Die vorliegende Ausgabe stellt eine erweiterte
Neubearbeitung der im Jahre 1906 erschienenen Schrift
dar.
Druck von Petzschke Gretschel,
Dresden-A.
[6/7]
den dänischen Dichter der stärksten
Internationale, der internationalen Brüderschaft der Armut und des
Leidens.
es war für Sie ein leidiger, für mich ein günstiger Zufall, daß
die italienische Regierung Ihnen, als einem „staatsgefährlichen" Dichtersmann,
die Einreise verweigerte, daß Sie auf Ihrer Fahrt nach dem Süden am Bodensee
haltmachen mußten und ich so Gelegenheit hatte, Ihnen persönlich und bald
geistig nahe zu kommen. Wir haben einander schnell gefunden, in dem Gemeinsamen.
Als ich nun darüber sann, wie ich Ihnen ein Zeichen dieser Gemeinsamkeit geben
könnte, fügte es ein anderer Zufall, daß der Neudruck meines alten Bekenntnisses
zu dem Weltüberwinder Spinoza zwischen uns zur [7/8] Sprache kam. Ich bitte Sie
herzlich, die Widmung dieses Büchleins anzunehmen.
Es wäre ja leicht möglich - so weit mir das möglich
ist - klingende Worte zu machen über die Notwendigkeit, Ihren Namen mit dem
Spinozas zusammenzubringen: Sie waren ein proletarischer Arbeiter, bevor Sie der
Dichter des Proletariats wurden, und Baruch de Spinoza war zeitlebens ein armer
Glasschleifer, während er ohne Entgelt für sich und die anderen armen Menschen
die Wahrheit suchte; Sie halten nicht allzuviel von der betriebsamen
Vielwisserei der staatlichen Hochschulen, und Spinoza gar war so frei, so ganz
frei, daß er, der mittellose Handarbeiter, ablehnte, als er ordentlicher und
gutbezahlter Universitätsprofessor werden sollte. (Nebenbei: glauben Sie noch an
einen Fortschritt der Kultur, wenn Sie daran denken, daß ein deutscher Kurfürst
vor 250 Jahren es wagen durfte, einen konfessionslosen Menschen, einen von
seiner Synagoge feierlichst verfluchten Juden, zu einem Professor in Heidelberg
zu ernennen? Wir wollen dar-[8/9]über plaudern, bald, bei einem Viertel oder
auch nur bei einem Achtel alten Meersburger.)
Aber diese Wortbrücke zwischen den Namen Spinoza, und
Nexö wäre doch nicht ganz ehrlich, also nicht nach unsrem Geschmack. Sie wissen,
daß die Linsen-Schleiferei damals noch ein Nebenberuf gelehrter Optiker war, daß
Spinoza überdies vielleicht einer hübschen jüdischen Tradition oder Legende
folgte, als er nicht von seiner Weisheit, sondern nur von seinem Handwerk leben
wollte. Und bei der Zurückweisung der Professur bestimmte ihn doch wohl die
Sorge, er würde als Beamter einer wissenschaftlichen Anstalt nicht seine volle
Denk- und Redefreiheit behalten. Es wäre also besser, Ihnen das Büchlein
zuzueignen, ohne Angabe der Gründe, nur als Äußerung eines
Gefühls,
Und doch: der Wunsch kam
mir, als Sie von der freien dänischen Volkshochschule erzählten, wo Sie einst
ein Schüler und dann ein Lehrer waren. Volkshochschule! Mein alter Traum. Ich
stimme [9/10] darin mit Ihnen und mit Richard Benz überein, daß die
Volkshochschule der Zukunft nicht ein Ableger der Universität sein darf, nicht
ein Almosen für das Volk, sondern eine Gegen-Universität, eine Revision der
Grundlagen aller Wissenschaften, ein ganz Neues, wo die Studenten und die
Professoren der alten Universitäten noch was lernen können.
In diesen Schulfragen bin ich nicht erst seit der
„Revolution" ein Rebell, nicht erst seit zwei Jahren. Sie können es als Däne
nicht wissen (und als ein Deutscher würden Sie es, unter uns, auch nicht
wissen), daß ich im November 1897 im Berliner Rathause (bei Gelegenheit einer
Versammlung für Volksunterhaltung) einen kurzen Vortrag hielt, worin ich auf die
geistige Not der Proletarier hinwies und Abhilfe verlangte; daß ich 1910 (in dem
Stücke „Schule" meines „Wörterbuchs der Philosophie") leidenschaftlich die
Korruption angriff, die von der Volksschule bis zum Staatsexamen das
Taglöhnerkind zugunsten der Sprößlinge der Plutokratie und der Bürokratie
[10/11] schädigt; „zurück in den Dreck" rief ich den Söhnen der oberen Stände
zu, die dümmer, fauler oder schlechter wären als Proletariersöhne; daß ich in
meinen Lebenserinnerungen (noch vor dem Kriege ausgedruckt) bitter genug meine
Erfahrungen, auf dem Gymnasium und auf der Universität erlitten,
erzählte,
Für den vielzuvielen, für
den chinesischen Wissenskram sind unsere mittelalterlichen, chinesischen
Universitäten auch nicht gut genug. Die seltenen wirklichen Wahrheitssucher der
Geistes- und der Naturwissenschaften wissen das am besten; sie sagen's nur
nicht. Die Volkshochschule der Zukunft soll oder wird überall die
erkenntniskritische (Sie wissen, ich meine, die sprachkritische) Grundlage
schaffen helfen, sie wird in der geschichtlichen Darstellung auf offiziöse
Schönfärberei verzichten und nur für wahrhaft vorbildliche Menschen Bewunderung
lehren. Ich kenne keinen vorbildlicheren Menschen in Westeuropa als den
„grenzenlos Uneigennützigen" Spinoza. Seine Wirkung muß endlich ins [11/12] Volk
dringen. Nicht durch mich. Nicht wahr, diesen Gedankengang erwarten Sie nicht
bei mir? Ich bin viel zu alt, um an meiner Volkshochschule selbst umzulernen.
Durch Sie und Ihresgleichen muß Spinozas Wirkung ins nachgeborene Volk
dringen.
Wissen Sie auch, was Sie mit
dem Juden von Amsterdam verbindet? Die geistige Liebe zu der Natur, die er
seinen Gott nannte, und die sieghafte Heiterkeit im Schauen und im Erleben des
Menschenelends. Bleiben Sie so. Das ist unser Wunsch bei diesem unbescheidenen
Gruße, mein Wunsch und der von H. Str.
Meersburg,
im Februar 1921.
Fritz Mauthner.
[12/13]
Wer unter
„Religion", entgegen allem gegenwärtigen Denken und Dichten, nach wie vor
irgendeine Form der Furcht und Knechtschaft unter übermenschlich offenbarten
Gesetzen verstehen will, der wird der Meinung zustimmen müssen, Spinoza sei der
erste grundstürzende Gottesleugner gewesen; wer aber mit dem schillernden Worte
„Religion" - mit mir - nichts ausdrücken will, als tiefen Ernst in der Besinnung
über das Menschenleben, der wird erkennen müssen, daß Spinoza eine durchaus und
wesentlich religiöse Natur war, der erste stillsiegende Bekenner der neuen
Religiosität. Es brauchte eine lange Zeit, bevor diese Einsicht sich durchrang.
Spinozas Philosophie war über hundert Jahre lang das Aschenbrödel, von ihren
bösen Schwestern, den Philosophien der Schule, in den Schmutz verurteilt; erst
seit Lessing und Goethe steht sie in ihrer [13/14] ursprünglichen Schönheit vor
uns, die geborene Fürstin.
Spinoza
wurde, da er noch lebte, von einigen freien Männern in England und in Frankreich
als ein Gelehrter und als ein Weiser geschätzt, in Holland von wenigen Freunden
und Freireligiösen als ein Heiliger verehrt; nur die rechtgläubigen Juden
verfolgten ihn seit seiner Jugend, dann die ebenso rechtgläubigen Protestanten,
nachdem er (1670) durch seinen „Traktat" Denkfreiheit verlangt und besonders
Bibelkritik entscheidend begründet hatte. Nach seinem Tode (1677) wurde aber die
Darstellung seiner Philosophie, die nur zufällig „Ethik" heißt, von seinen
Genossen herausgegeben und seitdem gehörte es zum guten Ton wohlanständiger
Schriftsteller, von Spinoza entweder gar nicht zu reden oder in herabwürdigenden
Ausdrücken. Die protestantische Orthodoxie war noch eifriger als die
erfolgreiche katholische Gegenreformation an der Arbeit, das Lebenswerk des
verwegenen Denkers durch das wohlfeile Mittel der Beschimpfung zu vernichten;
den ohne [14/15] Verabredung vereinigten Feinden der Gedankenfreiheit kam es
zustatten, daß Spinoza jüdischen Stammes war; daß man also den immer bereiten
Judenhaß gegen ihn aufreizen könnte, wie vielleicht schon Jesus Christus als ein
Jude dem Römer Tacitus verächtlich schien (wenn nämlich die Stelle nicht doch
ein späterer Zusatz ist). Die Bezeichnung „Spinoziste" wurde zu einem gemeinen
Schimpfworte.
Es gibt wohl nur noch
einen einzigen Fall, in welchem die Leistung eines bedeutenden Denkers ebenso
brutal für lange Zeit totgeschlagen, in Kot begraben wurde, den Fall des
Philosophen Epikuros, dessen materialistische, doch geistige und feine
Weltanschauung gleich für zwei Jahrtausende beiseite geschafft wurde, nicht
totgeschwiegen, aber totgeflucht und totgelogen; der Lügenfeldzug gegen Epikuros
erbte sich über von den Stoikern, den Pharisäern des klassischen Altertums, zu
den Kirchenvätern, zu den Scholastikern und noch zu den Kartesianern. Es sollte
beachtet werden, daß die „Rettung" des Epikuros, die Verteidigung [15/16] seiner
Persönlichkeit und auch seiner naturwissenschaftlichen Lehre, durch Gassendi
erfolgte (1647), als der fünfzehnjährige Spinoza eben anfing, sich innerlich von
der Religion zu lösen, in der er geboren worden war. Wahrscheinlich machte
bereits dieser junge Spinoza auch die äußeren Bräuche seiner Stammesgenossen
nicht mehr mit und fügte sich bald auch nicht mehr den Anordnungen der Rabbiner;
diese Lostrennung wird den überfall durch einen frommen Juden veranlaßt haben,
mag diese Roheit nun nur eine hitzige Rauferei oder wirklich ein Attentat
gewesen sein. Die feierliche Austreibung aus der Judengemeinde von Amsterdam
erfolgte erst 1656; Spinoza war an diesem seinem Ehrentage noch nicht 24 Jahre
alt.
Der Bann, den die Synagoge über
Spinoza verhängte, hatte nur die eine Folge, daß er ihn von jeder Rücksicht auf
die jüdische Religionsgemeinschaft befreite; aber die Verfemung durch die
orthodoxen Pastoren, die seit der Dordrechter Synode wieder mächtig geworden
waren, [16/17] setzte sofort nach Erscheinen des freidenkerischen
„theologisch-politischen Traktats" ein, und seitdem blieb Spinozas Denkarbeit
geächtet. Der Traktat wurde verboten (die Neudrucke, die alle die Jahreszahl
1670 tragen, sind wahrscheinlich später erschienen und vordatiert). Mit dieser
Ächtung hängt es vielleicht zusammen, daß sogar Spinozas „Opera postuma" nicht
seinen Namen trugen, sondern nur die Anfangsbuchstaben B. d. S. Ganz grotesk
erscheint uns Nachgeborenen diese Scheu, den Namen Spinoza auszusprechen, bei
der Herausgabe der ersten deutschen Übersetzung seines Hauptwerkes. Um dieser
Tollheit willen und um des Übersetzers willen muß ich einige Zeilen daran
wenden,
Der Übersetzer war Lorenz
Schmidt, ein Mann, der es nicht verdient hat, verschollen zu bleiben. Er hatte
kurz vor Lessing in Wolfenbüttel eine Zuflucht gefunden, auch er - wie Spinoza -
ein Verfemter; Lessing machte sich den Spaß, ihn - als der Zorn der Zionswächter
über die Veröffentlichung der „Frag-[17/18]mente" auszubrechen drohte - für den
wahrscheinlichen Autor der antichristlichen Stücke auszugeben, damit Reimarus,
der wahre Verfasser, nicht bekannt würde. Dieser Lorenz Schmidt (geb. 1702,
gest. 1749), Sohn eines Pfarrers und selbst Theologe, hatte im Jahre 1735 durch
seine Übersetzung des Pentateuchs einen Sturm im theologischen Sumpf
hervorgerufen, einen Zorn, zu dessen Verständnis wir uns heute kaum mehr
hinabsenken können. Was man ihm so übel nahm, war zunächst die Verwegenheit, den
durch eine Tradition von 200 Jahren beinahe geheiligten Text Luthers verdrängen
zu wollen; dann aber war es der Wolffsche Rationalismus, mit welchem er den
Urtext wörtlich wiedergab (z. B. „ein starker Wind" wehte über den Wassern,
anstatt „der Geist Gottes")* und mit welchem er in zahlreichen und oft
überflüssigen Anmerkungen die Bibelworte schlicht erklärte, in der durchgehenden
Absicht, alle Weissagungen
*) Auch diese nüchterne
Übersetzung ist dem Spinoza entlehnt.
