/83]sprache Spinozas gewesen sei, ob er sein Lebenswerk wirklich zuerst holländisch abgefaßt habe, mag dahingestellt bleiben.*) Die andere Frage, ob es in den vielen Jahren, in denen Spinoza an der „Ethik" arbeitete, irgendeine Zeit gegeben habe, zu der der Philosoph vielleicht den Namen Gottes zu seiner Beweisführung gar nicht bemühte, wäre sorgfältig zu erwägen, wäre aber wahrscheinlich am Ende doch mit einem Nein zu beantworten. Die Behauptung jedoch, die letzte Fassung der Ethik, die uns in einer Übersetzung vorliege, habe an keiner Stelle das Wort Deus enthalten, ist ganz unhaltbar, ist unmöglich. Schon wegen der erwähnten ängstlichen Klage Oldenburgs über Deus sive natura. Allerdings wäre den Freunden, die die Ethik mit den übrigen nachgelassenen Schriften nach dem Tode des Meisters herausgaben, die eine oder die andere leichte Änderung

*) Den Nachweis, daß und wie die „Ethik" aus der lateinischen Fassung von den ersten Anhängern langsam ins Holländische übersetzt worden ist, hat Carl Gebhardt überzeugend geführt in seinen Inedita Spinozana.
[83/84]

zuzutrauen, nach ihren Charakteren und nach den literarischen Ehrbegriffen der Zeit; dachten sie doch daran, die Handschrift der Ethik an Leibniz zu verkaufen, und fälschten sie doch in dem Vorworte die letzte Absicht des Philosophen. Doch entscheidend scheint mir die Tatsache, daß es einfach nicht wahr ist: man könne überall natura lesen, wo in der Ethik Deus steht oder Deus sive natura. Im ersten Buche geht es schon nicht an; und gar im fünften Buche, mit seiner tiefen und echten spinozistischen Mystik, wäre es grotesk, an die Stelle von Gottesliebe regelmäßig Naturliebe zu setzen. Und noch auf einen Umstand muß hingewiesen werden. Bekanntlich finden sich schon in dem theologisch-politischen Traktat, der mitten während der Arbeit an der Ethik entstand, Züge aus dem Systeme der Ethik. Den Traktat hat Spinoza selbst zum Drucke befördert. Da aber, besonders in dem tapferen Kapitel von den Wundern, wird der Gottesbegriff dem Ursachbegriff geradezu gegenübergestellt und fast übermütig der logische [84/85] Beweis dafür geliefert, daß das Dasein Gottes eher aus der unveränderlichen Ordnung der Natur sich erkennen lasse als aus den sogenannten Wundern. Ich glaube daraus den Schluß ziehen zu dürfen, daß Spinoza schon 1670, also schon sieben Jahre vor seinem frühen Tode die Gewohnheit hatte, die Begriffe Gott und Natur zu verbinden, was ja nicht ausschließt, daß er den Unterschied zwischen beiden Begriffen in einer Stimmung dessen erblickte, der die Wörter gebrauchte. Ich meine also, daß wir uns um das Gerücht gar nicht zu bekümmern brauchen, das le Clerc möglicherweise vielleicht doch nur darum mitgeteilt hat, weil er - wie alle skeptischen Deisten und alle ängstlichen Kartesianer - möglichst weit von dem des Atheismus schwer verdächtigen Spinoza abrücken wollte. [85/86]


VI.



Weil die „Menschlichkeit" von Spinozas Hauptwerk gerade in der ganz unmöglichen geometrischen Methode liegt, also in der Darstellung oder der Sprache, darum scheint es mir nötig zu sagen, was diesen außerordentlichen Mann zu einem so verhängnisvollen Fehler verführte. Es waren zwei Irrtümer, die aber eigentlich ein einziger Irrtum sind, er überschätzte, den Wert der mathematischen Methode und den Wert der Logik. Da und dort besteht das Menschliche darin, daß er glaubte - wie eben alle vorsprachkritische Welt glaubt -: das Denken durch Erinnerungszeichen führe über die unmittelbare Anschauung hinaus. Er war in diesem Glauben nur konsequenter als alle Welt.
Die Überschätzung der geometrischen Methode war zu Spinozas Zeit ganz natürlich. Wird doch die alte Euklidische [86/87] Geometrie heute noch fast unverändert lauf allen Schulen gelehrt und für das Muster von sicherem und elegantem Beweisen, von einem zuverlässigen, fortschreitenden, systematischen Denken gehalten. Schopenhauers Darlegung, daß diese Art von Geometrie unser Wissen nicht bereichere, ist so gut wie vergessen. Oder sie wird, wie geistreich von A. Pringsheim, in ihrer antimathematischen Tendenz bekämpft, nicht in ihrer erkenntnistheoretischen Weisheit. Schopenhauer ging freilich von den Subtilitäten aus, mit denen Kant der Wirklichkeitswelt alle Raumbegriffe absprach und für Formen der reinen Vernunft erklärte; aber Kant beiseite hatte Schopenhauer recht. Die vielbewunderte Methode des Euklides nämlich und seiner tausend Nachahmer, von einigen einfachen Sätzen auszugehen und aus ihnen die verwickelteren zu beweisen, diese Methode ist sehr schön für Lehrer und Schüler; strengste Wissenschaft ist sie nicht. Gerade die einfachsten Axiome brauchen zu ihrem Begreifen die schwierigsten Be-[87/88]griffe und werden darum seit etwa hundert Jahren auch bestritten, sind also keine Axiome mehr. Nur daß die niedere Schule von den Arbeiten der Gauß, Bolyai, Lobatschewskij, Riemann immer noch nichts weiß. In den Beziehungen der Raumgrößen gibt es kein Nacheinander. Jeder Satz läßt sich insofern umkehren, als in diesen Beziehungen Ursache und Folge immer wechselseitig vertauscht werden können. Setzt man im Dreieck die Gleichheit der Winkel, so folgt die Gleichheit der Seiten; aber ebenso wird die Gleichheit der Winkel zur Folge, wenn man die Seiten gleichgesetzt hat. So ist das Lehrgebäude der Geometrie durchaus nicht das Muster fortschreitenden Denkens. Euklides mußte allerdings mit irgendeiner Anschauung beginnen; er hätte aber ebensogut, oder vielleicht besser, mit der Anschauung vom Würfel oder von der Kreisfläche beginnen und seine ganze Geometrie von da aus erschließen können. Ebenso hätte Spinoza mit seinen gewaltigen Anschauungen von der not-[88/89]wendigen Verkettung alles Geschehens, anheben müssen, anstatt mit den weitesten, leersten und umstrittensten Axiomen von der Substanz, der Ursache, dem Sein und dergleichen, wenn er nicht die Euklidische Geometrie irrtümlich für das Muster eines wissenschaftlichen Gebäudes gehalten hätte.
In ähnlicher Weise unterliegt heute Albert Einstein, der außerordentliche Mathematiker, den seine Gefolgschaft zu einem Philosophen machen will, dem Irrtum, auf die andre, die nichteuklidische Mathematik ein neues Gebäude der Naturbeschreibung aufbauen und die „klassische Mechanik" der Galilei und Newton stürzen zu können.*) Einsteins über-

*)Ich kann nicht anders, ich muß den ernsten und schweren Gedankengang mit einer leichten und für mich lustigen Bemerkung unterbrechen. Mit einer kleinen Wortgeschichte. Das arme Wörtchen „klassisch" hat schon vorher einen wunderlichen Bedeutungswandel durchgemacht. Im Sinne von „erstklassig", d. h. der ersten Steuerklasse also Wertschätzung entsprechend, wurde es freilich schon gelegentlich von Spätlateinern gebraucht; wenn aber im Mittelalter von „klassischen" Schriftstellern die Rede war, so wirkte ganz gewiß schon die Vorstellung mit, daß solche Meister in der Schul-[89/90]

aus scharfsinnige analytische Formeln lassen sich weder in die gemeine noch in die wissenschaftliche Menschensprache übersetzen (Zahlen und mathematische Zeichen sind keine Begriffe) und sind schon darum - wie selbst von Einsteins Jüngern oft bedauert worden ist - unvorstellbar. Abgesehen davon, daß - wie Ernst Marcus gezeigt hat - Einsteins neue Raum-Zeit-Gleichungen die alten wohlbekannten, d. h. unbekannten, Begriffe von Raum und Zeit voraussetzen, daß die nichteuklidische Geometrie nicht

[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 89]klasse als Vorbilder eines mustergültigen oder „klassischen" Latein zu gelten hatten. Die Verwendung der Bezeichnung für griechische Dichter und Philosophen wurde erst üblich, da die Renaissance die griechische Kultur als das Vorbild der römischen kennen und begreifen gelernt hatte. Und gar die Bezeichnung „klassisch" für italienische, französische, englische und deutsche Dichter oder Künstler konnte erst aufkommen, nachdem je und je die Wortkünstler der neuen Nationalsprachen das gleiche Ansehen verlangten und durchsetzten, dessen sich die römischen Vorbilder nach wie vor in den Schulen erfreuten. Es kam endlich so weit, daß man bei „klassisch" in Frankreich zunächst an Corneille und Racine dachte, später in Deutschland an Goethe und Schiller (Klassiker-Ausgaben, Klassiker-Format), und daß man gezwungen war, zur Unterscheidung die Beschäftigung mit den griechischen und römischen Schriftstellern „altklassisch" zu nennen. [90/91]

ohne die Anschauungen der euklidischen möglich ist, die revolutionäre Gleichsetzung von Gravitation und Trägheit nicht ohne die Definitionen, die Newton und Galilei „klassisch" von Gravitation und Trägheit aufgestellt haben. Einsteins Lehre bedeutet bestenfalls eine noch genauere Annäherung an die Wahrheit, nicht eine neue Wahrheit. Newtons System ist nicht falsch geworden.
Der zweite Irrtum Spinozas bestand darin, daß er, wie die Methode der Geometrie, so die Logik überhaupt über-

[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 90] Das hätte sich kein römischer Marineminister träumen lassen, daß „classicus" dereinst bei den barbarischen Briten, Franken und Alemannen, sogar bei den neuen Römern etwa so viel heißen würde wie: meisterlich, unübertrefflich, nach Inhalt und Form vollkommen. Ein Schreiber-Ausdruck, der auf Kunst und Wissenschaft angewandt wird. Wir hatten Bibliotheken klassischer Dichter, Sammlungen klassischer Maler, neuerdings auch Klassiker der Philosophie und der Naturwissenschaft. Immer bezeichnete „klassisch" das höchste Lob. Hat noch niemand bemerkt, daß das nun anders geworden ist? Und nicht erst seit heute oder gestern. Schon im 18. Jahrhunderte tobte der Kampf um die Neuen und um die Alten. Racine hatte ebenso klassisch sein sollen wie Seneca, oder noch klassischer. Um das Ende des Jahrhunderts kam dann der eitle Mercier und schlug die neuen französischen Klassiker tot, den argen Voltaire [91/92]

schätzte, - d. h. das Denken oder die Sprache. Es folgt nämlich ganz anschaulich aus dem sprachkritischen Gedanken, daß die geometrische Methode - so wenig wahrhaft analytisch, so schülermäßig sie auch ist - doch auch nicht entfernt von andern Wissenschaften erreicht werden kann, die als Werkzeug der Mitteilung die Sprache allein besitzen. Wohl sind die Beweise des Euklides wieder nur Mausefallenbeweise, bei denen der Menschengeist am Ende die Maus hervorzieht, die er vorher hineingetan hat.