[18/19]
des Alten Testaments, die auf Jesus Christus nämlich, kritisch
abzulehnen. Er wurde für einen Religionsspötter erklärt, und besonders der
bösartige Fanatiker Joachim Lange hetzte die evangelische Kirche und den
Reichsfiskal hinter ihm her. Der Schutz des gräflichen Hauses Wertheim, wo er
als Erzieher der jungen Herren lebte, konnte ihm nicht viel helfen, weil die
fürstliche Linie des Hauses die Befehle des Kaisers auszuführen sich anschickte;
doch ließ man ihn nach der Konfiskation des Buches und nach seiner Verhaftung
(1737) freundlich entkommen, nach Altona, wo er wahrscheinlich als Korrektor und
gewiß als Übersetzer der verrufensten Bücher der Freidenkerei sein Leben
fristete, bis er eben endlich in Wolfenbüttel geduldet wurde und sterben
durfte,
Der Herausgabe des deutschen
Spinoza ging 1741 eine Übersetzung von Tyndals erschrecklicher Schrift
„Christentum so alt wie die Welt" voraus; schon da deckte Schmidt sich schlau
durch die Hinzufügung einer Widerlegung, [19/20] der von Forster. Die gleiche
Vorsicht waltet nun bei der Herausgabe von Spinozas „Ethik" , nur daß hier schon
der Titel grotesk wirkt - wie ich gesagt habe - und die Stellung grell
beleuchtet, die Spinoza, nur 40 Jahre vor seiner Wiederentdeckung durch Lessing,
in der Republik der Gelehrten einnahm. Noch durfte sein Name nicht genannt
werden. „B. v. S. Sittenlehre widerlegt von dem berühmten Weltweisen unserer
Zeit Herrn Christian Wo1f." Wolff hatte diese „Widerlegung" schon 1737 in seine
natürliche Theologie eingeschaltet, wohl nicht ganz ehrlich, eigentlich in der
Absicht, die alte Beschuldigung zu entkräften, daß er (Wolff) den freien Willen
leugne, den Fatalismus lehre und somit dem Soldatenkönige verbiete, seine langen
Kerls wegen Desertion zu bestrafen; war er doch seinerzeit deshalb bei Androhung
des Stranges von der Universität Halle fortgejagt worden. Und Lorenz Schmidt
haut in die gleiche Kerbe, da er in seiner Vorrede mit sichtlicher Übertreibung
gegen die Gefährlichkeit Spi-[20/21]nozas als eines Fatalisten loszieht.
Lediglich unter solchen Vorsichtsmaßregeln war es gelungen, die erste deutsche
Übersetzung des verpönten Werkes herauszubringen,
Es war nicht das letztemal, daß ein Anhänger Spinozas
den Namen des Denkers niederzuschreiben sich scheute. Selbst Goethe war noch
1786 so vorsichtig, in den Briefen aus Italien anstatt des Namens Spinoza den
Buchstaben S. zu setzen oder zwei Sternchen; ich weiß nicht, ob ich lachen darf
oder nicht, wenn ich erfahre, daß Goethe - als er diese Briefe zu seiner
„Italienischen Reise" zusammenstellte - vergeßlich war: er irrte sich wirklich
und ergänzte den Buchstaben S. mit „Sakontala", anstatt mit
„Spinoza".
Die vier ungleichen
Denker, die mit ähnlicher Sicherheit im Gebrauche einer metaphysischen
Terminologie, aber mit sehr verschiedener Freiheit und Kraft Kant zu überwinden
versprachen, hatten erst von den dichterischen Führern Deutschlands gelernt, daß
Spinoza als [21/22] der eigentliche Philosophische Vernichter der Theologie mit
Achtung genannt werden müßte. Schon Fichte rühmte sich, Spinoza verbessert zu
haben; Schelling entnahm den wertvollsten Teil seiner Naturphilosophie den
Gedanken, in denen Spinoza mit Bruno übereinstimmte; Hegel als der erste Kenner
der Philosophiegeschichte meinte in einer guten Stunde, „Spinozist zu sein wäre
der wesentlichste Anfang
alles Philosophierens"; und Schopenhauer, in der Vernunftkritik wirklich ein
Fortsetzer Kants, den Professoren Fichte, Schelling und Hegel ein bis zur
Ungerechtigkeit strenger Karikaturist, sah auch in Spinoza einen Vorläufer,
obgleich er tief genug hinunterstieg, um gegen einen Spinoza derb antisemitische
Vorwürfe zu schleudern,
Seitdem ist
viel Kleinarbeit geleistet worden, in Holland und in Deutschland, aber auch in
Frankreich und in England, um die menschlichen Beziehungen Spinozas zu seinen
Zeitgenossen und die geistigen Beziehungen zu den andern Kartesianern
aufzuhellen; eine abschließende [22/23] Darstellung seiner Persönlichkeit
besitzen wir nicht, so empfehlenswert auch das Kultur- und Lebensbild ist, das
Wilhelm Bolin (in der Sammlung „Geisteshelden" von Anton Bettelheim) geliefert
hat; Bolin hat ganz gut gesehen, daß Spinoza kein Erkenntniskritiker war, daß er
seine allzu scholastischen Grundbegriffe fast ungeprüft von Descartes übernommen
hatte, daß also sein System für uns veraltet ist, er hat seine Persönlichkeit
mit verständiger Liebe gezeichnet, er hat als ein Schüler Feuerbachs die
antikirchliche Befreiungstat Spinozas nach Gebühr gepriesen, aber er hat die
unbewußte Macht nicht wahrgenommen, mit welcher Spinoza, groß und unbestechlich
und unbefangen wie ein geniales Kind, über die Sprache seiner Zeit und über
seine eigene Sprache hinweg die letzten Aufgaben zugleich der Naturwissenschaft
und der Philosophie sah oder ahnte und einem Geschlechte, das ihn erst nach mehr
als zwei Jahrhunderten verstehen sollte, eine Fackel reichte,
Ein neues und viel gerühmtes Werk [23/24] über
Spinoza ist über den ersten Band, die Biographie, nicht hinausgediehen:
„Spinoza, sein Leben und seine Lehre, von J. Freudenthal" (1904). Es ist doch
nur eine alexandrinische Arbeit. Solche Bücher veralten immer in dem
Augenblicke, wo ein jüngerer Professor auf den Plan tritt und abermals die
philologische Einzelforschung der letzten Jahre in ein neues Buch verstaut.
Geschichtschreibung [!] sollte immer Kunst sein, die Kunst: wirkende
'Persönlichkeiten durch ein eigenes Temperament zu sehen. Mit dem Historismus,
unter dessen Banne wir alle stehen, ist es nicht getan, man studiert da die
Vergangenheit nur um der Vergangenheit willen. Spinoza und Kant (von Sokrates
und Platon gar nicht zu reden) wußten wenig von der Geschichte der Philosophie.
Aber die deutschen Philosophieprofessoren, die der Welt keine eigenen
philosophischen Gedanken zu schenken hatten, studierten und trieben eifrig
Philosophiegeschichte. Sogar berühmt konnte man durch eine solche Beschäftigung
werden; Kuno Fischer hat [24/25] so in seiner langen Siegesallee von
Philosophiehelden auch das Standbild von Spinoza aufgestellt, gleich gründlich
und gleich pathetisch gegenüber dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen. Nach
ihm kam dann Freudenthal und konnte so allerlei berichtigen, was Berthold
Auerbach, Bolin und Kuno Fischer an einer Schuhschnalle etwa nicht
porträtähnlich genug gezeichnet hatten. Vortrefflich ist die wechselnde Umwelt
Spinozas dargestellt, die der spanischen Juden und die der rechtgläubigen und
der freireligiösen Sekten in Holland; nur für seinen Helden selbst reicht
Freudenthals Augenmaß nicht aus. Nicht als ob er ihn zu wenig bewunderte.
Natürlich macht er ihm. seine Reverenz, aber er macht die Reverenz gleich darauf
auch den Gegenfüßlern Spinozas. Das hat mit seiner Parteilosigkeit der
Historismus getan. Freudenthal will die Gegner Spinozas milder beurteilt wissen,
weil sie fester auf ihrem tiefen Standpunkte stehen als er auf seinem hohen, und
weil seine Worte gelegentlich zu schroff sind. Der Bannfluch [25/26] und die
Denunziation, womit die Judengemeinde von Amsterdam ihren einzigen großen
Mitbürger nach dem Muster christlicher Verfolgungssucht vernichten wollte,
sollen uns „heute" in freundlicherem Lichte erscheinen, auch der schäbige
Bestechungsversuch der, reichen Juden gegen den armen Spinoza. Dieser, mit
seiner vorbildlichen passiven Tapferkeit, wird nicht geradezu ein Feigling
genannt, aber für „Furchtsamkeit" wird sein Benehmen dennoch ausgegeben. Spinoza
furchtsam! Spinoza, dessen Autorschaft aller Welt bekannt war, dessen Atheismus
trotz aller Rücksichten offenkundig war, dessen Anhänger Koerbagh jämmerlich im
Gefängnis starb. Wenn Spinoza furchtsam war, dann gab es keinen furchtlosen
Philosophen von Sokrates bis Kant. Nur ein Zufall ist es, daß er seine
Überzeugung nicht mit seinem Blute besiegelte; sein Leben war märtyrerhaft
genug. Freilich sagt Professor Freudenthal, Spinoza sei kein Heiliger gewesen.
„Heilige gibt es auf Erden nicht." Sehr richtig; nur daß just Spinoza zu den
wenigen [26/27] Menschen gehört, bei deren Wirken man die Wahrheit dieses
wohlweisen Satzes anzweifeln möchte. Fast noch drolliger ist es, eigentlich
furchtbar komisch, wenn die Ehelosigkeit Spinozas bedauert wird. Spinoza hätte
eine bessere Definition der Liebe gegeben, wenn er „die aus Schmerzen und
Freuden geborene Mutterliebe nicht bloß vom Hörensagen gekannt hätte," Oh! Hat
denn Spinoza an der zu Unrecht berüchtigten Stelle seiner Ethik die Mutterliebe
definiert? Und hätte er als Gatte und Vater die Mutterliebe etwa wirklich durch
Selbstbeobachtung kennengelernt?
Der
Biograph Spinozas wirft die Frage auf, ob Spinoza ein Genie zu nennen sei. Er
ist so freundlich, die Frage zu bejahen. Spinoza wird mit Leibniz verglichen.
Leibniz wird einmal ihm „ebenbürtig" genannt, und später wird Spinoza unter
Leibniz hinuntergedrückt; anders ist es nicht zu verstehen, wenn Spinoza Leibniz
„in einigen Punkten erreicht, ihm in anderen nachsteht". Leibniz, dessen Fleiß,
Gelehrsamkeit und Scharfsinn jede [27/28] Bewunderung verdienen, dessen
Charakter aber noch eines rücksichtslosen Historikers harrt, hätte gerade von
dem Biographen Spinozas nicht über oder, neben Spinoza gestellt werden
sollen.
Endlich noch eine
Kleinigkeit, die wohl in einer späteren Auflage des Buches getilgt worden wäre.
Professor Freudenthal spricht an zwei gleichlautenden Stellen sein Bedauern
darüber aus, daß dem begabten Spinoza „der Segen eines akademischen Unterrichtes
nicht zuteil geworden sei". Es ist traurig, aber ein Engländer oder ein Franzose
hätte diesen überheblichen Satz nicht geschrieben. Oder glaubt Professor
Freudenthal wirklich, Spinoza hätte mehr geleistet, wenn ihm der Segen zuteil
geworden wäre, in Heidelberg, Berlin oder Breslau ein Kolleg über Geschichte der
Philosophie zu hören? Spinoza hat ja einen noch größeren Segen verschmäht. Der
Kurfürst von der Pfalz bot ihm den Lehrstuhl für Philosophie an der Heidelberger
Universität an. Spinoza lehnte ab, Professor zu werden. Professor
Freu-[28/29]denthal erzählt das ganz ordentlich und meint dabei mit rührender
Offenheit, es hätte für Spinoza verlockend sein müssen, seine Kraft „dem
herrlichsten Berufe" widmen zu können. Das ist nun so ein geläufiges Wort. Gewiß
ist die akademische Lehrtätigkeit ein schöner Beruf. Aber der Superlativ! Ist es
wirklich nicht ein noch herrlicherer Beruf, ohne Amt und ohne Titel die Werke
Spinozas zu schreiben?
Bald nach
Freudenthal erschien (1908) eine kleinere und lesenswertere Schrift über
Spinoza; aus acht Vorlesungen an der Universität Bern entstanden; von Anna
Tumarkin. Diese Historikerin der Philosophie will sich nicht mit Kärrnerdiensten
begnügen; sie kennt die Forderung Diltheys, die Gedanken von Dichtern und
Philosophen aus deren Wesen und Erleben heraus zu verstehen, sie weiß, daß ein
übermächtiges Gefühl bei Spinoza Herr wird über seinen kühlen Verstand, daß also
seine glühende Mystik durchaus über seinem, von Descartes übernommenen,
mechanistischen Ratio-[29/30]nalismus steht; und daß seine unvergleichliche
Persönlichkeit nicht konstruiert werden kann durch Summierung fremder Einflüsse,
die natürlich nicht geleugnet werden dürfen. Vorzüglich ist bei Anna Tumarkin
die schwierige Darstellung von Spinozas Metaphysik, von der Freudigkeit der
Unterwerfung unter die unerbittliche Notwendigkeit (im Gegensatze zu dem
vernichtenden „Gefühl der Abhängigkeit" in dem vielverbreiteten Bilde von Sascha
Schneider); vorzüglich die Hervorhebung des Satzes, der schon einen Goethe
überwältigt hatte: „wer Gott recht liebt, muß nicht verlangen, daß Gott ihn
wieder liebe",*) und die Bemer-
*) Goethe spricht da („Dichtung und Wahrheit" III, 14) von „der
grenzenlosen Uneigennützigkeit", die aus jedem Satze Spinozas hervorleuchte und
ihn besonders gefesselt habe. Jenes spätere freche Wort Philinens („Wenn ich
dich liebe, was geht's dich an?") sei ihm darum recht aus dem Herzen gesprochen.
Die Goethe-Philologie hat darüber, daß Goethe sich selbst da falsch zitiert
habe, viel mehr geschrieben als über die Tatsache, daß das scheinbar zynische,
in Wahrheit weise Wort der Sünderin in Zusammenhang stand mit der abgründigen
Mystik Spinozas. Philine erblickt in Wilhelm Meister ihren Gott, den sie liebt -
allerdings nicht eben geistig -, ohne Gegenliebe verlangen zu
dürfen.
[30/31]
kung, daß bei
Spinoza der Gott ebenso unpersönlich ist, ohne Willen und ohne Verstand, wie das
Individuum. Und: es habe nie einen erhabeneren Wahn gegeben als den Spinozas,
der mit seinem Pantheismus doch die Schranken des Ich habe durchbrechen wollen.
Aber der Kulturtat, mit der Spinoza in seinem Traktat den Gott aller positiven
Religionen als ein Gebilde menschlicher Phantasie nachwies, unwiderleglich, wird
auch Anna Tumarkin nicht gerecht.
[31/32]
Anna Tumarkin hat nicht erkannt, daß just durch seine
unbarmherzige Kritik aller Theologie Spinoza so einsam wurde unter seinen
Zeitgenossen, wie kein Denker vor ihm oder nach ihm; seine Einsamkeit hat sie
wohl nicht übersehen, doch auch Anna Tumarkin ist professoral-offiziös genug zu
sagen, daß Leibniz unter den Mitlebenden ihn am besten verstanden habe. Ich
halte es für verdienstvoll, diese Legende von den Beziehungen zwischen Leibniz
und Spinoza zu zerstören. Ist es doch oft nützlich, eine in der Gelehrtenwelt
allgemein gepflegte Lüge aufzudecken,
Die Einsamkeit Spinozas zeigte sich weniger darin, daß seine Gegner, die
orthodoxen Scholastiker ebenso wie die durch Spinozas Ehrlichkeit
kompromittierten Kartesianer, die angeblich „Modernen", ihn schmähten, sondern
mehr [32/33] darin, daß auch seine wenigen Anhänger, ihn verleugneten, wenn es
ihnen so paßte, oder ihn überhaupt nicht verstanden. Der erste Biograph
Spinozas, der boshafte Arzt Jean Lucas, wagte sich selbst nicht zu nennen, weil
man sich als Schreiber über Spinoza verbergen müßte, als ob man ein Verbrechen
beginge. Ein Freund Spinozas, der Arzt und Theaterdirektor Johannes Bourmeester,
der doch ein so ketzerisches Buch wie die konfessionslose Robinsonade des
Arabers Ibn Tofail (aus dem 12. Jahrhundert) zu übersetzen berufen wurde,
stellte brieflich die dümmsten Fragen an den Philosophen. Und Tschirnhaus, auch
ein Freund, schrieb den halbverstandenen Spinoza (1687) eifrig aus, nannte ihn
aber nicht, weil er kein Spinozist heißen wollte.
Dieser unzuverlässige Tschirnhaus, vielleicht auch
der noch unzuverlässigere Schuller, der letzte Arzt Spinozas, vermittelten die
persönliche Bekanntschaft zwischen dem damals erst dreißigjährigen, noch nicht
weltberühmten, doch schon sehr selbstbewußten [33/34] Leibniz und dem Schöpfer
der „Ethik". Die Begegnung fand im November 1676 statt, im Haag, in der
Werkstätte des Denkers und Glasschleifers, nur vier Monate vor Spinozas Tode.
Der zudringliche Gast trat wie ein geistiger Eroberer auf, der höfliche Wirt war
ein Sterbender.
Über diese Begegnung
sind wir ganz genau unterrichtet, seitdem Ludwig Stein alles sehr gut (leider
nur zu schonungsvoll für den allzu gefeierten Leibniz) in einer besonderen
Studie gesammelt hat. Und durch einen eigenen Aufsatz hat Theodor Gomperz, - der
übrigens als feiner Kenner und Darsteller der griechischen Philosophen von mir
nicht verkleinert werden soll - die Unterredung der beiden „Ebenbürtigen" zum
Gegenstande einer „poetischen" Schilderung gemacht (1888), die seitdem von
gewissenhaften Fachmännern der Philosophiegeschichte - auch von Freudenthal -
ernst genommen und nachgeahmt worden ist. Als ob ein Hofmaler die Herablassung
eines gekrönten Hauptes zu einem armen Schlucker von Wahrheitsforscher [34/35]
gezeichnet hätte. Leibniz hat heute noch - wie zu seinen Lebzeiten - eine gute
gelehrte Presse, weil er der Stifter und Lenker von Akademien war, als Diplomat
und gefälliger Historiker an vielen Höfen wohlgelitten. Ganz gewiß ohne lügen zu
wollen, hat Gomperz dem Präsidenten der ersten deutschen Akademie geschmeichelt,
wie auch Georg Ebers ganz gewiß nicht lügen wollte, wenn er das Bild eines
längst vermoderten römischen Kaisers ungebührlich verschönerte. Wir vertragen
eine solche Schminkenmalerei nicht mehr in angeblich historischen Romanen; in
einer historischen Darstellung, noch dazu in einer aus der Geschichte des
Denkens, ist sie uns ganz unerträglich,
In Wahrheit war Leibniz lauernd zu dem einsamen Grübler gekommen, der,
ein Schwindsüchtiger, gefaßt, still, heiter und ruhebedürftig seinem nahen Tode
entgegensah. Leibniz wußte seit Jahren, daß Spinoza der Verfasser des
kirchenfeindlichen Traktats war. In Paris erfuhr er ungenau von dem
Vorhandensein des [35/36] damals noch ungedruckten Hauptwerks, der Ethik, die
Spinoza bisher nur die zuverlässigsten Freunde hatte lesen lassen. Leibniz gab
sich Mühe, sich eine Abschrift zu verschaffen; Spinoza, der dem vielgewandten
Herrn nicht traute, gab seine Zustimmung nicht. Leibnizens Aneignungssucht - mag
man nun diese nur aus einer rühmlichen Wißbegierde erklären oder auch aus einem
weniger rühmlichen Beweggrunde - war größer als sein Stolz. Auf einer Reise -
über Holland nach Deutschland - brachte es der kurfürstliche Herr Rat über sich,
uneingeladen den blutarmen und todkranken Glasschleifer aufzusuchen, der im
Verdachte stand, ein unerhörtes philosophisches System niedergeschrieben und
noch nicht veröffentlicht zu haben. Wenn die Begegnung zwischen den beiden
„ebenbürtigen" Männern wirklich so verlaufen wäre, wie die Geschichtsschreiber
der Philosophie es seit dem Vorgange von Gomperz gern haben möchten, so wäre es
doch unerklärlich, daß der Vielschreiber Leibniz nachher keinen Brief mehr an
[36/37] Spinoza richtete, daß er in Briefen an einen gemeinsamen Freund den
„sehr berühmten Naturforscher und sehr tiefen Philosophen" (so hatte ihn Leibniz
vor wenigen Jahren sich anbiedernd genannt) nicht einmal grüßen ließ; Spinoza
wird wohl im Bewußtsein seines Wertes den richtigen Abstand gewahrt haben und so
kam es, daß ihm Leibniz später Eitelkeit vorwarf. Spinoza eitel! Es wäre fast
nicht zu glauben, wenn es nicht bezeugt wäre, daß der hochgestellteste Philosoph
der Zeit sich so über den uneigennützigsten Denker aller Zeiten
äußerte.
Leibnizens Doppelzüngigkeit
gegen Spinoza kann auch von den Offiziösen nicht geleugnet werden und ist an der
Hand seiner Briefe und Schriften nachzuweisen. Er hatte schon vorher den Traktat
ein unerträglich freches und ein entsetzliches Buch genannt, den Verfasser aber
bald darauf seiner eifrigen Verehrung versichert. Nach dem Tode Spinozas will
Leibniz die Erinnerung an den aufgedrungenen Besuch verwischen, rückt von dem
jetzt verrufenen Atheisten [37/38] ab wie von der Leiche eines Pestkranken,
behauptet, ihn nur ein einziges Mal gesprochen und ihm nur einen einzigen Brief
geschrieben zu haben, was unwahr ist. Je angesehener Leibniz wird und je kecker
er den Grundgedanken Spinozas - die Einheit von Geistigkeit und Körperlichkeit -
unter Wahrung der kirchlichen Dogmen ausbeutet, desto mehr wächst seine
Abneigung gegen den Mann, dem er sein Bestes verdankt. Da seine eigene Anlehnung
an Spinoza nicht zu leugnen ist, hilft er sich mit unsauberen diplomatischen
Redensarten: Spinoza habe viele schöne Gedanken gehabt, die den seinigen
entsprechen; Spinozas System wäre richtig, wenn das System von Leibniz nicht
wäre. Das Günstigste, was man noch zur Entschuldigung von Leibniz vorbringen
könnte, wäre, daß er sich als ehrgeiziger Staatsmann hüten mußte oder hüten zu
müssen glaubte, für einen Freund des berüchtigten Freidenkers, des wegen
ungeheuerlicher Ansichten sogar von der Synagoge ausgestoßenen Juden zu gelten.
[38/39]
Ich will nicht ungerecht sein
gegen Leibniz, der in der Entwicklung der Geistesbefreiung zwar nur hemmend
wirkte, als Vermittler und Allerweltsfreund, der aber auf dem Gebiete der
Psychologie der scharfsinnigste Nacheiferer Lockes war und als Mathematiker,
auch wenn seine Abhängigkeit von Newton einmal unzweifelhaft festgestellt werden
sollte, doch durch die neue und brauchbare Methode seiner Differenzialrechnung
eine Meisterleistung hinterlassen hat. Darum - weil also sein Ruhm übertrieben,
doch nicht unberechtigt ist - und weil die Sache wohl immer ein ungelöstes
Rätsel bleiben wird, will ich ihn nicht verdächtigen, daß er das noch
ungedruckte Hauptwerk Spinozas in schlimmer Absicht habe an sich bringen wollen;
wahrscheinlich wollte er sich nur die Ehre sichern, das Buch selbst
herauszugeben, etwa mit abschwächenden und die Überlegenheit des Herausgebers
beweisenden Anmerkungen. Gewiß ist nur, daß der gottsträfliche Arzt Schuller
vorschlug und die Freunde Spinozas ernstlich daran [39/40] dachten, die
Handschrift der Ethik an Leibniz zu verkaufen, um den Preis von 150 Gulden.