[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 91] gleich mit. In Deutschland dauerte es bedeutend länger. bevor der Naturalismus (auch Mercier und seine Freunde waren Naturalisten) die Klassiker von Weimar totschlug. Die Werturteile waren ins Wanken gekommen. Was die geistlosesten Banausen gegenüber 'manchen Klassikern ihres Volkes immer empfunden hatten, daß nämlich diese Dichter veraltet waren, langweilig, Ladenhüter, pedantische Schulbücher (die Philister ahnten nicht, daß die „Klassiker" etymologisch wirklich Schulklassenbücher waren), das lehrten jetzt die lautesten Revolutionäre der Literatur als eine neue Wahrheit. „Schillerchen" konnte man vor dreißig Jahren in Berlin hören. Und jetzt nennen Einstein und seine Anhänger die Lebensleistung von Galilei und Newton, heuchlerisch den Hut in der Hand, die „klassische" Mechanik; aber ein verächtlicher Unterton ist hörbar: die veraltete, die abgetane Mechanik. „Klassisch" ist auf die Bedeutung von „veraltet" hinunter gekommen.
[92/93]


Sie bereichern das lebendige Wissen nicht, aber sie haben doch Beweiskraft von Fall zu Fall. Diese Beweiskraft der Geometrie nun rührt immer eigentlich von der beigegebenen Zeichnung her, die sich zu ihrer mathematischen Erklärung jedesmal verhält wie die Wirklichkeitswelt zu ihrer unmittelbaren Anschauung. Da ist Irrtum ausgeschlossen. Ein Philosoph also, der ohne Überschätzung der Worte die geometrische Methode nachahmen wollte, dürfte sich gerade niemals von der Wirklichkeitswelt entfernen und müßte bei naturwissenschaftlichen Erscheinungen stehen bleiben. Und hätte Spinoza sogar anstatt des Euklides und seiner Geometrie sich die Analyse des Descartes zum Muster nehmen können, die gerade damals ohne Wirklichkeitswelt und ohne Zeichnung zu rechnen anfing, so hätte er doch selbst diese abstraktere Sprache der Mathematik mit der allgemeinen Sprache niemals erreichen können, weil die mathematischen Zeichen eben das besitzen, was menschlichen Worten immer fehlt -: die vor-[93/94]herige Verabredung, die strenge Geltung für jeden einzelnen Fall und die Meßbarkeit ihrer Verhältnisse. Und auch die Analyse hätte überdies zur Erklärung der Wirklichkeitswelt eine schlechte Methode gewiesen, „Aus rein Analytischem kann nur wieder Analytischem, es darf daraus nichts spezifisch Geometrisches gefolgert werden." (A. Riehl.)
Ich glaube also abermals gezeigt zu haben, daß der in seiner Weltanschauung freiste aller Denker in seiner Darstellungsform gebundener als die andern war. Wieder aber wäre es gefehlt, ihn um dieser Unfreiheit willen tadeln zu wollen. Es gehört untilgbar mit zu dem Charakterbilde dieses einzigen Mannes, daß er bis ans Ende ging, wo er irrte, wie er bis ans Ende ging, wo er die Wahrheit sah. Alle Denker haben das Denken oder die Sprache überschätzt; alle hätten gleich ihm dieses Werkzeug nun im Sinne der Überschätzung mathematisch gebrauchen müssen, wenn sie konsequent gewesen wären wie Spinoza, wenn sie, ehrlich wie er, unerschütterlich an ihren [94/95] Glauben geglaubt hätten, wenn sie nicht heimlich ein schlechtes Gewissen gehabt hätten beim Gebrauch ihrer Sprache. Spinoza allein hatte kein schlechtes Gewissen; er war so groß, daß er gewissenlos sein durfte, d. h. unbeirrt von Vorurteilen. So wurde der ärgste Ketzer unbeirrt zum Dogmatiker. Nicht einmal der Umstand beirrte ihn, daß er selbst, und lange vor der Abfassung seiner Ethik, die geometrische Methode angewandt hatte auf eine Darstellung der Lehren des Descartes, der doch damals von ihm. innerlich schon überwunden war. Man muß fragen, und man hat gefragt, wie ein solcher Mann Sätze, die ihm überwunden schienen, mit dieser untrüglichen Methode habe beweisen können? Man hat sogar gesagt, es liege darin eine Art Humbug. Man hat dabei vergessen, daß Spinoza den Zweifel des Descartes eben nicht kannte oder vielmehr sehr fein von dem grundsätzlichen Zweifel der Skeptiker unterschied. Man hat aber vielleicht noch eine Kleinigkeit übersehen, auf die ich aufmerksam machen möchte. [95/96] Seine Ethik will Spinoza, wie das Titelblatt verspricht, nach geometrischer Methode (ordine geometrico) beweisen; auf dem Titelblatt der Grundsätze kartesianischer Philosophie verspricht er nur, sie auf geometrische Art und Weise (more geometrico) zu beweisen. Der Unterschied ist unabsichtlich, aber er ist vielleicht der von Ernst und Spiel; an der Wahrheit der Ausgangssätze des Descartes, dieser kartesianischen Teufelchen, konnte Spinoza zweifeln, an der mathematischen Kraft des sprachlichen Denkens zweifelte er nicht.
Und vielleicht läßt sich der Tiefsinn Spinozas dadurch retten, auch in seinem schweren Irrtum, daß man diesem übermenschlichen Denker einen fast übermenschlichen Gedanken zutraut, wie denn bewußte Bescheidenheit lehrt, alles für des Lehrers Gedanken zu halten, was im Schüler durch des Lehrers Worte angeregt worden ist.
Spinoza hat zu dem ersten Teil seiner Ethik, zu der Lehre von Gott, einen Anhang geschrieben, eine Erklärung, die [96/97] ebenso bewunderungswürdig ist, wie der Text selbst verschult und angreifbar. In dieser überzeugenden Anmerkung will er wie immer die um Menschenschicksal unbekümmerte eiserne Kette der Notwendigkeit darstellen und den Glauben an Zweckursachen und damit jede Form theologischen, ethischen, ja selbst ästhetischen Aberglaubens mit der Wurzel ausreißen. Niemand ist bis zu dieser Stunde über den Geist dieser Anmerkung hinausgelangt. Alle Revolution aller Wissenschaften im 19. Jahrhundert ließe sich herleiten von diesen Sätzen: „Nachdem die Menschen sich eingeredet hatten, die Welt und der Welt Lauf sei ihretwegen da, mußten sie an jedem Dinge dasjenige für das Wichtigste und Wertvollste halten, was ihnen am nützlichsten und angenehmsten war. Daher mußten sie sich diejenigen Begriffe bilden, mit deren Hilfe die Welt zu erklären wäre, die Begriffe: das Gute, das Schlechte, die Ordnung, die Unordnung, das Warme, das Kalte, die Schönheit, die Häßlichkeit. Und weil sie sich für frei [97/98] hielten, entstanden die Begriffe: Lob und Tadel, Sünde und Verdienst." Man horche wohl darauf, wie Spinoza hier mit einem großen Atemzuge nicht nur die Grundlage der Kirche, die Lehre von der Zurechnung, umbläst, sondern zugleich die Ausgangsbegriffe der Ethik, der Empfindungslehre, insbesondere der Ästhetik, wobei es noch gar nicht ausgemacht ist, was alles noch mehr durch Abstreifen der Begriffe „Ordnung und Unordnung" in seinen Grundlagen erschüttert sein mag. In diesem selben Zusammenhang hat Spinoza das stolze, in seiner Ruhe Alles niederbeugende Wort gesprochen: „Das Fragen nach Absichten in der Natur, d. h. nach Zweckursachen und den Ursachen der Ursachen, müsse schließlich immer zurückflüchten zu einem Willen Gottes, diesem Asyl der Unwissenheit (ad ignorantiae asylum)", wobei zu beachten ist, daß Spinoza hier unter Ignoranz fast ohne Bosheit die Tatsache des Nichtwissens versteht.
In diesem selben Zusammenhange klagt nun Spinoza, der Glaube an Zweck-[98/99]ursachen (und an das, was drum und dran hängt) hätte für sich allein hingereicht, der Menschheit die wahre Einsicht für immer zu verschließen; da habe glücklicherweise die Mathematik, welche sich nicht um Zweckursachen, sondern um das Wesen und die Eigenschaften der Raumgestaltung kümmert, den Menschen eine andere Norm der Wahrheit gezeigt.
Hier nun scheint mir die fast übermenschliche Anschauung für einen Augenblick entschleiert zu werden, die den Spinoza unbewußt zu seinem mathematischen Denken führte. Tief im menschlichen Wesen begründet, in dem Schein seiner Willensfreiheit nämlich, ist seine Sehnsucht nach einer Absicht in der Natur, nach einem Gott. So grausam, ein solcher Moloch ist diese Täuschung in uns, daß auch Darwin sie nicht völlig überwunden hat. Ja, ich scheue mich nicht es auszusprechen: dieser Glaube, diese Sehnsucht an eine Absicht in der Natur ist in uns unzerstörbar, die Absicht in der Natur ist in den Menschen eine ange-[99/100]borene Idee, was ich deshalb ruhig sagen kann, weil ich dazu behaupte, daß Ideen oder Begriffe darum nicht wahr sein müssen, weil sie angeboren sind. Angeborene, d. h. ererbte Ideen sind falsch, wie jemand eine Truhe mit falschem Gelde erben kann, oder einst vollwertiges Geld erben, das inzwischen entwertet worden ist.
Niemand hat wie Spinoza diese „angeborene" Idee bekämpft, und wenn er in diesem Kampfe nach der mathematischen Methode griff, so hatte er dabei vielleicht den folgenden Gedankengang: In der ganzen Mathematik gibt es sicherlich keine Zweckursache. Hätte Spinoza seinen Scharfsinn an die Erkenntnistheorie gewandt, er hätte aus der Umkehrbarkeit aller solchen mathematischen Sätze die Ahnung schöpfen müssen, daß auch der Begriff Ursache, logische Ursache, für solche Wechselbeziehungen ein sinnleeres Wort sei. Ihm aber war es in genialer Einseitigkeit bloß um die Vernichtung der Zweckursachen zu tun. Da konnte er den Gedanken fassen, daß [100/101] Zweckursachen - wenn sie schon in umkehrbaren mathematischen Sätzen ausgeschlossen sind - noch sinnloser sein müssen in der Ursächlichkeit des Wirklichen, weil diese Ursächlichkeit sich in der Zeit vollzieht und sich daher nicht umkehren läßt. Auch wo wir die Zeitfolge nicht wahrnehmen, in der Wirklichkeitswelt, nehmen wir sie doch unbedingt an. Wenn wir den Hahn am Gewehr berühren und im selben Augenblick der Schuß kracht, so „wissen" wir dennoch, daß nacheinander, in der Zeitfolge also, die schnappende Eisenspitze das Zündhütchen getroffen, der Funke das Pulver entflammt und das Pulvergas die Kugel herausgetrieben hat. Ist nun in der umkehrbaren Beziehungsfolge der Raumverhältnisse der Zweckbegriff nicht unterzubringen, um wieviel weniger in der Zeitfolge der Wirklichkeitswelt, wo doch unentwurzelbar die Ursache der Vergangenheit angehört, der Zweck aber etwas Zukünftiges sein müßte. Dieses konnte nach Spinoza die mathematische Methode lehren. Aber vielleicht noch mehr. [101/102]
Die mathematischen Gesetze sind ewige Gesetze, weil sie zeitlos sind. Spinoza liebt den Gedanken, daß auch die Gesetze der Wirklichkeitswelt ewig seien, daß man jede Einzelerscheinung unter dem Gesichtspunkte der Zeitlosigkeit betrachten müsse. Wie nun, wenn auch die Wirklichkeitswelt, das Wirken aller Körper aufeinander in tiefstem Grunde zeitlos wäre? Umkehrbar wie die Geometrie und darum zeitlos? Wie wenn die Geometrie durch diesen Gedanken die arme Menschheit von dem Wahnsinn der Zweckursachen befreien könnte?
So mag Spinoza Unsagbares geahnt haben. Aber er vergaß dabei - wie ich es eben vergessen mußte - daß die Worte der menschlichen Sprache Zeitloses nicht ausdrücken können, daß unsere Worte Zeichen sind, Erinnerungszeichen unserer Empfindungen, immer nur Erinnerungszeichen für das, was uns erscheint, daß also keine menschliche Sprache sich losreißen kann von dem Widerhaken der Zeitfolge und der Ur-[102/103]sache, mit dem die Wirklichkeitswelt unser Gehirn hinter sich herreißt. Und der Begriff der Ursache ist zuletzt nicht wirklicher als der Begriff der Zweckursache; nur daß wir es nicht sagen können, weil wir die Umkehrbarkeit der sogenannten Zeitfolge nicht fassen können.
Kaum die dunkle Ahnung kann ich hinzufügen: daß die Absichten in unserm sogenannten Selbstbewußtsein - die wir so gern auf die Natur übertragen, und die in uns den Schein der Willensfreiheit erzeugen - sich vielleicht doch als zeitlos erkennen lassen, wenn wir sie als gedachte Zwecke erkennen, also als dasselbe, was auch die andern Vorstellungen sind. Wenn wir begreifen, daß der Ablauf unseres ganzen Lebens nur ein Auf und Ab auf den ausgefahrenen Gleisen unserer Nerven ist, daß unsere Vorstellungen wie unsere Willensbewegungen nur einander aufhebende Nervenzuckungen in umgekehrter und vielleicht umkehrbarer Richtung sind, daß - wie schon Spinoza gelehrt hat - Wille und Vorstellung eins ist, dann werden wir [103/104] wohl den Gedanken, mit lächelnder Trauer ihn umarmend, festhalten können: Wie unsere eigenen Absichten doch nur Erinnerungen sind, unsere künftigen Zwecke also etwas Vergangenes, so ist unser Leben zeitlos, zeitlos die Wirklichkeitswelt.
Und so steht hinter dem großen Irrtum Spinozas, seine Sprache einer mathematischen Anwendung fähig zu halten, eine noch größere Ahnung dessen, was wir in unserer bettlerfrechen Sprache Wahrheit nennen.
[104/105]