Vielleicht um Läpperschulden zu bezahlen: Begräbniskosten, die Rechnungen des
Notars und des Barbiers. Es ging unordentlich und unwürdig zu in dem
Sterbezimmer des Glasschleifers Baruch oder Benedictus de Spinoza.
[40/41]
Seit Lessing erst ist also das Ansehen Spinozas im Wachsen
begriffen. Vorher redete man von ihm „wie von einem toten Hunde". Hundert Jahre
lang wagte fast niemand den Namen Spinoza anders als unter Verwünschungen zu
nennen,
Und dabei waren seine Bücher
so gut wie verschollen. Es war schwer, auch nur ein Exemplar der Ethik des
Maledictus Spinoza aufzutreiben.
Nach
Lessing haben Herder und Goethe in Spinoza ihren geistigen Erlöser gesehen, und
man kann wohl sagen, daß unsere deutsche Weltanschauung, wie sie sich seitdem
auch noch durch Schelling, Hegel und Schopenhauer entwickelt hat, teils
spinozistisch sein will, teils spinozistisch ist. Vollends die Dichtung, weil
sie sinnlich gestaltete Weltanschauung ist, hat in Deutschland seit Goethes
Jugend nicht aufgehört, spinozistisch [41/42] zu sein. Vorher gab es in der
Lyrik eine anthropomorphe, humanisierte Natur, eine Natur mit Menschenfratzen;
jetzt möchte die Menschenseele selbst natürlich empfinden und reden. Früher gab
es im Drama den Zwang von Moral oder Schicksal; jetzt erschrecken wir nicht
mehr, wenn eherne Notwendigkeit des Charakters die schönen Linien der Handlung
wie der Moral durchbricht. Darin übertrifft Spinoza alle Denker vor ihm und nach
ihm, daß er wie keiner vor oder nach ihm die Notwendigkeit, die lachende oder
doch stille Notwendigkeit all und jeden Geschehens immer und ohne Ausnahme
empfunden und ausgesprochen hat, und daß ihn dieser Hohn des Weltlaufs, diese
objektive Heiterkeit der Weltgesetze nicht erschreckt, sondern zur Forderung
einer unzerstörbaren subjektiven Heiterkeit des Denkens geführt hat. Spinoza
hatte wohl unter allen Menschen, die je ihr Denken auf die Nachwelt gebracht
haben, zugleich die tiefste und die hellste Welterkenntnis. Aber er lehrte eine
schlechte, ja recht eigentlich eine ver-[42/43]kehrte Erkenntnismethode. Die
mathematische Methode, die nur auf Mathematik anwendbar ist. Denn: Ziffern sind
keine Worte, die algebraischen Zeichen sind keine allgemeinen
Sprachbegriffe.
Ich möchte empfehlen,
einmal einen ganz neuen Auszug von Spinoza zu veranstalten. Man lasse doch
sämtliche Beweise einfach weg, dazu alle die Definitionen und Lehrsätze, die nur
die Lücken des Systems auszufüllen bestimmt sind. Man ordne dafür die Zusätze
und Erläuterungen, die Vorreden und Anhänge gut zusammen, man füge aus seinem
großen Traktate und aus seinen herrlichen Briefen das Nötige hinzu, und die Welt
wird den unvergleichlichen Philosophen endlich lesen können. Denn so liegt die
Sache bei Spinoza: wo er sich gehen läßt, steht ihm die eindringlichste Sprache
zur Verfügung; wo er unter dem Banne seiner eigenen Methode steht, wo er also
durch mathematische Logik Erkenntnis schaffen will, da sinkt er eigentlich noch
unter die Scholastiker hinab. Diese hatten wenigstens ihre konventionelle
Sprache ge-[43/44]meinsam und konnten einander verstehen was man so sagt.
Spinoza schlägt seine gewaltige und persönliche Weltanschauung an das Kreuz
einer persönlichen und dennoch konventionellen Sprache und wird immer da dem
neueren Sprachgeiste unverständlich, wo er klar zu sein glaubt wie ein
Mathematiker,
Er hat die Scholastik
darin überwunden, daß er wirklich keine Autoritäten kennt. Er zuerst kritisiert
gründlich die Bibel, er zuerst weist auf vergleichende Religionsgeschichte und
schon auf Indien hin, er zuerst wirft sowohl den Platon als den Aristoteles ab.
Aber leider kennt er auch nicht den Zweifel Descartes. Wäre Spinoza ein
Skeptiker gewesen, wie ja doch die Juden geborene Skeptiker sein sollen, seine
Bücher wären der Schlußstein menschlichen Denkens. Auch er aber unterlag dem
Fluche des Menschengeistes, auch er glaubte an eine Erkenntnis durch Begriffe.
Seine Bücher sind dogmatisch geworden, weil er an die Erkenntnis glaubte, weil
er die Erkenntnis nicht immer nach ihrer Herkunft fragte. [44/45] Für Spinoza
gehört die Möglichkeit der Erkenntnis von Ewigkeit mit zur ewigen Natur des
Menschen. Seine Weltanschauung ist der höchste und freieste Pan-Naturalismus und
steht hoch über dem beschränkten Materialismus, der auf ihn folgt. Der
Materialismus vermag das Denken nicht zu erklären; Spinoza versucht es gar
nicht. Der Materialismus ahnt seine eigene Beschränktheit wenigstens; Spinoza
steht noch ahnungslos vor den Widersprüchen seiner
Erkenntnistheorie.
Wer ist denn sein
erkennendes Wesen? Er setzt Gott und die Natur einander gleich und sieht im
einzelnen Menschen nur eine flüchtige Erscheinung Gottes oder der Natur. Sein
Gott hat kein Gehirn, keine Sprache, sein Gott hat keinen Verstand, und sein
Mensch ist eine Erscheinung Gottes oder der Natur. Wer kann also etwas
erkennen?
Und was soll da erkannt
werden,? Gott oder die Natur ist unendlich und ewig und unerkennbar, und außer
Gott oder der Natur gibt es nichts Erkennbares. [45/46]
Hat also Spinoza mit seiner Erkenntnistheorie recht,
so besitzt der Mensch, so besitzt auch Spinoza kein Denkorgan, diese richtige
Weltanschauung zu begreifen und zu beweisen; hat aber Spinoza oder irgendein
Mensch Erkenntnismöglichkeit, so muß die Theorie Spinozas falsch sein. Dieses
traurige Dilemma scheint mir unwiderleglich.
Wie zum Trotz will aber Spinoza seine Lehre nicht nur in Begriffen
mitteilen, sondern sie geradezu nach der Methode der Geometrie beweisen. Und
dennoch war er der tiefste und dazu der überzeugungstreueste
Denker.
Es fällt schwer, bei einer so
übermächtigen Erscheinung erst noch nach der Glaubwürdigkeit zu fragen, bevor
man ihr Zeugnis anruft. Es ist als ob der Leiter einer Gerichtsverhandlung
seinen eigenen Vater nach dem Namen fragen wollte. Und es fällt schwer, bei
Spinoza die Eigenschaft zu benennen, die für seine Glaubwürdigkeit zumeist
bürgen könnte. Unbestechlichkeit, Ehrlichkeit, Tapferkeit, Wahrheitsliebe, alle
diese schönen [46/47] Worte und Namen von Tugenden zerplatzen wie Seifenblasen,
wenn man an ihnen Spinoza zu Ende denkt, der einen Muttermord, wie ihn Nero
beging, kaltblütig und mit Verwerfung des Begriffs „böse" unter die
Naturereignisse rechnet, wie man auch wohl ein einzelnes unregelmäßig geformtes
Blatt nicht ethisch verurteilt. Es heißt darum nicht zu weit ausholen, wenn wir
es so ausdrücken, daß Spinozas Einsicht niemals nachweisbar von den dreierlei
Absichten der gemeinen Menschheit getrübt war, nicht von Liebesgier, nicht von
Hunger und nicht von Eitelkeit. Nur wie der Schatten einer Legende zieht eine
Neigung für jene Clara Maria über sein Leben hin. Bedürfnislos wie ein echter
Orientale verdient er sich seinen Bissen Brot mit einer Handarbeit, die ihm doch
zugleich wissenschaftliche Übung war. Und seine Eitelkeit ist so gering, daß er
es mit Verachtung trägt, verachtet zu werden, und man von ihm wohl mit größerem
Recht als von seinem jüngern Zeitgenossen Malebranche sagen könnte, er habe die
[47/48] Wahrheit gesucht durch jeden Verruf hindurch und jeden guten Ruf (per
infamiam et bonam famam). Zum Erweise seiner Absichtslosigkeit, seiner
sittlichen Hoheit (so dürfte man banal von jedem andern als von Spinoza sagen),
braucht man nur daran zu mahnen, daß und wie es Spinoza ablehnte, als Professor
an einer deutschen Universität mitten unter Verfolgungen ein äußeres Lebensziel
und Sicherheit vor Not zu finden. Der Kurfürst von der Pfalz, der Bruder von
Descartes' Prinzeß Elisabeth, wollte ihn - wie schon erwähnt - zum ordentlichen
Professor der Philosophie an seiner Universität Heidelberg machen. Spinoza
sollte, wie das in der Welt ja' zuweilen vorkommt, der Vorgänger seines
Nachlesers Kuno Fischer werden. Man versprach Spinoza Lehrfreiheit in vollstem
Umfang und deutete nur bescheiden die Erwartung an, „er werde sie nach dem
Vertrauen des Fürsten nicht zur Störung der öffentlichen Religionseinrichtungen
mißbrauchen."
Spinozas Antwort ist
einfach. Er lehnt [48/49] ab, zunächst, weil er nicht weiter denken zu können meint, wenn
er junge Burschen
unterrichten müsse. Dann aber auch, weil ihm kein Kurfürst die Gewißheit geben
könne, er werde nie den
Schein der Religionsstörung auf sich laden. Der Religionsstreit entspringe ja
nicht aus regem Religionseifer, sondern aus allerlei gemeinen
Leidenschaften,
Diese heiligende
Absichtslosigkeit, die „grenzenlose Uneigennützigkeit", verklärt überall
Spinozas armes Leben, Ähnlich wie Lessing verdirbt es Spinoza regelmäßig mit
beiden Parteien, zwischen denen er wählen müßte; nur daß Lessing die Größe
seines Charakters mit Bitterkeit bezahlt, Spinoza sie durch Heiterkeit krönt.
Man könnte sagen, Spinoza sei als Jude in der glücklichen Lage gewesen, sich um
christliche Pfaffen und um ihre Scheiterhaufen nicht bekümmern zu müssen. Im
Jahre 1663, da Spinoza sein erstes Buch herausgab, das Buch über Descartes,
wurde Descartes selbst auf den päpstlichen Index verbotener Bücher gesetzt. Man
könnte sagen: Was ging das [49/50] den Juden Spinoza an? Für die Kirche war die
Lehre Descartes' wahrscheinlich nur darum nicht annehmbar, weil der Begriff der
Einheit aller Substanz der Mythologie von der Transsubstantiation widersprach.
Die Götter waren eifersüchtig aufeinander; dem konfessionslosen Juden konnte das
gleichgültig sein. So könnte man sagen. Und absichtlich vergessen, daß auch der
Jude Spinoza zuletzt vor, der Hetze reformiert-christlicher Geistlichkeit nicht
sicher war; daß wahrscheinlich nur sein früher Tod ihn vor dem grausamern
Ausgang im Kerker bewahrte.