VII.



Spinoza wurde so durch seine Theorie der Erkenntnis, weil der letzte Zweifel fehlte, weil er die mathematischen Wahrheiten (wie ja auch noch Kant) für belehrende, synthetisch belehrende Kenntnisse nahm und weil er an der Existenz der höchsten Essentien oder Begriffshülsen festhielt, - Spinoza wurde so zu der unfruchtbaren Darstellung seiner Lehre verlockt. Aber den unerhört tiefen Blick in das eiserne Räderwerk der Natur zu tun, hinderte ihn keine Theorie; und in den genialsten Aperçus hat er der Folgezeit den Weg gewiesen. Sogar über seinen unerkennbaren Gott sagt er einmal (und verrät damit ahnungsvoll eine köstliche Verachtung der Sprache): es wundre ihn nicht, daß man dem Deus gern menschliche Eigenschaften andichte; „denn ich glaube, daß ein Dreieck, wenn es sprechen könnte, [105/106] ebenso sagen würde, Gott sei hervorragend dreieckig, daß ein Kreis sagen würde, Gott sei hervorragend rund" (56., nach früherer Zählung 60. Brief).
Dieser Ausspruch mit seinem übermütigen „hervorragend dreieckig" (Deum eminenter triangularem esse) ist weder von Kant noch auch von Feuerbach überboten worden; er ist nur zu begreifen, wenn wir annehmen, Spinoza habe den unscheinbaren Zwischensatz „wenn das Dreieck sprechen könnte" in seiner ganzen Ironie gefaßt. Wir Menschen sind Dreiecke, die sprechen können; Naturwesen, die so wenig imstande sind, ihre Notwendigkeit anders als durch Worte zu begreifen, daß wir dieser Notwendigkeit selbst menschensprachliche, also menschliche Eigenschaften andichten.
Zur klaren Schärfe ist Spinoza in der Frage der Sprache leider nicht gelangt. Es ist vorhin gesagt worden, daß er drei Stufen der Erkenntnis unterschied, daß nach ihm die erste Stufe, die der Begriffe oder Universalien, zum Irrtum führte, die [106/107] zweite aber erst zu einer Art Wahrheit; ich habe das „Gemeinsame" dieser zweiten Stufe in den Gesetzen der Natur zu finden geglaubt, aber Spinoza - der unter den Rabbinern ebenso eifrig Naturwissenschaften trieb, wie Descartes unter den Jesuiten - vermeidet das Wort, und läßt die Möglichkeit offen, auch bei der zweiten Stufe an Begriffe, an seine unerklärten adäquaten Begriff e zu denken. Mir aber scheint es gewiß, daß seine ganze Darstellung zu dem Schlusse führen muß und auch ihn selbst führen mußte, die von der Wirklichkeitswelt abstrahierten Begriffe sind es, unser Denken also ist es, was uns verwirrt, was uns irreführt, was unsere Vorstellungen fälscht. Unsere Irrtümer kommen von den Worten her, „wenn wir uns nicht außerordentlich vor ihnen in acht nehmen,"
Für diese Stellung Spinozas und dafür, daß ich mich auf ihn bei meinen sprachkritischen Nachforschungen als einen Eideshelfer berufen kann, finde ich einen Beweis in der Art, wie er zuver-[107/108]lässig den Sprachgebrauch der Scholastiker verläßt oder gar verächtlich fortschiebt, wo seine Weltanschauung klar und fest ist. Wofür das größte Beispiel seine Leugnung der Willensfreiheit ist, eben sein sieghafter Gedanke von der Lückenlosigkeit der Kausalität, ich möchte fast sagen, von der Undurchdringlichkeit der notwendigen Kette der Natur. Schopenhauer hat 200 Jahre später ein geistreicheres Buch über die Unfreiheit des Willens geschrieben; der Beweis ist bei Schopenhauer ebenso scholastisch, weil von der Apriorität des Kausalitätsbegriffs ausgegangen, also eigentlich gar nichts bewiesen wird; und in der Kritik des Willenbegriffs selbst, also des Wortes „Wille", bleibt Spinoza unerreicht.
Ihm ist es gewiß, daß unsere Begriffe nur verworrene Bilder der Wirklichkeitswelt sind; die verworrensten sind natürlich die allgemeinsten, abstraktesten Begriffe, und wenn er also die berühmten Universalien (Begriffe) schon als für die Erkenntnis unbrauchbar denunziert, so [108/109] kann er mit den transzendentalen Kunstausdrücken (termini transcendentales dicti) noch weniger anfangen. Als Beispiele solcher transzendentalen Kunstausdrücke, d. h. solcher Worte, welche über die Erfahrung hinausgehen oder vielmehr den Zusammenhang mit der Anschauung verloren haben, als Beispiele nennt er zunächst nur drei: Wesen, Ding, Etwas (Ens, res, aliquid). Aber er läßt keinen Zweifel darüber, daß ihm auch andere höchst abstrakte Worte zu der Gattung solcher unnützen Lufterschütterungen gehören. „In der Seele gibt es keinen unabhängigen oder freien Willen sagt er an der Spitze des Paragraphen; er beweist es logisch, also schlecht; dann aber fügt er hinzu, ebenso könne man beweisen (ebenso behauptete er also), daß es in der Seele keine unabhängige Fähigkeit des Denkens, des Begehrens, des Liebens usw. gebe. Also seien alle diese Begriffe Einbildungen oder bloße Worte, so sehr, daß ein „Verstand" oder ein „Wille" sich zu unsern wirklichen einzelnen Vorstel-[109/110]lungen oder einzelnen Willensakten verhalten, wie der Begriff der „Steinität" (Lapideitas) zu einzelnen Steinen, der Begriff „Mensch" zu Peter und Paul.
Die Bedeutsamkeit dieser Stelle leuchtet ein. Spinoza erhob sich da über seine eigene Sprache und vermochte so, indem er überhaupt die Existenz eines „Willens" beiseite schob, die Unfreiheit der menschlichen Willensakte fester anzuschauen, als 200 Jahre später sein Kritiker Schopenhauer - wie Spinoza auch durch die Auflösung des Begriffs der Vollkommenheit, also durch Streichung dieses Wortes, Kants spätere Kritik der Beweise für das Dasein Gottes überflüssig machte, wie er von Rechts wegen auch der Existenz der 2000 Jahre alten „Ideen" Platons für jeden Philosophen hätte ein Ende gemacht haben müssen. Er war der einzige Denker, der Ernst machte mit dem Begriff der Notwendigkeit; und wenn es bei den Alten eine Unklarheit war, daß sie ihre Götter unter eine über ihnen stehende Ananke, unter das Fatum beugten, wenn es bei Schiller und seinen Mit-[110/111]strebenden ein Spiel des Geistes war, sobald sie von einem allherrschenden Schicksal (über Göttern und Menschen) sprachen, so war Spinozas Deus wirklich unfrei, wie er verstandlos war, weil dieser Deus oder Natura ernsthaft und wirklich ohne Zwecke gedacht wurde. Der Begriff des Zweckes widerspricht schnurstracks dem ernst genommenen Begriff der Notwendigkeit oder Kausalität. So gehört bei Spinoza der „Zweck", der „Wille", der „Verstand" so gut wie „Wesen , „Ding" zu den „Transzendentalen", zu den Hülsen ohne Inhalt, zu den bloßen Worten, die unfruchtbar sind für die menschliche Erkenntnis.
Spinoza war in diesen Einsichten doch nicht ganz konsequent. Er konnte seinem System zuliebe ganz zuversichtlich von denselben transzendentalen Worten darauf losreden, konnte von den Attributen seines Deus erzählen, als ob er mit ihm und ihnen einen Scheffel Salz gegessen hätte, dann aber konnte er wieder zu verstehen geben, daß die Attribute der obersten Substanz nur in unsrem Denken (d. h. für [111/112] uns in der Sprache) zu finden seien und in dem 9. (nach früherer Zählung 27.) Briefe an einen strebsamen, treuen, jungen Verehrer konnte er gar lachend (es ist gewiß etwas Scherz mit dabei) die Erklärung beifügen: man könnte sich ganz gut eine Substanz unter zwei Bezeichnungen oder Namen (d. h. Worten) denken, wie ja auch der dritte Patriarch sowohl Jakob als Israel geheißen habe. Worte, Worte, Worte sind ihm die verehrungswürdigsten Begriffe, und einmal erkennt er sogar Verstand und Wille für zwei Worte, die nur ein und dasselbe besagen; Verstand und Wille sind Jakob und Israel. Insbesondere der Wille (voluntas) ist nichts und nicht mehr als die einzelnen Willensakte (volitiones).
So löst Spinoza allein die Frage nach der Willensfreiheit, indem er die Worte ihres Sinnes entkleidet. Wie das Dreieck, wenn es sprechen könnte, sich seinen Gott hervorragend dreieckig. höchst dreieckig denken müßte, so würde der geworfene Stein, wenn er denken könnte, [112/113] von seinem Entschlusse, seiner Freiheit, durch die Luft zu fliegen, sprechen.
Überall da, wo sein System ihn nicht scholastisch machte, verzichtete Spinoza auf den Gebrauch von transzendentalen Begriffen. Ihm waren die handelnden Menschen dem Schein der Freiheit unterworfen, wie der geworfene Stein; und wie dem Scheine der Willensfreiheit, so dem Scheine aller andern Ideen oder ideale. Denn das darf nicht verschwiegen werden, daß der Selbstdenker Spinoza die Platonischen Ideen, die unser Ideal geworden sind - wie wir schon bei den Begriffen „gut" und „schön" gesehen haben - nicht anerkannte.
Denn hinter ihm im wesenlosen Scheine lag, was uns alle bändigt, - das „Ideal". Er hat sein Hauptwerk nach dem Beispiel seines Vorgängers Geulinx (nachträglich) Ethik genannt, canis a non canendo. In seiner undurchbrechlichen Kette der Notwendigkeit hat das „Sollen" so wenig Platz wie das „Wollen". Er stellt keine Ideale auf; ganz anders als bei Hegel ist alles vollkommen, was ist; [113/114] es ist vollkommen, weil es nicht anders sein kann, als es ist. So kennt Spinoza auch in seiner Staatslehre keine knechtenden Worte; er glaubt nicht an einen Idealstaat (wie vor ihm Hobbes), nicht an einen Idealmenschen (wie nach ihm Rousseau); und die mächtigen Utopisten der Gegenwart, die Kommunisten, können sich darum nicht auf Spinoza berufen.
Seine Ethik predigt keine Moral. Außer sich findet der Mensch dieselbe Notwendigkeit wie in seinem Innern. Nur Freudigkeit erzeugt die Erkenntnis von Deus oder der Natur, nicht das Bewußtsein eines äußeren Gebots. Und in sich selbst findet Spinoza nicht, was man ein Gewissen genannt hat; er kennt es nicht. Mit einer Überlegenheit, für deren volles Verständnis wir vielleicht heute noch nicht ganz reif sind, geht er in dem ruhigen Abschnitt „von den Leidenschaften" über das Gewissen hinweg. Alles führt er auf Schmerz und Freude, also auf unsere Natur zurück. Gegenwart und Zukunft werden eins vor seinem Blick. Freudiges [114/115] erwarten heißt hoffen, Trauriges erwarten heißt fürchten. Ein Gaudium ist es, wenn das erwartete Traurige nicht eingetroffen ist, wenn die Furcht unbegründet war; wenn aber die Hoffnung unbegründet war, „wenn wir uns blamiert haben", so empfinden wir - Gewissensbisse.
Wer über diese Worte erschrickt, wer es nicht für möglich hält, daß Spinoza wirklich diesen Ärger als Gewissensbiß aufgefaßt haben kann, der ist wohl noch nicht sehend für den Stern Spinoza, noch nicht reif für seine Lehre von dem Unwert der Worte. [115/116]


VIII.



Die postume Geschichte des Spinozismus, die Geschichte also seiner Wirkung auf das Geistesleben Europas, ist ein neuer Beleg dafür, daß bei Spinoza ganz besonders zwischen der genialen, intuitiven, bildlich wahren Weltanschauung, dem gewaltigen Aperçu, und dann der schwerfälligen, diskursiven, unverdaulichen Form, dem hilflosen Wort, zu unterscheiden sei. Ich kehre zurück zu der Darstellung der Geltung Spinozas, von der ich ausgegangen bin.
Daß man nämlich noch vor etwas mehr als 140 Jahren von Spinoza allgemein verächtlich geredet hat, ist wohl gewiß zurückzuführen auf den Einfluß des großen Dictionnaire historique et critique von Pierre Bayle. Dieser bedeutende Mann war bei aller historischen Gelehrsamkeit und aller skeptischen Kritik, bei allem Geist und allem Freimut [116/117] doch dadurch eine mittelalterliche, eine unmoderne Gestalt, daß er für die neuen Lebenskeime kein Verständnis besaß, so tapfer er auch Sterbendem den Gnadenstoß gab. Zieht man von Lessing ab, was in ihm dichterisch und ahnungsvoll zu Goethe führt, und zieht man weiter manches ab, was uns teuer ist, so bleibt etwas Pierre Bayle noch übrig.
Trotzdem ist der Haß Bayles gegen seinen großen Zeitgenossen (4 Jahre nur nach Spinozas Tode und dem Erscheinen der Ethik wurde Bayle Professor in Rotterdam) nur schwer verständlich. Ein Haß liegt vor. Der mächtige Skeptiker, dem sonst so gern die leichte Ironie zur Verfügung steht, gebraucht gegen den atheistischen Juden die stärksten Ausdrücke. Er nennt sogar den theologisch-politischen Traktat, den man doch die Bibel von Bayles eigenem Lebenskampf um die Denkfreiheit nennen könnte, ein livre pernicieux et détestable; er wirft in seiner geistreich-spielenden Weise Spinoza wirklich zu den Toten und sagt: Il n`est pas vrai que [117/118] ses Sectateurs (seine Schüler) soient en grand nombre. Très peu de personnes sont soupconnées d'adhérer à sa doctrine; et parmi ceux que l'on en soupconne, il y en a peu qui l'aient étudiée; et entre ceux-ci il y en a peu qui l'aient comprise et qui n'aient été rebutés des embarras et des abstractions impénétrables, qui s'y rencontrent.
Dieser Haß ist nicht mit dem gewöhnlichen Widerwillen der Halben gegen die Ganzen zu erklären; denn Bayle war in seiner Art kein Halber, und er sah vor allem nicht in Spinoza den Ganzen. Darin aber, daß er das nicht sah, daß er den Spinoza nicht verstand, liegt die Erklärung. Er hielt sich an die Worte des Philosophen und verstand die neuen Fragen des Mannes nicht. Als ob er nur die schwächsten Sätze des Spinoza gelesen, als ob er sich nur um den schrecklichen methodischen Aufbau und die Beweise gekümmert hätte, nennt er das „System" la plus monstrueuse Hypothese qui se puisse imaginer, la plus absurde et la plus diamétralement opposée aux notions les [118/119] plus évidentes de notre esprit. Und er verteidigt sogar den Deus gegen Spinoza. Was die heidnischen Dichter Infames gesungen hätten gegen Jupiter und Venus, reiche noch nicht heran an die furchtbare Vorstellung, die Spinoza uns von Gott gebe; denn im Altertum habe man den Göttern doch nicht alle Verbrechen und Schwächen zugeschrieben, nach Spinoza sei nichts auf der Welt handelnd oder leidend als der Deus, auf ihn beziehe sich aller Schmerz und alle Schuld, alles physische und moralische übel. Wenn Gott und die Welt nur eines sei, alles in Gott, dann sei es ein falscher Satz, wenn man sagt: „Die Deutschen haben 10 000 Türken erschlagen" - außer man verstehe darunter den Sinn: „Gott in Gestalt von Deutschen habe Gott in Gestalt von 10 000 Türken erschlagen." Bayle kann so wenig von der Vorstellung eines persönlichen Gottes loskommen, daß er eben gar nicht merkt, wie gut er durch die beabsichtigte Parodie gerade den Gedanken Spinozas trifft. Alle spöttisch gemeinten Beispiele Bayles treffen zu. Jawohl, so [119/120] hat es Spinoza verstanden. Gott betet zu sich selbst, Gott verweigert sich die Bitte, er verfolgt sich, er ißt sich, er schickt sich aufs Schafott. Und die Beispiele sind um so besser, als sie deutlich zeigen, wie Spinozas Deus an der Sprache scheitern mußte, die ihn ganz pöbelhaft, ganz individuell, also mit Willen und Verstand begabt zu denken nicht umhin konnte.
Es ist dem Pierre Bayle sofort gesagt worden, daß er Spinoza nicht verstanden habe, und seine Antwort darauf klammert sich erst recht an Worte; und wie da seine Kritik im einzelnen gewiß recht behalten wird, so ist sie im großen unzulänglich, rückständig. Es läuft darauf hinaus, daß Bayle sich unter den Spinozistischen Begriffen „Substanz" und „Modus" nichts Deutliches hat denken können, womit er wohl leider recht hat, wobei er aber übersieht, daß man Spinozas heitern Einblick und Eintritt in die morallose Notwendigkeit der Welt verstehen kann, ohne sich um die Definitionen von Substanz und Modus zu bekümmern. Und so [120/121] endet Bayles Klage und Anklage mit den tragikomischen Worten: Si l'on n'entend pas ce qu'il veut dire par là (daß Gott nämlich die einzige Substanz und alle andern Wesen seine Modifikationen seien) c'est sans doute parcequ'il a joint aux mots une signification toute nouvelle sans, en avertir ses lecteurs. Wie alle Entdecker neuer Ideen tun und tun müssen, füge ich hinzu.
Ich möchte nicht unterdrücken, was ich schon einmal („Geschichte des Atheismus" II. S. 303) auszuführen gesucht habe, daß der Skeptiker Bayle allerdings den vermeintlichen Dogmatiker Spinoza bekämpfen zu müssen glaubte, daß aber der schlimme Artikel „Spinoza" doch der Tendenz des großen Wörterbuchs nicht durchaus widersprach. Bayle warnte ehrlich vor dem, was ihm an Spinoza zu metaphysisch erscheinen mußte; aber als Vorkämpfer für Toleranz und Gedankenfreiheit bewährte er sich auch da, offen oder versteckt, wo er als Gegner des Juden von Amsterdam auftritt. Offen nimmt er die Partei Spinozas, wo er im Texte das [121/122] Leben des Philosophen erzählt und seinem Charakter volle Gerechtigkeit widerfahren läßt. Versteckt und vorsichtig deutet Bayle an, namentlich in der Anmerkung O, daß die Widersprüche und Schwierigkeiten im Systeme Spinozas nicht größer seien als in dem der christlichen Theologie, daß also eigentlich die gemeine Meinung oder die christliche Hypothese nur aus praktischen Gründen vorzuziehen sei; und am Ende wäre ein philosophisches System vorzuziehen, wenn seine Widersprüche geringer wären als die der Theologie. Dazu kommt, daß wir in die Ausfälle Bayles gegen den Pantheismus Spinozas fast überall Bosheiten gegen Geheimnisse und Dogmen der christlichen Religion hineinlesen können. Alles in allem hat der unglückliche Spinoza-Artikel Bayles den Feinden Spinozas manche Waffe geliefert, aber doch zur Verbreitung und zum Ruhme Spinozas mächtig beigetragen. Durch Bayle hat wahrscheinlich auch Goethe seinen Spinoza zuerst kennen gelernt; die kurzen Angaben im „kleinen Brucker", den [122/123] er als Knabe gelesen hatte, wird er inzwischen wieder vergessen haben,
Diese Stellung Bayles zu Spinoza und den ungeheuren Einfluß Bayles auf ein ganzes Jahrhundert muß man vor Augen haben, um jetzt zu verstehen, wie Spinoza in Deutschland wieder auferstand, wie die drei, wahren Führer des neuen deutschen Geistes, wie Lessing, Herder und Goethe sich zu Spinoza bekannten, wie Moses Mendelssohn - damit auch hier die Tragikomödie nicht fehle - nach der innerlich doch wahren, von Goethe selbst geglaubten Legende vor Schrecken über Lessings Spinozismus starb und wie von Deutschland aus Spinoza auch Frankreich gewann, um endlich von Schelling und Hegel in seinen Fehlern übertroffen, in seiner Hoheit nachgeäfft zu werden.
Ich setze als bekannt voraus, daß Fritz Jacobi, Goethes Freund, nach dem Tode Lessings zuerst einen kleinen Kreis, dann ganz Deutschland mit der Mitteilung überraschte, Lessing sei Spinozist gewesen, daß jenes Gespräch (zwischen Jacobi und Lessing) zu köstlich Les-[123/124]singsch ist, um nicht Silbe für Silbe echt zu sein, daß Moses Mendelssohn, der schon als Jude auf diese Entdeckung hätte stolz sein müssen, in seiner Erklärung „An die Freunde Lessings" (1786, nach Mendelssohns Tode erschienen, im Jahr von Goethes italienischer Reise) zunächst seine Unkenntnis Spinozas, sodann seinen durchaus subalternen Sinn und endlich seine relative Albernheit bewies, ich setze ferner als bekannt voraus, daß Goethe durch alle diese Vorgänge sofort und später zu reichen Mitteilungen über sein Verhältnis zu Spinoza veranlaßt wurde.*)
Ein Gedicht Goethes, „Prometheus", hatte die Lessingschen Äußerungen und so den ganzen Aufruhr veranlaßt; Mendelssohn hatte auch nicht verfehlt, das