Gewiß war
es günstig für Spinoza, daß er - als er eben die Kirche verließ - aus dem
machtlosen Judentum austrat, und nicht aus dem mit Brandfackeln bewaffneten
Christentum. Es machte ihn auch wohl innerlich freier, daß er in reiferen Jahren
die Legenden nicht erst langsam abzustreifen brauchte; der zum Rabbiner
ausgebildete Jüngling hatte im Alten Testament keine eigentlichen Dogmen
gefunden und hatte die Vorstellun-[50/51]gen der christlichen Scholastik nicht
früh genug kennen gelernt, um für Lebenszeit transzendent zu sein. Eine ganze
Anzahl mittelalterlicher Wortfetische konnten ihm den Verstand nicht verrenken
wie einem Descartes noch. Gewiß war es gut für ihn, daß seine nächsten Feinde
nicht Dominikaner mit ihren Scheiterhaufen waren, sondern nur armselige
Rabbiner, die ihn anspien. Der ganze Abstand zwischen christlicher und jüdischer
Glaubenstollwut liegt darin, daß die erste verbrennen durfte, die zweite aber
nur anspeien. Gewiß, hätte man einen christlichen Spinoza in Stücke gerissen,
wenn er christlichen Glaubensrichtern mit sokratischer Ironie geantwortet hätte,
wie Spinoza - man erzählt es - dem Rabbiner Morteira: „Spinoza habe bei ihm
Hebräisch gelernt, so möge denn der Rabbi jetzt an ihm das Verfluchen lernen."
Gewiß ist es ein Beweis der Ohnmacht seiner Gegner, daß die Juden einen Spinoza,
auf den sie jetzt gern stolz sein möchten, durch die schmutzigste Bestechung,
durch das Anerbieten eines [51/52] Jahrgehalts von tausend Gulden, zum Schweigen
zu bringen suchten,
Aber am 27. Juli
des Jahres 1656 wurde doch in der Synagoge von Amsterdam der große Bann über
Spinoza ausgesprochen, wohlgemerkt, nachdem zuerst das Attentat auf seine Seele
durch die Bestechung und vielleicht auch ein Attentat auf sein Leben
vorausgegangen war. Wir kennen durch Gutzkows Theaterstück den Eindruck eines
solchen ohnmächtig-blutdürstigen jüdischen Bannfluchs. Wir kennen jetzt auch den
Wortlaut dieses Cherem, wo es nicht ohne eine gewisse Poesie der Bestialität
unter anderm heißt:
„Nach dem Urteile
der Engel und dem Beschlusse der Heiligen bannen, verstoßen, verwünschen und
verfluchen wir den Baruch de Espinosa mit der Zustimmung Gottes und dieser
heiligen Gemeinde im Angesichte der heiligen Bücher der Thora und der
sechshundertdreizehn Vorschriften, die darin geschrieben sind; mit dem Banne,
womit Josua Jericho gebannt, mit dem Fluche, womit [52/53] Elisa die Knaben
verflucht hat, mit allen Verwünschungen, die im Gesetz geschrieben stehen. Er
sei verflucht bei Tag und sei verflucht bei Nacht! Er sei verflucht, wenn er
schläft, und sei verflucht, wenn er aufsteht! Er sei verflucht bei seinem
Ausgang und sei verflucht bei seinem Eingang! Der Herr wolle ihm nie
verzeihen."*)
Die Worte dieses
symbolischen Anspeiens konnte Spinoza - so empfinden wir heute - ruhig
verachten. Aber es blieb nicht bei Worten allein. Der „Cherem" schloß mit einer
vollständigen Verfemung des Opfers. Die Lebensmöglichkeit soll ihm genommen
werden. Niemand soll „vier Ellen weit von ihm" verweilen. Auch seine Schriften
werden verboten und die Rabbiner schämen sich
*) Es
scheint, daß die grausigste Symbolik einer jüdischen Verfluchung bei dem Banne
über Spinoza nicht angewandt wurde: das furchtbare Auslöschen schwarzer Kerzen
in einer Schüssel mit frischem Blute. Wahrscheinlich nur darum nicht, weil das
Verbrechen Spinozas aus juristischen Gründen damals noch nicht als
Gotteslästerung aufgefaßt werden konnte, sondern nur als
Ungehorsam.
[53/54]
nicht als ob sie
Dominikaner gewesen wären, auch den weltlichen Arm gegen Spinoza zu lenken.
Nicht lange vorher, als der achtjährige Knabe in der Rabbinerschule die
Bewunderung seiner Lehrer erregte, hatte ein ähnlicher Cherem den feurigen und
begabten Uriel da Costa dazu getrieben, seinem durch Rabbinergeifer beschmutzten
Leben mit einem Pistolenschuß ein Ende zu machen.
Das war es, was Spinoza seinem Judentum äußerlich
verdankte. Ihm freilich vermochte jüdischer Pfaffenmund nichts anzuhaben, ob der
Mund Worte sprach oder schäumte. Wir müssen ihn uns vorstellen, wie er mit der
Weltverachtung eines Heiligen durchs Leben ging. Noch im Tode mag er diesen
Ausdruck festgehalten haben, was dann einem immerhin anständigen Gegner Anlaß
gab, unter das Titelbild einer Lebensbeschreibung Spinozas zu setzen. Der
Meister des ersten Lehrgebäudes unter den feineren Atheisten, der Fürst der
zeitgenössischen Atheisten habe sein unseliges Leben geschlossen mit dem
Aus-[54/55]druck der Verdammnis im Gesicht (characterem reprobationis in vultu
gerens.)*)
Schon
Hegel hat auf den Doppelsinn des Wortes hingewiesen (aber gewiß nur Goethe
folgend - er schreibt ihm dabei einen Gedächtnisfehler nach -, der schon
„Verwerfung und Verworfenheit" übersetzt hatte), wie denn réprobation im
Französischen heute noch sowohl die passive Verworfenheit als die aktive
Mißbilligung bedeuten kann. Für Verworfenheit, für Verdammnis mußten Pfaffen den
tiefen Zug von Verwerfung und Verdammung halten, mit dem Spinoza in die
Einsamkeit ging, um - nicht für die Juden - für den weltlichen Arm eine
Verteidigungsschrift zu schreiben, aus der dann später in politisch kritischer
Zeit der große theologisch-politische Traktat geworden ist.
Dieses bahnbrechende Buch geht
uns hier zunächst nur so weit an, als es das stille Heldentum, die heitere
Todbereit-
*) Eine Wiedergabe dieses Bildes wurde unserer
Ausgabe beigefügt; es geht auf das Portrait zurück, das Spinozas Freunde dem
Drucke der Opera postuma beigegeben haben.
[55/56]
schaft Spinozas, deutlich beweist. Nur Lessing wieder hat 100 Jahre
später, wo freilich nicht mehr so leicht verbrannt und gemordet wurde, in ebenso
freier Weise zugleich gegen die Orthodoxie und gegen die „Halben" gekämpft. Die
Orthodoxen und die „Halben", scheinbar grimmige Feinde, waren doch einig in dem
Hauptpunkte" es könne in der Bibel nichts Falsches stehen. Daß die „Ganzen"
daraus den Schluß ziehen, es müsse also jedes Bibelwort wörtliche Wahrheit
enthalten, daß die halben Pfaffen nur folgern, es müsse jedes unhaltbare
Bibelwort darum bildlich oder sonstwie anders gedeutet werden, - das ist
gleichgültig; ernsthafte Bibelkritik war erst möglich, wenn man die Möglichkeit
zugab, die Bibel könne Falsches, könne Unsinn enthalten, wie jedes andere
Menschenwort. Dies hat Spinoza ausgesprochen; ohne ihn sind Voltaire, Lessing
und Strauß nicht zu denken.
Wieder
100 Jahre nach Lessing hat diesen klaren Satz Anzengruber am einfachsten und
lustigsten wiederholt („Der [56/57] G'wissenswurm", I, 8). Der Bauerntartüff
beruft sich auf ein Bibelwort. „Wird doch kein Unsinn g'schrieb'n stehn?!" fragt
der geplagte Grillhofer. „Und warum net?" ist Dusterers Gegenfrage, in der der
ganze theologisch-politische Traktat zusammengezogen scheint. Daß es der fromme
Bauer ist, der diese vernichtende Frage stellt, ist ein recht Lessingscher,
genialer Zug. Und ich kann aus eigenem Wissen bemerken, daß Anzengruber wußte,
wie viel vom Pantheismus Spinozas und vom Wahrheitsstreben Lessings ihm
„angeflogen" war; den theologisch-politischen Traktat selbst kaufte er erst viel
später auf einer Sommerreise, von einem Bahnhofbuchhändler, in der wohlfeilen
Übersetzung der Reclamschen Bibliothek, und erhielt einen übermächtigen
Eindruck.
Diese drei Namen können
zugleich als Beispiel dienen dafür, wie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
ein mit Beifall aufgenommener Schlager sein konnte, was hundert Jahre vorher
selbst einem Lessing von seinem Fürsten das Verbot theo-[57/58]logischer
Schriftstellerei eintrug, was 200 Jahre vorher den Verfasser des
theologisch-politischen Traktats in Lebensgefahr brachte. Die Erregung gegen ihn
war so groß, daß er sein Hauptwerk bei seinen Lebzeiten nicht drucken lassen
konnte. Und eben in dem Jahre 1675, als Spinoza in dem freien Amsterdam
vergebens einen Verleger für seine „Ethik" gesucht hatte, lag alles so
ungünstig, daß selbst seine Bewunderer ihn zu einer Art Widerruf bewegen
wollten. Es war einer, den Spinoza seinen Freund nannte, 0ldenburg, der ihm
schrieb, „man" nehme besonders Anstoß an Spinozas Gleichstellung von Gott und
Natur, an seiner Verachtung der Wunder und an seinem unklaren Standpunkte zu dem
Gottmenschen Jesus Christus. Und noch schöner als der Traktat, der vom
Buchhandel als Schmuggelware behandelt wurde, zeigt den ruhigen Mut Spinozas die
Antwort, die er nicht viel mehr als ein Jahr vor seinem Tode, ein
schwindsüchtiger Mann, an den zudringlichen, ängstlichen Oldenburg nach London
richtete. Was den [58/59] ersten Punkt betrifft, so bekennt er sich offen zu
seinem Pantheismus; wer aber glaube, Spinoza verstehe unter Natur eine tote
Masse, wer ihn also (nach unserm Sprachgebrauch) für einen Materialisten halte,
der verstehe ihn nicht. Was die Wunder anbelangt, so dürfe sich der Glaube nur
auf die Weisheit der Offenbarungen stützen, nicht auf ihre Wunder, d. h. auf
Ignoranz. Darum unterscheiden auch die Christen von den Bekennern anderer
Religionen (es ist mir, als ob das Original von Lessings Nathan nicht der
subalterne Mendelssohn, sondern der Spinoza dieses Briefes wäre) nicht die
Treue, die Liebe und andere Früchte des h. Geistes, sondern allein eben die
Meinung (opinio), weil auch die Christen ihre Religion auf Wunder allein gründen
wollen, also auf Unwissenheit, die die Quelle aller Bosheit sei. Was endlich die
Menschwerdung Christi anbelangt, so erklärt der Jude Spinoza ganz ausdrücklich,
er könne den Sinn der Worte nicht verstehen; er bekenne offen, daß ihm solches
Reden nicht weniger ab-[59/60]surd vorkomme als ein Geschwätz von der Quadratur
des Zirkels.
Was heute alltäglich
ist, war damals eine seltene Tat. Er verläßt das Judentum und schließt sich den
Christen nicht an. Er verlacht den Rationalismus in der Theologie und ist in der
Philosophie so sehr Rationalist, glaubt so fest an den Wert der Vernunft, daß er
den herrschenden Dualismus überwindet und damit die Modernen jener Tage, die
eigentlichen Kartesianer, die er dumm, nennt, aufs äußerste reizt. Er wirft das
Gebäude aller Frommen um, und bannt doch für alle Folgezeit die beschränkten
Materialisten - vier Ellen weit - von sich fort. Daß er dabei im Traktat dem
Alten Testament feindlicher scheint, als dem Neuen, ist wohl aus seiner
gründlicheren Kenntnis zu erklären. Nirgends ist die Einsicht von irgendeiner
Absicht getrübt. Nicht im Leben, nicht im Denken, nicht in der Philosophie,
nicht in der Politik. Denn auch als Politiker ist Spinoza ein reiner Charakter.
Da die Oranier in den Niederlanden fast königliche [60/61] Macht gewinnen, da
sie ihre Gegner, früher einen Oldenbarneveld und jetzt die de Witt bald
gesetzlich, bald ungesetzlich ermorden lassen, schreibt der gebannte Jude
Spinoza zugunsten dieser aristokratisch-republikanischen Partei, und verficht
doch wieder (mit Hobbes) die Staatsallmacht über die Kirche. Und diesem
allmächtigen Staate endlich spricht er das Recht ab, die Denkfreiheit zu
beschränken.
So ist er ein Denker
ohne Furcht und Tadel, ein klassischer Zeuge. [61/62]
Nur ein dunkler Punkt ist vorhanden: Spinozas
Gottesbegriff.
Wie wir wünschen,
Spinoza hätte uns seine Weltanschauung ohne seine Beweise gegeben, d. h. seine
Gedanken ohne seine Sprache, so wünschen wir auch, er hätte das Doppelspiel, das
Gott der Natur gleichsetzt (Deus sive natura) und willkürlich bald „Gott" und
bald „Natur" sagt" aufgegeben und das Wort „Deus" mit allen schwerfälligen und
sophistischen Definitionen und Folgerungen dieses Wortes uns erlassen. Wir haben
anfangs oft den Eindruck, Spinoza habe da nur vorsichtig gehandelt und sich
selbst ein Hintertürchen offen gelassen, durch welches er die Schüler aus seinem
Hause, der Natur, zu „Gott" hinauswerfen konnte, während doch sogar der Riese
Kant weniger stolz war und das Hintertürchen der Moral öffnete, um Gott
da-[62/63]durch wieder als Herrn einzuführen. Rücksichtsvoller gegen die
Theologie als gegen die Philosophie. Erst der tapfere Forberg wagte es (in der
Abhandlung, die zum berühmten Atheismusstreit Fichtes den Anstoß gab), die leise
Andeutung Kants auszudeuten und vernehmlich zu sagen: wir wollen so handeln, a1s
ob es einen Gott gäbe.
Es wäre aber
unhistorisch, einem Spinoza unsere Denkgewohnheiten unterzuschieben. Großstädter
sind jetzt in den Jahren, wo man im Glauben konfirmiert zu werden pflegt, mit
den Begriffen: Gott, Engel u. dgl. schon fertig. Wir brauchen nachher das Wort
„Gott" nicht mehr, wie wir nachher nicht mehr vom Storch sprechen. Man bedenke
doch, daß wir darin wieder um ein Wort ärmer oder um eine Freiheit reicher
geworden sind als z. B. Lessing und Voltaire, die das Wort noch emsig hin und
her wendeten, um seinen Inhalt zu finden. So wird bald auch die Zeit kommen, wo
die völlige Hohlheit des Begriffs Substanz oder Materie erkannt sein wird. Für
Spinoza war Substanz [63/64] (übrigens identisch mit Gott) noch der höchste
Begriff, und wir nehmen ihm diese Scholastik nicht übel. Warum wollen wir ihm
den Gottesbegriff schlimmer deuten?
Wir sind diesem Begriff gegenüber wirklich noch zu nervös. Die Geschichte
des christlichen Gottesbegriffs erzählt eine solche Fülle von Dummheit und Trug,
von Gewalttat und Feigheit, daß wir uns über jeden freien Kopf ärgern. der
diesem Begriff auch nur die geringsten Zugeständnisse macht. Und bei Spinoza
werden wir - aber nur, weil Spinoza uns gelebt hat - anfangs die Empfindung
nicht los, ihm sei, wie einst dem Epikuros die Götter nur die Lückenbüßer der
Kenntnis waren, sein Gott bestenfalls nur ein altes Wort für das neugefundene x,
für die Unbekannte, die natura naturans (die wirkende Natur), auf welche die
natura naturata (die Wirklichkeitswelt) als letzte Ursache hinzuweisen
schien.
In jüngeren Jahren war ich
geneigt, Spinoza einer feigen Vorsicht zu zeihen. [64/65] Schopenhauer hatte
mich irregeführt, der dem Juden Spinoza, gegen den er bei aller Bewunderung das
niedrige Wort vom foetor judaicus gebraucht, geradezu Unaufrichtigkeit vorwirft.
„Eine Schwierigkeit besonderer Art hat Spinoza sich dadurch aufgebürdet, daß er
seine alleinige Substanz Deus nannte; ... er tat es, damit seine Lehre weniger
Anstoß fände."
Das ist unhistorisch
geurteilt, wie gesagt. Das Wort Deus war für Spinoza noch ein Begriff aus der
Welt des Denkens; es konnte ihm noch nicht einfallen, das Wort zu veräußern oder
es wegzuwerfen wie einen alten Kaftan. Er hielt es für seine Pflicht, den
Begriff zu verinnerlichen, ihn von abergläubischen Zutaten zu befreien, den
Kaftan zu reinigen. Und wahrhaftig, seine Definition des Gottesbegriffs war
nicht vorsichtig. Uns ist sie lästig, weil wir des Wortes nicht bedürfen, weit
es sich als ein störendes Synonym zwischen uns und Spinozas Natur schiebt; wir
wissen, daß unsere Sprache über die natura naturata hinaus nicht bis zur natura
naturans gelangen [65/66] kann. Aber geheuchelt hat Spinoza darum nicht. Sein
Deus hat nicht gehindert, daß er bei Lebzeiten und noch im Grabe der Fürst der
Atheisten genannt worden ist. Der Gott Spinozas hat nichts mit irgendeiner
religiösen Anschauung zu tun; sein Gott ist kein konfessioneller Begriff.
Spinoza sagt einmal tief und groß: Gott zuzumuten, daß er das Gute allein
schaffen (also nach guten Zwecken allein handeln) könne, nicht auch das
sogenannte Böse, heiße ihn von etwas Fremdem, von der menschlichen Idee des
Guten abhängig machen; es sei für Gott weniger schlimm, ihm Willkür zuzutrauen,
,was Spinoza doch wieder für töricht erklärt.
Dieses Leugnen aller Zweckursachen, aller Absichten
(bei Gott oder der Natur), dieses Betonen der ausnahmslosen Notwendigkeit der
Welt, das wie Beethovens Siegessymphonie vernichtend zugleich und jubelnd über
uns hereinrauscht, dieser Grundgedanke Spinozas, den er auch seinem Gotte nicht
erläßt, scheidet seine Lehre wie von allen frühe-[66/67]ren Denkern, so auch von
aller „Religion". Darum besteht ja die Religion nicht vor der interesselosen
Einsicht, weil sie immer Interesse ist. Auch der Judengott hatte bei seiner
Weltschöpfung einen Zweck; er schuf die Welt für den Menschen. Natürlich! hatte
doch der Mensch sich ihn zu diesem Zweck erdacht. Einerlei, ob hier oder drüben,
immer verspricht Religion etwas, sie will also immer etwas Künftiges, einen
Zweck. Immer nennt sie einen wollenden Gott, dem sie den sollenden Menschen
gegenüberstellt. Gott will, daß ich solle. Ich soll, damit Gott wolle, mir wohl
wolle.
Weniger roh lehren die
Philosophen dasselbe. Immer ist ihnen der Mensch das Maß der' Dinge, ohne daß
sie es immer wissen oder sagen. Weil der lebende Mensch Erinnerung oder Sprache
besitzt, weil er mit ihrer Hilfe die ewige Gegenwart in Vergangenheit und
Zukunft auseinanderhalten kann, darum verlegen sie die Zukunft auch in die
Wirklichkeitswelt und lassen sie durch Zwecke oder Absichten auf die Gegenwart
wirken. [67/68] Alle sind sie teleologisch, alle bis auf den einen Spinoza.
Alle, wenn man von den großen Skeptikern absieht, den wahren Alleszermalmern.
Platon und Aristoteles sehen in der Natur Zwecke verwirklicht, und alle Neuen
kehren zu den Absichten des alten Judengottes zurück. Kant selbst stellt,
nachdem er groß die Unerkennbarkeit der innern Weltordnung dargetan hat, doch
wieder eine erkennbare, höhere Weltordnung, die moralische auf, ein
kategorisches Soll neben das Wollen des moralisch erschlossenen Gottes. Ja sogar
die gottlose und gottesmörderische Welt Schopenhauers soll noch etwas, wenn auch
nur die Weltflucht. Einzig und allein der Deus Spinozas will nichts. Er hat gar
keinen Zweck, weshalb der Mensch auch nichts soll. Der Mensch hört auf, das Maß
der Dinge zu sein. Weder dürfe man etwas gut nennen, weil Deus es angeblich
gewollt habe; noch dürfe man glauben, Deus habe das und das gewollt, weil es gut
sei. Die Aufhebung des persönlichen Gottes ist im Deus Spinozas besser erreicht,
als im [68/69] „Stoff" der Materialisten, der sich „aufwärts" entwickelt, also
zweckvoll; besser als im „Willen" des Atheisten Schopenhauer, der schon nach
seinem Namen einen Zweck „wollen" muß.
Nur scholastisch freilich kommt Spinoza dazu, seinem Deus die
Erkennbarkeit abzusprechen. Jede Bestimmung sei eine Verneinung; denn jede
Bestimmung einer Definition gehöre nicht zum Wesen der Sache, sondern sei im
Gegenteil ihr Nichtsein. Es ist also jede Definition, ich würde sagen, jede
Erkenntnis, nur eine Umgehung der Wirklichkeit. Darum kann auch das höchste
Sein, auch Deus nicht erkannt werden, darum können wir uns von seiner
Persönlichkeit, von seinem Wollen oder seinem Verstande keinen Begriff machen.
Spinoza kennt wohl' das Wort „Persönlichkeit", aber er kann sich nicht viel
dabei denken. Was seine Persönlichkeit sei, werde Deus wohl erst am jüngsten
Tage seinen Gläubigen enthüllen, fügt Spinoza hinzu; und mag bei diesen Worten
wohl besonders scharf den character reproba-[69/70]tionis im lächelnden Antlitz
getragen haben.
Der unendliche,
undefinierbare, unpersönliche Deus hat also gar keine Individualität; und so
gehört zu seiner Natur auch kein Verstand und kein Wille, wobei Spinoza die
tiefe Einsicht besaß, daß der Wille nichts dem Verstande Entgegengesetztes,
sondern gleich ihm Vorstellung sei. Spräche man dem Deus Verstand und Wille zu,
so käme das auf eine willkürliche Benennung hinaus, da des Deus Verstand und
Wille von unsern gleichbenannten Seelenkräften himmelweit verschieden sein
müßten, himmelweit, wie etwa das Sternbild des Hundes am Himmel und der Hund,
der unter meinem Fenster bellt. Nur die Worte seien gleich.
Es tut nichts, daß Spinoza auf scholastischem Wege zu
seiner einheitlich großen Weltanschauung kommt. Auch Jesus kam auf einem Esel;
und Spinozas Weltanschauung war in ihm, bevor er sie sich bewiesen hatte; wie
wir ja wissen, daß der Satz früher ist als das Wort, der [70/71] Schluß früher
als die Prämissen. So ist es auch gleichgültig, daß Spinoza sich und die
geometrische Methode quält, um in seinem Deus die gewaltige Vorstellung von der
Weltkette der durchgängigen Notwendigkeit und das Menschenwort Freiheit zu
vereinigen. Außer dem Deus gäbe es nichts, es sei also nichts vorhanden, von dem
er bestimmt werden könne, also sei Deus frei; und da doch Notwendigkeit zu
seinem Wesen gehöre, so sei es eine freie Notwendigkeit. So sinnlos konnte
selbst Spinoza Worte aneinanderreihen. Es fiel ihm noch nicht ein, eben aus solchen Gründen
Gott zu leugnen, weil nämlich Freiheit zu seinem Begriffe gehören müßte, wenn er
existierte, und weil es doch auf dem Weltenrund nichts gäbe als die eherne
Notwendigkeit. Einerlei. Wie die mathematische Methode die bis zum Extrem
getriebene Verirrung Spinozas ist, der ärgste Mißbrauch des Worts, so ist das
Mathematische seiner innern Weltanschauung bewunderungswürdig. Sub specie
aeternitatis, zeitlos also, geht die Welt aus Deus [71/72] hervor, nicht als
Schöpfung, nicht als Folge, vielmehr - so möchte ich sagen - als Eigenschaft,
wie die Gleichheit der Radien aus dem Kreisbegriff. So kann Spinoza schreiben -
hart an der Wahrheit vorbei, aber gewiß ganz aufrichtig: „Auf die Frage, ob ich
von Deus eine so klare Idee habe wie von einem Dreieck, antworte ich mit ja.