*) Ich habe diesen Streit um Lessings Spinozismus darzustellen gesucht, zuerst in meiner „Kritik der Sprache" (I. Band, 3. Aufl., S. 354), dann ausführlicher in meiner Einleitung zu einem Neudruck von „Jacobis SpinozaBüchlein" (Georg Müller Verlag 1912). Hier mag man nachlesen, wie schwach, eitel und geschwätzig der kleine Jacobi das unschätzbare Gespräch mit dem großen Lessing vortrug, wie klein und eitel der Kampf zwischen Jacobi und Mendelssohn begonnen und weitergeführt [124/125]


Gedicht, da er den Verfasser nicht kannte, für eine Armseligkeit zu erklären, die Lessing wohl unmöglich gelobt haben könnte. Aber nicht just dieses Gedicht war spinozistisch, Goethe war es durch und durch. Als junger Mann war er ja durch Bayle auf Spinoza aufmerksam gemacht worden; sofort hatte ihn die Einheit von Gott und Natur tief ergriffen und vielleicht hatte es ihm eine der gelehrten Notizen angetan, in der von einem Epikureer (?) Alexander erzählt wird, er habe die Dinge der Welt, die Formen, die Erscheinungen mit dem Peplon, mit dem Kleide der Gottheit verglichen. (.."wirke der Gottheit lebendiges Kleid.") Durch Jacobi, dann durch Herder und endlich durch die geliebte Frau von Stein ließ er sich zu einem tiefern Eindringen in Spinoza verlocken und von da ab bleibt Spi-

[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 124] wurde, wie Hamann, an Körper und Geist schon zerbrochen, sich einmischte, wie der bevorstehende Tod Friedrichs des Großen den Mut auch eines Kant dämpfte, wie eigentlich alle Beteiligten für das Heidentum Spinozas Stellung nahmen, gegen ein positives Christentum. Die Gegner Herder und Kant verteidigten übrigens, in geistigem Egoismus, ihre eigenen Ideen, ein jeder die seine, wenn sie sich gegen den uneigennützigen Spinoza erklärten. [125/126]


noza sein Leitstern. In welchen Fragen? Als alter Herr hat Goethe einmal an Zelter geschrieben, die Männer, die den stärksten Einfluß auf ihn genommen hätten, seien Shakespeare, Spinoza und Linné gewesen. Es ist klar, daß der Dichter sich Shakespeare, der Naturforscher Linné verpflichtet fühlte. Worin war er ein Schüler Spinozas? Ein Philosoph wollte er niemals sein und die Form der „Ethik" mußte ihm widerstreben, wie er das Werk denn auch niemals im Zusammenhang „studiert" hat.*) Auch seine Re-

*) Ein noch deutscherer Deutscher als Goethe darf in ähnlicher Weise als freier Schüler Spinozas angesprochen werden, Fürst Bismarck, der von seinem Dämon getriebene Realpolitiker. Darauf haben schon die Geschichtsschreiber Meinecke und Marcks und (in einer besonderen Schrift) der Staatsrechtler Rosin hingewiesen. Man würde zu weit gehen, wollte man die zahlreichen Anklänge, die in Bismarcks Reden an Worte Spinozas erinnern, für bewußte Anlehnungen erklären; sehr wahrscheinlich aber ist es, daß der sogenannte Kulturkampf, der wirklich wie eine Idee aus dem 17. Jahrhundert erschien und darum fehlschlug, auf alte Vorstellungen von der Übermacht des Staates über die Kirche zurückging, wie sie von Hobbes und noch entschiedener von Spinoza gelehrt wurde. Von den vielen Zeugnissen aus Bismarcks Reden und Briefen führe ich nur eines an, das aus dem merkwürdigen Werbebrief um seine Frau Johanna; es ist vom Ende [126/127]

ligion, im Sinne eines gemeinsamen Glaubensbekenntnisses, suchte Goethe nicht bei Spinoza. Im Rausche der Neuentdeckung konnte Dalberg an Herder schreiben, „Spinoza und Christus, nur in diesen beiden liegt reine Gotteserkenntnis", konnte Lichtenberg sagen: „Wenn die Welt noch eine unzählbare Zahl von Jahren steht, so wird die Universalreligion geläuterter Spinozismus sein", konnte Hegel den Satz wagen: „Entweder Spinozismus oder keine Philosophie". So unfreier Enthusiasmus (bei Lichtenberg sehr merkwürdig) war Goethes Sache nicht. Worin war er ein Spinozist?
Der Einfluß Spinozas auf ihn ist un-

[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 126] Dezember 1846, köstlich in seiner Vereinigung von inniger Offenheit und Schlauheit; er redet viel von Gott und von der möglichen Kraft des Gebets, verschleiert aber durchaus nicht, daß der Werber seit seiner Konfirmation ein Unchrist war, ein Deist, ein Pantheist, daß erst seit zwei Monaten die „Gnade" des Glaubens ihm nahe gekommen ist. Der Spinozist Schleiermacher hatte ihn ja eingesegnet. Einmal verrät sich sogar, daß er sich einst die Spinoza-Deutung Bayles zu eigen gemacht hatte: er habe nicht beten können, weil der allgegenwärtige Gott (wenn Bismarck bete) gewissermaßen zu Sich Selbst bete (die großen Anfangsbuchstaben sollten dem pietistisch frommen Herrn von Puttkammer wohl schmeicheln). Dann aber heißt es [127/128]

geheuer; es wäre eine gute Seminararbeit, diesen Einfluß einmal im einzelnen nachzuweisen, im Faust, in der Lebensbeschreibung und vor allem in der Lebenshaltung. Auch an Huldigungen für Spinoza fehlt es nicht. In den zahmen Xenien nennt er ihn den Philosophen, dem er zumeist vertraue. Das unvergleichliche Gedicht „Prometheus", das den ganzen Götterbrand um Spinoza entfachte, ist ein Bekenntnis zum rebellischen Atheismus, noch unabhängig von Spinoza; und das herrliche „Fragment über die Natur" (von 1782) mag wirklich nur indirekt von Spinoza, direkt von Shaftesbury beeinflußt sein, obgleich

[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 127] ausdrücklich: In der Studienzeit „waren es Philosophen des Altertums, unverstandene Hegelsche Schriften, und vor allem Spinozas anscheinend mathematische Klarheit, in denen ich Beruhigung über das suchte, was menschlichem Verstande nicht faßlich ist". - Es reizt mich, neben Goethe und Bismarck auch den dritten Deutschen zu, nennen; natürlich konnte Luther nichts von Spinoza ,wissen; aber auch Luther, in seiner schönen und starken Jugend, kam von dem ketzerischen Pantheismus her, der in der „Theologia deutsch" steckte, wie überall in den Schriften der deutschen Mystik. Erst später verfing sich der realpolitische Reformator in dem Drahtverhau der Dogmen, die er wahrlich nicht reformierte. [128/129]

man da gerade regelmäßig „Gott" an die Stelle von „Natur" setzen könnte; aber die (etwa 1784 der Frau von Stein diktierte) „Philosophische Studie" ist zugleich eine zustimmende Deutung Spinozas und eine stolze Absage an die Einfältigkeit der christelnden Freunde Lavater und Jacobi. Da er später sich vom Geiste Jacobis, dessen Herz er liebt, für ewig entfernen muß, schreibt er (1811) in seine strengen „Annalen": er rettete sich zu seinem alten Asyl, zu Spinozas Ethik. Im dritten und vierten Buche von „Dichtung und Wahrheit" ist und bleibt Spinoza der „Heilige", zu dem Goethe aufblickt. Goethe selbst hält den ethischen Einfluß Spinozas für überwältigend, die - ich wiederhole es - grenzenlose Uneigennützigkeit, die aus jedem Satze hervorleuchte. Wie schon bei Bayle die Beschimpfung des Denkers neben der Anerkennung des „Partikuliers" Spinoza Goethes Mißtrauen erweckt hat, so geht ihm die Lehre des Amsterdamer Juden zunächst durch seinen Charakter auf. In dem schönen Eingang des vierten Buches [129/130] von „Dichtung und Wahrheit" hat Goethe am klarsten ausgesprochen, wie er sich durch Spinoza habe in allem Handeln bestimmen lassen. Jeder kluge Mensch habe noch zuletzt ausgerufen, daß alles eitel sei, „Nur wenige Menschen gibt es, die solche unerträgliche Empfindung vorausahnen und, um allen partiellen Resignationen auszuweichen, sich ein für allemal im ganzen resignieren. Diese überzeugen sich von dem Ewigen, Notwendigen, Gesetzlichen und suchen sich solche Begriffe zu bilden, welche unverwüstlich sind, ja, durch die Betrachtung des Vergänglichen nicht aufgehoben, sondern vielmehr bestätigt werden. Weil aber hierin wirklich etwas übermenschliches liegt, so werden solche Personen gewöhnlich für Unmenschen gehalten, für Gott- und Weltlose, ja, man weiß nicht, was man ihnen alles für Hörner und Klauen andichten soll ... Denke man aber nicht, daß ich seine (Spinozas) Schriften hätte unterschreiben und mich dazu buchstäblich hätte bekennen mögen. Denn daß niemand den [130/131] andern versteht, daß keiner bei denselben Worten dasselbe was der andre versteht, daß keiner bei denselben Worten dasselbe was der andre denkt, daß ein Gespräch, eine Lektüre bei verschiedenen Personen verschiedene Gedankenfolgen aufregt, hatte ich schon allzu deutlich eingesehen und man wird dem Verfasser von ,Werther' und ,Faust' wohl zutrauen, daß er, von solchen Mißverständnissen tief durchdrungen, nicht selbst den Dünkel gehegt, einen Mann vollkommen zu verstehn, der als Schüler von Descartes durch mathematische und rabbinische Kultur sich zu dem Gipfel des Denkens emporgehoben, der bis auf den heutigen Tag noch das Ziel aller spekulativen Bemühungen zu sein scheint."
Da haben wir den Gegensatz zwischen Bayle und Goethe. Bayle macht dem Denker dessen Umwertung alter Begriff e zum bittern Vorwurf und versteht ihn nicht, weil er sich trotzdem an den Buchstaben hält; Goethe durchschaut die Wertlosigkeit überhaupt der Sprache [131/132] und versteht Spinoza eben darum, weil er sich nicht an den Wortlaut hält. Er ist ein Spinozist, aber nicht als ein Schüler, sondern als ein Verwandter. (E. Caro, „La philosophie de Goethe": Il est de sa famille bien plus que de son école.)
Wenn es die Ethik Spinozas allein gewesen wäre, was Goethe fürs Leben fesselte, warum brachte er den philosophischen Juden (in seinem Ahasver-Plan) in direkten Gegensatz zu Jesus Christus? Warum wurde Goethe ein „dezidierter Nichtchrist"? War „grenzenlose Uneigennützigkeit" nicht auch die Ethik Jesu Christi? Wollte Goethe sich nur von der Kirche befreien, warum dann sein Haß gegen das Kreuz selbst?
Weil Goethe eben die Ethik Spinozas nicht nur bewunderte, sondern in ihr weit mehr, als er sich logisch klarzumachen gewohnt war, eine Welterklärung fand. Spekulative Bemühungen waren nicht Goethes Sache; er verhielt sich ablehnend gegen Kant, so oft auch Schiller die Kategorien der reinen Vernunft anzu-[132/133]preisen suchte, er schob Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung" stillschweigend beiseite, trotzdem ihm der Verfasser nahestand. Er hatte sich bei der Weltanschauung Spinozas „beruhigt", er war bei ihr „stille" geworden, wie „Gott oder die Natur". „Sie ist weise und still."
Für die Behauptung, daß Goethe im Spinozismus das Aperçu seiner Weltanschauung gefunden hatte, daß er der Wiedererwecker Spinozas werden konnte, weil ihn das Wort nicht kümmerte, daß er aber im Spinozismus dennoch für Dichtung und Naturbetrachtung das ewige Licht sah, dafür hat er selbst kaum irgendwo einen stolzern, überlegenern und reinern Ausdruck gefunden, als in seinem Brief an Herder, aus Rom, vom 23. Oktober 1787 (Ital. Reise), „Ich habe immer mit stillem Lächeln zugesehen, wenn sie mich in methaphysischen [!] Gesprächen nicht für voll ansahen; da ich aber ein Künstler bin, so kann mir's gleich sein. Mir konnte vielmehr daran gelegen sein, daß das [133/134] Prinzipium verborgen bliebe, aus dem und durch das ich arbeite."
In metaphysischen Gesprächen hat Goethe oft gesagt, was ihm Spinoza geworden war. Als Künstler hat er die gewaltige Phantasie, den Besuch des Ewigen Juden bei Spinoza, leider nur gedacht, nicht gestaltet. Vielleicht ist etwas Ungeheures verloren gegangen: Spinoza in der deutschen Dichtung, unzerstörbar wie Faust. Vielleicht aber auch war die Phantasie nicht gestaltbar genug. Später haben deutsche Dichter jüdischer Rasse den Plan Goethes ausgeführt; Berthold Auerbach klein und beschämend, S. Heller mit geistiger Kraft ohne recht strömende Poesie, (Es gibt auch selbständige Spinoza-Romane; den von Kolbenheyer, „Amor Dei", wir erleben da viel von Spinozas Welt; den von Otto Hauser, ein fast christelndes Unterhaltungsbuch.)
Kostbar sind die wenigen Blätter, in denen Goethe sich doch - nachdem er an „guten Abenden" die Dinge mit Herders [134/135] und der geliebten Frau durchgesprochen hat - mit Spinoza metaphysisch auseinanderzusetzen[,] sucht.
Sie können uns lehren, wie hoch die führenden Geister jener Zeit über dem Literaturgebrodel unserer Tage standen. Mit Ehrfurcht und Sehnsucht muß 'man jener Tage gedenken. Nicht müde wird Goethe, in Spinoza wieder und wieder zu lesen, sich alles klar zu machen, nur um es der geliebten Frau einfach wie eine Blume vorzulegen, und nicht müde wird Charlotte, von dem geliebten Lehrer zu lernen. Man war besonders fleißig im Dezember 1784; die Handschrift von Jacobis Spinoza-Büchlein war kurz vorher in Weimar eingetroffen. Aber Goethe hat kein eigenes Exemplar des Spinoza; Herder schenkt das seine und sendet es den Liebenden am Christtage, am 25. Dezember, dem Geburtstage auch der Frau von Stein.*) Und der Generalsuperintendent

*) Darauf natürlich geht der anmutige Scherz, der sie eine Schwester des heiligen Christes nennt; es ist häßlich von Suphan, daß er es mit auf ihre Frömmigkeit bezieht. [135/136]

und Prediger Herder begleitet das Buch mit folgender Widmung:

Deinem und unsern Freund sollt heut den heiligen Spinoza
als ein Freundesgeschenk bringen der heilige Christ.
Doch wie kämen der heilige Christ und Spinoza zusammen?
welche vertrauliche Hand knüpfte die beiden in eins?
Schülerin des Spinoza und Schwester des heiligen Christes.
Dein geweiheter Tag knüpfet am besten das Band.
Reich ihm seinen Weisen, den du gefällig ihm machtest,
und Spinoza sei euch immer der heilige Christ.
[136/137]


IX.