Fragst du aber, ob ich von Deus ein so klares Bi1d habe, wie von einem Dreieck,
so sage ich nein." Nur daß „Idee" nicht mehr sei als „Wort", wußte Spinoza
nicht. Er war Platons Ideenlehre gegenüber doch nicht Nominalist
genug,
Es kann nicht oft genug
wiederholt werden, daß in dieser Überschätzung der Ideen zugleich Spinozas
Darstellungsmangel und seine Abhängigkeit von der höchsten Idee beruht, von
seiner höchsten Idee, von seinem Deus. Und immer wieder muß es beklagt werden,
daß die stolze Gewißheit von seiner Weltanschauung ihn an ihrer sprachlichen
Form nicht zweifeln ließ. „Wer eine wahre Idee hat, der weiß auch, daß er eine
[72/73] wahre Idee habe, und kann an der Wahrheit der Sache nicht zweifeln."
Nach Spinoza offenbart das Licht sich selbst und die Finsternis, und die
Wahrheit prüft sich selbst und das Falsche. Wahre Vorstellungen sind ihm über
jeden Zweifel erhaben, denn sie seien nicht stumme Gemälde, sondern das Denken
selbst. In diesem Vertrauen auf Ideen oder Worte ist also Spinoza ganz
aufrichtig, wenn ihm der Begriff seines Deus ein Herzensbedürfnis ist, wenn ihm
von da aus alles überaus klar zu werden scheint, wenn ihm auf der Stufenreihe
der menschlichen Erkenntnis sein Deus als das Höchste und beste Wissen, als die
intuitive Erkenntnis erscheint. Er hat vergessen, daß diese eine unmittelbare
anschauliche Erkenntnis sein muß und daß er von Gott wohl einen so klaren
Begriff hat wie von einem Dreieck, nicht aber eine solche Anschauung
(imago).
In der von ihm gelehrten
Stufenfolge der menschlichen Erkenntnis, die ihn zum Deus führt, sehen wir
Spinoza gewaltig um die Wahrheit ringen. Er zwingt sie [73/74] nur nicht, weil
seine Waffen Worte sind, die Wahrheit aber ungreifbar, weil wortlos. Es ist der
Kampf des Menschen mit der Wahrheit ein Kampf des Bären mit dem Adler; das
plumpe Tier kann die Erde nicht verlassen, das Wort.
Ich glaube aber nicht, daß ich Spinozas Vorstellungen
entstelle, wenn ich seine Stufenfolge der Erkenntnis mit Worten meiner Sprache
auszudrücken suche; Spinoza wäre tot, dürfte man ihn nicht mehr
übersetzen.
Die erste Stufe ist die
Erkenntnis durch Worte. Diese führt notwendig zum Irrtum. Spinoza muß dabei
geahnt haben, daß diese Abstraktionen, die er darum verworren nennt, immer nur
tastend und versuchend um die Wirklichkeitswelt herumjagen, nie aber in sie
selbst eindringen.
Man hat diese
erste Stufe der Erkenntnis ganz richtig dem Standpunkte des naiven Realismus
gleich gestellt, der all das und nur das für wahr hält, was seine Sinne ihm von
der Welt erzählen. Nur kann ja der naive Realismus noch [74/75] nicht wissen.
daß diese Angaben der Zufallssinne wie die gesamte äußere Welt so auch das
gesamte innere Denken allein ermöglichen, daß dieses naive Weltbild sich auch in
dem Wortvorrat und in den Formen der Umgangssprache ausprägt. Die erste Stufe
der Erkenntnis ist die der menschlichen Gemeinsprachen. Erst durch Bildung einer
wissenschaftlichen Sprache (man sagt gewöhnlich: durch das Entstehen von
Wissenschaften) wird die nächsthöhere Stufe erreicht.
Die zweite Stufe der Erkenntnis ist die der reineren
Vernunft, welche die Dinge wesentlich unter einem gewissen Gesichtspunkt der
Zeitlosigkeit betrachtet. So möchte ich den berühmten Satz von der Spezies der
Ewigkeit wiedergeben. Denn die Welt begreifen, heißt das eherne Band ihrer
Notwendigkeit begreifen. Lückenlos ist diese ewige Kette der Notwendigkeit. Eins
folgt aus dem andern, aber nicht logisch, auch nicht in der Zeit. Zeitlos wie
die mathematischen Gesetze, zeitlos wie die Gleichheit der Radien aus dem
Kreisbegriff, so zeitlos und [75/76] darum ewig folgt das eherne Band der Welt
aus dem Substanzbegriff des Deus. Und so scheint mir erklärt, was Spinoza unter
dem Gemeinsamen verstanden habe, unter dem, was auf der zweiten Stufe der
Erkenntnis den Dingen der Welt „gemeinschaftlich", was darum ewig ist. Kirchmann
und andere haben unter den Communia wieder nur Begriffe verstanden, Kuno Fischer
hat gar keine Erklärung versucht. Spinoza aber gibt deutlich zu verstehen, daß
er unter den Begriffen oder Universalien der ersten Erkenntnisstufe diejenigen
Abstraktionen sich denke, die sich der einzelne Mensch je nach seinem Verhältnis
zu den Gegenständen, nach seinem Interesse, nach zufälligen Eindrücken mache.
Die bloßen Bilder. Der eine denke sich unter „Mensch" das Geschöpf mit dem
aufrechten Gang, der andere das Tier, das lachen kann, oder das zweibeinige Tier
ohne Federn, oder das vernünftige Tier. Ebenso gehe es mit den Begriffen oder
Universalien „Hund" oder „Pferd". Darum führt ja eben die erste Stufe mit ihren
[76/77] Begriffen zum Irrtum; darum können die Communia der zweiten Stufe, darum
kann das Gemeinsame in den Dingen, das zur Wahrheit führt, nicht in Begriffen
bestehen oder in Worten. Und wenn ich communia mit „Gesetze" wiedergebe, wenn
ich mir Spinoza so erkläre daß die Einzeldinge und die von ihnen abgeleiteten
Begriffe an der Zeit kleben und darum vom Irrtum nicht loskommen, daß allein in
den zeitlosen, mathematischen Beziehungen der Dinge, also in ihren ewigen
Gesetzen, die Wahrheit stecke, so glaube ich einen Augenblick, über Spinoza,
indem ich ihn richtig verstehe, hinausgekommen zu sein. Doch nur einen
Augenblick. Das Wort „Gesetze" ist uns nur vertrauter, weil es ein
mythologischer Begriff neuerer Prägung ist; Spinoza war weiser, da er nichts
weiter behauptete als „etwas, was den Dingen gemeinsam" sei.
Der Inbegriff dessen, was auf dieser zweiten Stufe
erkannt wird als das Wesentliche, Zeitlose, Gemeinsame der Welt, ist für Spinoza
das Wirkliche, die wirkliche Natur, die natura naturata; darüber [77/78] hinaus
erkennt er auf der dritten und höchsten Stufe intuitiv im Deus die Einheit aller
Gesetze, das Bewirkende, die wirkende Natur, die natura naturans, ich glaube
bestimmt, daß Lessings Maler (in „Emilia Galotti") diesen pantheistischen
Gottesbegriff wiedergeben will, wenn er von der „plastischen Natur" spricht und
- ganz Lessing - zweifelnd hinzufügt: „wenn es eine gibt." (Das Wort „plastische
Natur" stammt von einem englischen Platoniker, ist aber
spinozistisch.)
Die dritte Stufe der
Erkenntnis möchte ich freilich am liebsten noch freier so übersetzen, daß sie
den Trug der Wissenschaften, den Trug der vermeintlich erkannten Gesetzmäßigkeit
in der natura naturata durchschaue. So gefaßt, wäre Spinozas „Intuition" der
Zweifel an dem Werte der wissenschaftlichen Sprache, der Weg zur resignierten
Skepsis. Das hieße aber, über Spinozas heitere Weltanschauung einen dunklen
Schleier werfen, seinen frohen Glauben in einen Unglauben, seine Sehnsucht in
eine Negation umwandeln. Spinoza, der Fürst des [78/79] Atheismus, der Verfasser
des liber pestilentissimus, ist in seinem Empfinden kein
Skeptiker.
Spinoza zweifelt nicht an
der Erkennbarkeit der natura naturans, des Wirksamen, das freilich auch für uns
nicht weniger begreiflich ist, als die natura naturata, als das Wirkliche. Ihm
ist die Welt ein Buch. Auf der ersten Stufe buchstabiert das Kind gedankenlos;
auf der zweiten Stufe faßt es die einzelnen Sätze, auf der dritten Stufe
versteht es den Sinn des Ganzen.
So
glaubt Spinoza ganz ehrlich und aufrichtig seinen Deus zu verstehn. Und weil es
ein pantheistischer Deus ist, weil er nichts anderes ist, als die Welt selbst,
und weil Spinoza Freude hat an der ehernen Weltkette, darum liebt er seinen
Deus. Denn Spinoza hat die Liebe scheinbar so nüchtern und doch so tief erklärt
als:[!] Fröhlichkeit, verbunden mit der Vorstellung ihrer äußern Ursache. Er
fühlt den Deus in der ganzen Welt, auch in sich selbst, als Ursache der Welt,
als Ursache seiner selbst (nämlich Gottes sowohl als [79/80] Spinozas), und so
liebt er ihn, seine mystische Weltseele, er liebt ihn mit übermenschlicher
Liebe, mit lächelnder Resignation, ohne Hoffnung auf Gegenliebe, ohne
Eifersucht, er liebt ihn, wie man die einzig Geliebte lieben würde, wenn sie
zeitlos und körperlos wäre, ein Gedankenbild. Spinoza wäre nicht, der er war,
der größte und heiterste Denker, wenn er nicht bei allem Scharfsinn doch die
blaue Blume gepflegt hätte, die letzte Zuflucht des gequälten Denkens, die
Mystik. Wie wir noch sehen werden.
Diese Heiterkeit verliert, wer nicht in den mystischen Abgrund springt,
wer jede Mystik für das Asyl der Verzweiflung hält und doch die Verzweiflung
nicht fürchtet, wenn nur heiliger Zweifel zu ihr führt.
Noch einmal also: Spinoza hat in gutem Glauben an den
Wert der menschlichen Sprache den Begriff „Gott" so ruhig untersucht, wie den
Begriff „Substanz"; er hat in beiden etwas Wirkliches erblickt, und sogar in
beiden ein und dasselbe: das Wirksame. So ist auch sein [80/81] Deus kein Grund,
auf seine Aufrichtigkeit einen Verdacht zu werfen; wohl aber ist sein Deus das
erste und stärkste Beispiel dafür, wie sich Spinoza wohl in seiner
Weltanschauung über alle Zeiten erheben konnte, in seinem Sprachgebrauch aber
niemals sicher war, zurückzusinken in die Scholastik. [81/82]
An dieser Stelle muß ich, wie schon einmal („Geschichte des
Atheismus" II, S. 349), ein Gerücht erwähnen, nach dem das Wort „Gott" in der
ursprünglichen Fassung der „Ethik" gar nicht vorgekommen sei. Johannes Clericus
(Jean le Clerc), ein niederländischer Aufklärer von einiger Feigheit, übrigens
von starker Gelehrsamkeit und wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit, hat dieses
Gerücht 1724 gebucht, nach der Erzählung eines „glaubwürdigen" Mannes. Spinoza
habe sein Werk in holländischer Sprache verfaßt und es von dem Arzte Lodewyk
Meyer ins Lateinische übersetzen lassen; das Wort Gott sei in dem Buche nicht
vorgekommen, nur das Wort Natur. Der Arzt habe die Gefahr erkannt und Spinoza
habe eingewilligt, das verfälschte Wort Deus einzufügen. Die Frage, ob Spanisch
oder Holländisch die Mutter-[82/83]sprache Spinozas gewesen sei, ob er sein
Lebenswerk wirklich zuerst holländisch abgefaßt habe, mag dahingestellt
bleiben.*) Die andere Frage, ob es in den vielen Jahren, in denen Spinoza an der
„Ethik" arbeitete, irgendeine Zeit gegeben habe, zu der der Philosoph vielleicht
den Namen Gottes zu seiner Beweisführung gar nicht bemühte, wäre sorgfältig zu
erwägen, wäre aber wahrscheinlich am Ende doch mit einem Nein zu beantworten.
Die Behauptung jedoch, die letzte Fassung der Ethik, die uns in einer
Übersetzung vorliege, habe an keiner Stelle das Wort Deus enthalten, ist ganz
unhaltbar, ist unmöglich. Schon wegen der erwähnten ängstlichen Klage Oldenburgs
über Deus sive natura. Allerdings wäre den Freunden, die die Ethik mit den
übrigen nachgelassenen Schriften nach dem Tode des Meisters herausgaben, die
eine oder die andere leichte Änderung
*) Den
Nachweis, daß und wie die „Ethik" aus der lateinischen Fassung von den ersten
Anhängern langsam ins Holländische übersetzt worden ist, hat Carl Gebhardt
überzeugend geführt in seinen Inedita Spinozana.