In dem durch Jacobi heraufbeschworenen allgemeinen Streite um Spinoza, hatte sich auch Kant, durch den Tod Friedrichs des Großen ängstlich geworden, nicht mit Ruhm bedeckt. Es ist nicht anders, die Philosophen verbissen sich in die Sätze und Beweise des Systems von Spinoza und förderten nur logistischen Streit; die Dichter zuerst, die deutschen Dichter, die wir die klassischen nennen, versenkten sich, nachdem Lessing ihn wiederentdeckt hatte, in die ganz persönliche Weltanschauung des halbverschollenen Denkers, und Goethe wurde nicht so sehr zu seinem Schüler als zu seiner Reinkarnation. Auf dem besten, vielleicht dem einzigen echten Spinozabildnis, dem von Wolfenbüttel, blicken die großen, großen Augen ähnlich heraus wie auf dem Goethebildnis von Kügelgen, dem von 1810. Goethe dichtete und lebte, [137/138] was Spinoza gelebt und gelehrt hatte: die nichtchristliche, meinetwegen gegenchristliche Einheit oder Einigheit von Ich und Natur, dazu die Freude an dieser Einigheit, das Glücksgefühl des Heiden; die Abkehr von jedem sogenannten Pessimismus.
Es sind immerhin die Freiern unter uns, die sich jetzt mit Berufung auf Spinoza und Goethe, auf deren Gefühl von Einheit oder Einigheit, zu dem Monismus bekennen, als der für konfessionslose Menschen allein noch möglichen Weltanschauung. Ich habe vor Jahren (in meinem „Wörterbuch der Philosophie" II. S, 97 u. f.) diesen dogmatischen Monismus einer etwas zu herben Kritik unterzogen; ich will jetzt, weniger streng, die Gedanken jenes Aufsatzes zusammenfassen, um zu zeigen, was an der Lehre Spinozas auch für uns, nach 250 Jahren, noch ganz lebendig oder zukunftsreich ist. Denn wir haben die Einsichten Spinozas zwar in allen Einzelwisenschaften überholt, sein Weltgefühl aber noch nicht alle erreicht. [138/139]
Der Mensch, dieweil er lebt, hat den Instinkt, in der Umwelt nur Individuen zu erblicken, mit denen allein er es durch seine drei Motive des Hungers, der Liebe und der Eitelkeit zu tun hat; derselbe Mensch, dieweil er denkt, hat den entgegengesetzten Instinkt, nur die Begriffe für wahr zu halten, ja immer höhere und allgemeinere Begriffe zu bilden. So den Begriff des einen Gottes, der einen Substanz. Der alte Dualismus von Leib und Seele oder von Körper und Geist schien so durch ein Wort überwunden, durch den Monismus. Anstatt „Körper und Geist" konnte man auch „Natur und Verstand" sagen. Diesen Gegensatz, der die gleiche Erscheinung wie in zwei verschiedenen Sprachen ausdrückt, glaubte der Forscher Darwin ehrlich aus der Welt geschafft zu haben, da er die bewußten Zwecke aus der Natur ausschaltete, da er die „zweckmäßigen" Formen der Natur aus den Gesetzen der Vererbung und Anpassung erklärte, eine Entwicklung an die Stelle einer Schöpfung setzte. Unsere deutschen Monisten - Haeckel an der [139/140] Spitze - begingen den Fehler, aus den Hypothesen Darwins ein Dogma des Darwinismus zu machen; wir wissen jetzt, daß Darwins Entwicklungslehre nur eine Denkrichtung ist, keine Lösung der alten Rätsel, daß Haeckels dogmatischer Darwinismus sich verrannt hatte; aber es war doch schon eine Kulturtat, daß Darwin die Möglichkeit erkannt hatte, den Zweckbegriff aus der Natur wegzudenken: die Schöpfung nach einem Plane im Kopfe eines mit menschenähnlichem Verstande ausgestatteten Wesens. Haeckels Monismus war nicht weniger wortabergläubig als irgendeine abergläubige Theologie, er war dogmatischer Materialismus; und bei der Einigheit des Materialismus können wir uns nicht mehr beruhigen. Wir wissen von der Materie ebensowenig, im letzten Grunde, wie vom Geiste. Und mit seinen Berufungen auf Spinoza und Goethe, mit seiner Systemmacherei und seiner gekünstelten Sprache, bewies Haeckel nur - dessen Bedeutung als Spezialforscher nicht angetastet werden soll -, daß er weder [140/141] Spinoza noch Goethe eigentlich kannte, daß er kein philosophischer Kopf war, nicht einmal eine Herrschaft über die Fachausdrücke des abstrakten Denkens besaß. Seit Jahren bemüht sich gegenwärtig Wilhelm Ostwald, und mit Erfolg, die deutschen Monisten aus dem Dogmatismus zu dem bessern, und ebenso unkirchlichen, englischen Agnostizismus hinzuführen, der Lehre: daß der menschliche Verstand zur Lösung der Welträtsel nicht ausreicht. Es fehlt nur ein Schritt zu der bescheidenen Lehre meiner Sprachkritik: daß die Sprache das einzige Werkzeug zur Erkenntnis der Natur ist, das wir besitzen, und daß diese Sprache ein untaugliches Erkenntniswerkzeug ist. Von diesem wesentlichen Mangel der Menschensprache, auch der wissenschaftlichen, hatte Spinoza - obgleich er selbst mittelalterliche Wortgebilde nicht verschmähte - eine tiefe Ahnung, hatte Goethe ein starkes Bewußtsein. Das Wort „Monismus" nun ist aus der altgriechischen Bezeichnung der Eins entstanden und bedeutet: den Glau-[141/142]ben an die Einigheit der Naturursache, an die Einheit des Weltganzen. Als ob dadurch etwas erklärt wäre! Als ob hinter dieser Einheit nicht ebensogut der alte Judengott stecken könnte! Vor zweitausend und einigen Jahren erklärte der weltberühmt gewordene Philosoph Aristoteles den Kreis für die vornehmste Linie und „bewies" aus diesem unsinnigen Werturteile eine Menge Erscheinungen; wir sind nicht klüger, wenn wir die Eins für die vornehmste Zahl erklären und aus diesem ebenso unsinnigen Werturteile eine Weltanschauung herausspinnen wollen. Wir werden den Wortaberglauben an den Monismus ebenso überwinden müssen - durch ihn hindurch, nicht an ihm vorbei - wie die Zeit von Descartes und Spinoza den Wortaberglauben der Aristoteliker in schweren äußern und innern Kämpfen überwinden mußte.
Wenn sich also unsere Monisten weiterhin auf Spinoza und auf Goethe als auf ihre Schutzheiligen berufen wollen, so habe ich nichts dagegen und werde [142/143] nicht einmal darauf bestehen, daß man das Schlagwort „Monimius" aufgebe, bevor man ein ebenso hübsches und bequemes zur Verfügung hat. Die Sprachkritiker oder Wortkritiker sind nicht zahlreich genug, um so einen Bund bilden zu können; auch wohl nicht geschäftstüchtig genug, nicht positiv genug gerichtet, um ihre Überzeugung von der Wertlosigkeit alter Begriffe und Ideale zum Ausgangspunkte einer ausgedehnten Propaganda zu machen. Zu sehr lachende Zweifler, nicht feierlich genug. In der Ablehnung freilich, in der vielgeschmähten Negation, stimmen die Sprachkritiker oder Wortkritiker ebenso mit den Monisten überein wie diese mit Spinoza und Goethe; nur daß das gemeinsame Weltgefühl dieser beiden heidnischen Schutzheiligen - im Denken und im Dichten - baumeisterlich war und eben, fast mit Widerstreben, morsche Mauern niederreißen mußte, um Raum und Grund zu schaffen für das Gebäude der neuen Sehnsucht; nur daß die Kritik der Sprache einen neuen Grund aller menschlichen [143/144] Erkenntnis, für das Begreifen der bloßen Erkenntnismöglichkeit, zu legen hat und bei ihrer ungeheuern Aufgabe sich gar nicht darum zu bekümmern braucht, ob die alten dem Tode verfallenen Wortmauern bis vor kurzem die höchsten Begriffe der Wissenschaften oder gar einige Ideale oder Sehnsüchte der Religion, der Moral usw. bedeuteten.
Mag also Spinoza, der (nach dem hübschen Worte des Engländers Lewes) groß war auch noch unter den größten Denkern, eine Autorität bleiben für diejenigen, die für ein gemeinsames Ziel eine Fahne nötig haben, wir beugen uns keiner Autorität und stehen sogar einem Spinoza, nachdem wir ihn ganz kennen gelernt haben, in freier Liebe gegenüber. Und weil wir die Grenzen seines Denkens deutlich wahrnehmen, da wo er, abhängig von den alten Worten und von der Scholastik seines Meisters Descartes, auch nur ein Weltbild aus leeren Linien, ein System aus Worten erfindet, weil wir trotzdem überwältigt werden von der Geisteskraft, mit der er - nicht einmal [144/145] von seinem eigenen Systeme bestochen - dennoch die Natur und in ihr den Menschen erkannt hat, darum fragen wir noch einmal: was ist uns Nachgeborenen heute noch der Jude von Amsterdam, der vor bald 300 Jahren um 300 Jahre zu früh geboren wurde?
Ich habe in anderem Zusammenhange einmal zu lehren versucht, wie schlimm es um die übliche Scheidung zwischen Mittelalter und Neuzeit bestellt ist; wolle man das Mittelalter mit der allgemeinen Macht der Papstkirche gleichsetzen, so müsse man es schon etwa in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts enden lassen, in der Zeit, als die Ketzer sich nicht mehr zum Schweigen bringen ließen, als durch Kaiser Friedrich II. das Schlagwort von den drei großen Betrügern (Moses, Jesus, Mohammed) aufkam; wolle man aber das Mittelalter so lange dauern lassen wie den allgemeinen Glaubenshaß und die Religionskriege, so könne die Neuzeit erst mit dem Westfälischen Frieden beginnen, der wenigstens in bescheidener Weise ein wenig Duldung zwischen [145/146] den christlichen Hauptkonfessionen festsetzte. Diesen wahren Beginn der Neuzeit kann man an das Auftreten einiger Naturwissenschaftler knüpfen, die die neuen Waffen der Mathematik auf die Mechanik des Himmels und der Erde anwandten; unmittelbar hatte Spinoza einen solchen Einfluß nicht auf den Geist seiner Zeit; rückblickend müssen wir aber sagen, daß im ganzen 17. Jahrhundert kein Mann so frei war wie er von den Bindungen des Mittelalters, (Von dem Gebrauche mancher metaphysischer Ausdrücke immer abgesehen,) Das Mittelalter unterwarf Denken und Moral blindlings der Kirche und nannte das Gottesfurcht. Alle diese Begriffe löschte Spinoza mit ruhiger Hand von den alten Tafeln. Er sah und erlebte etwas, was er nach wie vor Gott nannte, aber die Gottesfurcht war ihm nichts Gutes; wer Gott oder die Natur fürchtet, anstatt ihn oder sie zu lieben, der liebe irgend etwas (z. B. sein Wohlergehen im Jenseits) mehr als Gott. Das menschliche Denken war während des Mittelalters angekettet gewesen, [146/147] innerlich und äußerlich, an die Dogmen der Kirche; Spinoza befreite durch seinen Traktat die Vernunft vom Höllenzwang des Bibelworts, er zuerst übte Kritik an aller Theologie. In der Besiegung der Furcht und in der Bibelkritik ist er seitdem überholt worden, von tapfern Leuten, die ihm folgten; in der Befreiung der Menschenmoral von der Theologie aber ist er bis zur Stunde unerreicht geblieben, denn seine Moralkritik ist noch reiner und zeitloser als die verrufene Lehre, die wir (nach den glänzenden Sprüchen von Nietzsche) Amoral oder geschichtliche Entwicklung der Moral zu nennen pflegen. Und das ist bei Spinoza gar nicht geistreich, gar nicht spöttisch; so einfach und so notwendig wie das vielfarbige Sonnenbild in einem Tautropfen. Es handelt sich auch um gar nichts anderes als um Spinozas unmenschlich schöne Vorstellung von der unbedingten Notwendigkeit alles Geschehens; was in Gott oder der Natur wird, das ist notwendig, das ist nicht frei; Gott (die Natur) hat keinen Willen und keinen Verstand; der [147/148] Mensch hat ein bißchen Verstand, doch gar keinen freien Willen, der seine Handlungen moralisch bewerten ließe; es ist in der gesamten Menschenwelt kein Raum für das, was man Moral nennt. Gut und böse sind nur Menschenbegriffe; aber es muß doch wohl Träger des Guten geben, denn Spinoza hat - wie alle seine Gegner zugeben müssen - ungefähr so gelebt, wie christliche Moral es von einem Heiligen verlangt. Spinoza war wie sein Gott, eins mit der Natur, die auch nichts verlangt für ihre Gaben. Und weil der Mensch nicht einer auferlegten Pflicht gehorcht, wenn er sozusagen gut ist, weil er notwendig so oder so ist, darum hat der Mensch auch kein Recht darauf, daß Gott oder die Natur ihn wiederliebe,
Diese unerhört gelassene Einsicht in die ausnahmlose Notwendigkeit alles Geschehens (nicht auch in dessen Erklärbarkeit!) bewahrte Spinoza vor der abgründigen Dummheit höchst achtbarer Schriftsteller, die sich übrigens ja Philosophen nennen dürfen und sich sogar gern auf Spinoza berufen. Ich denke da an die [148/149] unausrottbare Gewohnheit der Bücherschreiber, kindischem Bedürfnisse entgegenzukommen mit Schriften, die den einschläfernden Titel führen: „Sinn des Lebens" oder „Wert des Lebens". Vor etwas mehr als 100 Jahren sagte man da kindlicher und verräterischer: „Die Bestimmung des Menschen." Der liebe Gott hatte Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen geschaffen, Steine, Pflanzen und Tiere für den Menschen, den Menschen für einen höheren Endzweck. Dieser schlichte Glaube wurde verwischt, aber nicht getilgt durch die neue Bezeichnung: Sinn oder Wert des Lebens. In unsern Tagen hat besonders Rudolf Eucken begreiflichen Zulauf bei seinen Bemühungen, dem armen Menschenleben einen Sinn oder Wert unterzulegen; der Mensch hat die Aufgabe (von wem?) emporzusteigen, zu immer höheren Stufen. (Wohin?) Weniger achtbar ist mir die Schriftstellerei des Franzosen Bergson, der die Philosophie mit Schauspielerei zu verwechseln scheint. Gar nicht erst zu reden von dem ganz unselbständigen Vertreter [149/150] der südwestdeutschen Philosophenschule (ich weiß nicht, ob sie sich selbst und ernstlich so nennt), der auch über Sinn und Wert des Weltganzen geschrieben hat und möglicherweise selbst versteht, was er sagt: „Der Sinn, den der Akt des Wertens hat, ist einerseits kein psychisches Sein, sondern weist über dieses hinaus auf die Werte hin; er ist andererseits aber auch kein Wert, weil er nur auf Werte hinweist."
In Spinozas erhabenem Bilde von dem wirklichen Weltgeschehen war - wie gesagt - kein Raum für einen Zweck oder eine Absicht oder gar für einen Wertmesser; der Gott oder die Natur besaß weder einen Menschenverstand noch einen Menschenwillen, konnte also bei der sogenannten Schöpfung einen Zweck nicht haben, eine Bestimmung des Menschen weder vorstellen noch wollen. Ein Schüler Spinozas kann nicht daran denken, solche Fragen zu beantworten, weil er solche Fragen nicht zu stellen vermag.
Aber - so werden mir Leser entgegenschreien, die wahrlich nicht spinozareif [150/151] sind -: das ist ja eine ganz verzweifelte Weltansicht, das führt ja schnurstracks zu einem entsetzlichen Pessimismus! Ich darf bei diesen unfreundlichen Lesern natürlich nicht voraussetzen, daß sie gelesen oder sich gar gemerkt haben, was ich einmal (Wörterbuch der Philosophie II. S. 188 ff.) über die Künstlichkeit, ja Drolligkeit des Begriffspaares Optimismus. und Pessimismus ausgeführt habe. Ich will es in wenigen Zeilen wiederholen und dann zu der heiligen Heiterkeit Spinozas zurückkehren, die man nicht Optimismus nennen sollte.
Wir haben es da mit betrüglichen Begriffen zu tun; nicht einmal die Steigerung der Eigenschaftswörter (z. B. der beste, der schlechteste) ist allen Menschensprachen eigen; die Vorstellung des Optimismus, daß also diese uns allein bekannte Welt zwar nicht an sich gut sei, wohl aber verhältnismäßig die beste aller möglichen Welten, diese Vorstellung war der traurige Versuch einer Rechtfertigung Gottes, ein Versuch, das beobachtete Elend des Menschenlebens mit den [151/152] von der Theologie behaupteten Eigenschaften Gottes (Allmacht, Güte) auszugleichen. Dieser rechtsverdreherischen Lehre, die man vielleicht zuerst nur in boshafter Absicht Optimismus nannte, stellte sich erst später die grimmige Lehre gegenüber, die sich wieder nicht in klaren Worten ausdrücken ließ und für die man, mit einer witzigen Anknüpfung an Optimismus, eben die Bezeichnung Pessimismus erfand. Hinter der einen wie der andern Meinung steckt nichts, das man eine Weltanschauung nennen könnte, sondern eigentlich nur die persönliche Stimmung des Sprechers oder Schreibers, der sich zu der einen oder zu der andern Meinung bekennen will und dafür ein klingendes Wort sucht.
Es wäre töricht, Spinoza um seiner heitern Lebensführung willen einen Optimisten zu nennen. Er nannte sein Hauptwerk „Ethik", weil sich da alles um das Handeln der Menschen drehte, also um ein Geschehen, das allgemein nach alten moralischen Tafeln gewertet wird. Spinoza wertete nicht und wortete nicht; [152/153] der „tugendhafte" Mensch war ihm nicht moralischer als ein Dreieck, dessen Winkelsumme gleich ist zwei Rechten. Wenn er die Begriffe Optimismus und Pessimismus in seinem Sprachschatze besessen, hätte, so hätte er in keinem von beiden eine Regel gesehen, nach welcher man leben müßte. Es gibt heitere und traurige Menschen, wie es helle und trübe Tage gibt. Naturnotwendig. Wie es, nach, der Menschensprache, gute und böse Taten gibt. Naturnotwendig. Es gibt kein Sollen. Alles wird, wie es notwendig werden muß.
Sind also die rechtgläubigen Todfeinde Spinozas im Rechte, die ihn einen Materialisten schelten? Es sind das so geläufige Schimpfwörter, die ungefähr den gleichen Vorwurf ausdrücken: Atheist, schlechter Kerl, Materialist. Spinoza ist wahrscheinlich in jungen Jahren, da er dem Köhlerglauben der Synagoge entwachsen war und in die Lateinschule von van der Ende kam, durch einen geistig unsaubern Materialismus hindurchgegangen; er lernte damals die Schriften des [153/154] Mathematikers Descartes kennen, der nur zu ängstlich war, um seine ganz diesseitige, ganz mechanistische Anschauung offen auszusprechen; für Descartes waren alle Körper Maschinen, auch die Tiere, nur vor der Menschenseele machte er halt, weil er bei der Kirche keinen Anstoß erregen wollte. Spinoza nun hatte von seinem Vorgänger Descartes viel gelernt, sicher auch das mathematische, das mechanistische Weltbild, den Materialismus. Nur daß Spinoza sich mit diesem einen und einseitigen Bilde der Welt nicht begnügte, nur daß Spinoza, der Allumfasser, die Unzulänglichkeit des mechanistischen Bildes durchschaute und nach einer Ergänzung verlangte, nach einer Befreiung von der Zerbröcklung der mathematischen Naturerklärung. Hier lebte der Denker Spinoza wie auf dem obersten Stockwerke einer Sternwarte; auf dem obersten Stockwerke, nicht weil er sich auf Fernrohre verstand, sondern weil er, eins geworden mit den Sternen, die irdischen Dinge alle unter einem gewissen Gesichtspunkte der Ewigkeit zu [154/155] betrachten sich gewöhnt hatte. Um nun ein einziges hohes Beispiel zu bieten: in dem mechanistischen oder wissenschaftlichen Weltbilde folgt die Wirkung auf die Ursache, nicht etwa logisch, nicht nur zeitlich, einfach notwendig; Spinoza als der erste ahnt, daß da nur eine Beschreibung vorliege und keine Erklärung, er sieht mit seinen geistigen Augen eine Einheit zwischen Ursache und Wirkung, er begreift, daß eine vollständige Kenntnis der Wirkung eine vollständige Kenntnis der Ursache einschließen würde. Ich möchte das so ausdrücken: wenn wir ein einziges Atom unseres mechanistischen Weltbildes „wissen" würden, so würden wir alles wissen; doch wissenschaftlich wissen wir nichts.
Spinoza hatte ein so klares Verständnis für die zwar trügerische, aber in ihrer Einseitigkeit belehrende mechanistische Weltansicht, daß noch Johannes Müller, der Begründer der neuen Physiologie, sich auf diese Philosophie berufen konnte. Und Spinoza, in seinem Traktat nebenbei der Stifter des liberalen Ratio-[155/156]nalismus, war so überzeugt von dem schließlichen Bankerott jeder mathematischen Welterklärung, daß er wiederum von dem englischen Agnostizismus in Anspruch genommen werden konnte, von dem Bekenntnisse, daß uns die letzte Erkenntnis in jedem Punkte versagt ist. Wir aber wollen uns nicht scheuen, die Weltanschauung Spinozas zumeist mit derjenigen zu vergleichen, die die ganz wenigen wahren Mystiker des Ostens und des Westens, der alten und der neueren Zeit, verbindet. Spinoza war ein' Mystiker, weil er eigentlich nichts wußte, trotz all seiner Denkkraft, als seine Einheit in der Welt, mit der Welt, seine Einheit in der Gottnatur, mit der Gottnatur.
Man begnügt sich gewöhnlich damit, das Wort Pantheismus auf diese Lehre anzuwenden. Weil Spinoza den Gottesbegriff nicht preisgeben konnte, weil er seinen Gott mit dem All gleichsetzte. Die den heiligen Spinoza zu den Mystikern rechnen, sollten sich jedoch nicht darauf berufen, daß der Pantheist Spinoza den Gottesbegriff weiter benützte. Zu den [156/157] gotttrunkenen Mystikern gehörte Spinoza nicht; er war nur alltrunken. Wie er in den Eingangsdefinitionen seiner Ethik mehrere uralte Begriffe für seine eigene Verwendung, sprachwidrig, neu maskierte, so bildete er sich und für sich einen Gottesbegriff, den die Gemeinsprache des Pöbels und der Theologie nicht kannte; viel mehr als vier Ellen weit von sich bannte er das alte Gespenst des persönlichen, des schaffenden und erhaltenden Judengottes. Herder, Schelling, Hegel und Schleiermacher täuschten sich, als sie Spinoza zu einem Christen machten. Spinozas Mystik ist eine gottfremde, eine gottlose Mystik.

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