[83/84]
zuzutrauen, nach
ihren Charakteren und nach den literarischen Ehrbegriffen der Zeit; dachten sie
doch daran, die Handschrift der Ethik an Leibniz zu verkaufen, und fälschten sie
doch in dem Vorworte die letzte Absicht des Philosophen. Doch entscheidend
scheint mir die Tatsache, daß es einfach nicht wahr ist: man könne überall
natura lesen, wo in der Ethik Deus steht oder Deus sive natura. Im ersten Buche
geht es schon nicht an; und gar im fünften Buche, mit seiner tiefen und echten
spinozistischen Mystik, wäre es grotesk, an die Stelle von Gottesliebe
regelmäßig Naturliebe zu setzen. Und noch auf einen Umstand muß hingewiesen
werden. Bekanntlich finden sich schon in dem theologisch-politischen Traktat,
der mitten während der Arbeit an der Ethik entstand, Züge aus dem Systeme der
Ethik. Den Traktat hat Spinoza selbst zum Drucke befördert. Da aber, besonders
in dem tapferen Kapitel von den Wundern, wird der Gottesbegriff dem
Ursachbegriff geradezu gegenübergestellt und fast übermütig der logische [84/85]
Beweis dafür geliefert, daß das Dasein Gottes eher aus der unveränderlichen
Ordnung der Natur sich erkennen lasse als aus den sogenannten Wundern. Ich
glaube daraus den Schluß ziehen zu dürfen, daß Spinoza schon 1670, also schon
sieben Jahre vor seinem frühen Tode die Gewohnheit hatte, die Begriffe Gott und
Natur zu verbinden, was ja nicht ausschließt, daß er den Unterschied zwischen
beiden Begriffen in einer Stimmung dessen erblickte, der die Wörter gebrauchte.
Ich meine also, daß wir uns um das Gerücht gar nicht zu bekümmern brauchen, das
le Clerc möglicherweise vielleicht doch nur darum mitgeteilt hat, weil er - wie
alle skeptischen Deisten und alle ängstlichen Kartesianer - möglichst weit von
dem des Atheismus schwer verdächtigen Spinoza abrücken wollte.
[85/86]
Weil die „Menschlichkeit" von Spinozas Hauptwerk gerade in der
ganz unmöglichen geometrischen Methode liegt, also in der Darstellung oder der
Sprache, darum scheint es mir nötig zu sagen, was diesen außerordentlichen Mann
zu einem so verhängnisvollen Fehler verführte. Es waren zwei Irrtümer, die aber
eigentlich ein einziger Irrtum sind, er überschätzte, den Wert der
mathematischen Methode und den Wert der Logik. Da und dort besteht das
Menschliche darin, daß er glaubte - wie eben alle vorsprachkritische Welt glaubt
-: das Denken durch Erinnerungszeichen führe über die unmittelbare Anschauung
hinaus. Er war in diesem Glauben nur konsequenter als alle Welt.
Die Überschätzung der geometrischen Methode war zu
Spinozas Zeit ganz natürlich. Wird doch die alte Euklidische [86/87] Geometrie
heute noch fast unverändert lauf allen Schulen gelehrt und für das Muster von
sicherem und elegantem Beweisen, von einem zuverlässigen, fortschreitenden,
systematischen Denken gehalten. Schopenhauers Darlegung, daß diese Art von
Geometrie unser Wissen nicht bereichere, ist so gut wie vergessen. Oder sie
wird, wie geistreich von A. Pringsheim, in ihrer antimathematischen Tendenz
bekämpft, nicht in ihrer erkenntnistheoretischen Weisheit. Schopenhauer ging
freilich von den Subtilitäten aus, mit denen Kant der Wirklichkeitswelt alle
Raumbegriffe absprach und für Formen der reinen Vernunft erklärte; aber Kant
beiseite hatte Schopenhauer recht. Die vielbewunderte Methode des Euklides
nämlich und seiner tausend Nachahmer, von einigen einfachen Sätzen auszugehen
und aus ihnen die verwickelteren zu beweisen, diese Methode ist sehr schön für
Lehrer und Schüler; strengste Wissenschaft ist sie nicht. Gerade die einfachsten
Axiome brauchen zu ihrem Begreifen die schwierigsten Be-[87/88]griffe und werden
darum seit etwa hundert Jahren auch bestritten, sind also keine Axiome mehr. Nur
daß die niedere Schule von den Arbeiten der Gauß, Bolyai, Lobatschewskij,
Riemann immer noch nichts weiß. In den Beziehungen der Raumgrößen gibt es kein
Nacheinander. Jeder Satz läßt sich insofern umkehren, als in diesen Beziehungen
Ursache und Folge immer wechselseitig vertauscht werden können. Setzt man im
Dreieck die Gleichheit der Winkel, so folgt die Gleichheit der Seiten; aber
ebenso wird die Gleichheit der Winkel zur Folge, wenn man die Seiten
gleichgesetzt hat. So ist das Lehrgebäude der Geometrie durchaus nicht das
Muster fortschreitenden Denkens. Euklides mußte allerdings mit irgendeiner
Anschauung beginnen; er hätte aber ebensogut, oder vielleicht besser, mit der
Anschauung vom Würfel oder von der Kreisfläche beginnen und seine ganze
Geometrie von da aus erschließen können. Ebenso hätte Spinoza mit seinen
gewaltigen Anschauungen von der not-[88/89]wendigen Verkettung alles Geschehens,
anheben müssen, anstatt mit den weitesten, leersten und umstrittensten Axiomen
von der Substanz, der Ursache, dem Sein und dergleichen, wenn er nicht die
Euklidische Geometrie irrtümlich für das Muster eines wissenschaftlichen
Gebäudes gehalten hätte.
In ähnlicher
Weise unterliegt heute Albert Einstein, der außerordentliche Mathematiker, den
seine Gefolgschaft zu einem Philosophen machen will, dem Irrtum, auf die andre,
die nichteuklidische Mathematik ein neues Gebäude der Naturbeschreibung aufbauen
und die „klassische Mechanik" der Galilei und Newton stürzen zu können.*)
Einsteins über-
*)Ich kann nicht anders, ich muß den ernsten und
schweren Gedankengang mit einer leichten und für mich lustigen Bemerkung
unterbrechen. Mit einer kleinen Wortgeschichte. Das arme Wörtchen „klassisch"
hat schon vorher einen wunderlichen Bedeutungswandel durchgemacht. Im Sinne von
„erstklassig", d. h. der ersten Steuerklasse also Wertschätzung entsprechend,
wurde es freilich schon gelegentlich von Spätlateinern gebraucht; wenn aber im
Mittelalter von „klassischen" Schriftstellern die Rede war, so wirkte ganz gewiß
schon die Vorstellung mit, daß solche Meister in der
Schul-[89/90]
aus scharfsinnige analytische Formeln lassen sich weder in die gemeine
noch in die wissenschaftliche Menschensprache übersetzen (Zahlen und
mathematische Zeichen sind keine Begriffe) und sind schon darum - wie selbst von
Einsteins Jüngern oft bedauert worden ist - unvorstellbar. Abgesehen davon, daß
- wie Ernst Marcus gezeigt hat - Einsteins neue Raum-Zeit-Gleichungen die alten
wohlbekannten, d. h. unbekannten, Begriffe von Raum und Zeit voraussetzen,
daß die nichteuklidische Geometrie nicht
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 89]klasse als Vorbilder eines
mustergültigen oder „klassischen" Latein zu gelten hatten. Die Verwendung der
Bezeichnung für griechische Dichter und Philosophen wurde erst üblich, da die
Renaissance die griechische Kultur als das Vorbild der römischen kennen und
begreifen gelernt hatte. Und gar die Bezeichnung „klassisch" für italienische,
französische, englische und deutsche Dichter oder Künstler konnte erst
aufkommen, nachdem je und je die Wortkünstler der neuen Nationalsprachen das
gleiche Ansehen verlangten und durchsetzten, dessen sich die römischen Vorbilder
nach wie vor in den Schulen erfreuten. Es kam endlich so weit, daß man bei
„klassisch" in Frankreich zunächst an Corneille und Racine dachte, später in
Deutschland an Goethe und Schiller (Klassiker-Ausgaben, Klassiker-Format), und
daß man gezwungen war, zur Unterscheidung die Beschäftigung mit den griechischen
und römischen Schriftstellern „altklassisch" zu nennen. [90/91]
ohne die Anschauungen der euklidischen möglich
ist, die revolutionäre Gleichsetzung von Gravitation und Trägheit nicht ohne die
Definitionen, die Newton und Galilei „klassisch" von Gravitation und Trägheit
aufgestellt haben. Einsteins Lehre bedeutet bestenfalls eine noch genauere
Annäherung an die Wahrheit, nicht eine neue Wahrheit. Newtons System ist nicht
falsch geworden.
Der zweite Irrtum Spinozas bestand
darin, daß er, wie die Methode der Geometrie, so die Logik überhaupt
über-
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 90] Das hätte sich kein römischer
Marineminister träumen lassen, daß „classicus" dereinst bei den barbarischen
Briten, Franken und Alemannen, sogar bei den neuen Römern etwa so viel heißen
würde wie: meisterlich, unübertrefflich, nach Inhalt und Form vollkommen. Ein
Schreiber-Ausdruck, der auf Kunst und Wissenschaft angewandt wird. Wir hatten
Bibliotheken klassischer Dichter, Sammlungen klassischer Maler, neuerdings auch
Klassiker der Philosophie und der Naturwissenschaft. Immer bezeichnete
„klassisch" das höchste Lob. Hat noch niemand bemerkt, daß das nun anders
geworden ist? Und nicht erst seit heute oder gestern. Schon im 18. Jahrhunderte
tobte der Kampf um die Neuen und um die Alten. Racine hatte ebenso klassisch
sein sollen wie Seneca, oder noch klassischer. Um das Ende des Jahrhunderts kam
dann der eitle Mercier und schlug die neuen französischen Klassiker tot, den
argen Voltaire [91/92]
schätzte, - d. h. das Denken oder die Sprache. Es
folgt nämlich ganz anschaulich aus dem sprachkritischen Gedanken, daß die
geometrische Methode - so wenig wahrhaft analytisch, so schülermäßig sie auch
ist - doch auch nicht entfernt von andern Wissenschaften erreicht werden kann,
die als Werkzeug der Mitteilung die Sprache allein besitzen. Wohl sind die
Beweise des Euklides wieder nur Mausefallenbeweise, bei denen der Menschengeist
am Ende die Maus hervorzieht, die er vorher hineingetan hat.
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 91] gleich
mit. In Deutschland dauerte es bedeutend länger. bevor der Naturalismus (auch
Mercier und seine Freunde waren Naturalisten) die Klassiker von Weimar
totschlug. Die Werturteile waren ins Wanken gekommen. Was die geistlosesten
Banausen gegenüber 'manchen Klassikern ihres Volkes immer empfunden hatten, daß
nämlich diese Dichter veraltet waren, langweilig, Ladenhüter, pedantische
Schulbücher (die Philister ahnten nicht, daß die „Klassiker" etymologisch
wirklich Schulklassenbücher waren), das lehrten jetzt die lautesten
Revolutionäre der Literatur als eine neue Wahrheit. „Schillerchen" konnte man
vor dreißig Jahren in Berlin hören. Und jetzt nennen Einstein und seine Anhänger
die Lebensleistung von Galilei und Newton, heuchlerisch den Hut in der Hand, die
„klassische" Mechanik; aber ein verächtlicher Unterton ist hörbar: die
veraltete, die abgetane Mechanik. „Klassisch" ist auf die Bedeutung von
„veraltet" hinunter gekommen.
[92/93]
Sie bereichern das
lebendige Wissen nicht, aber sie haben doch Beweiskraft von Fall zu Fall. Diese
Beweiskraft der Geometrie nun rührt immer eigentlich von der beigegebenen
Zeichnung her, die sich zu ihrer mathematischen Erklärung jedesmal verhält wie
die Wirklichkeitswelt zu ihrer unmittelbaren Anschauung. Da ist Irrtum
ausgeschlossen. Ein Philosoph also, der ohne Überschätzung der Worte die
geometrische Methode nachahmen wollte, dürfte sich gerade niemals von der
Wirklichkeitswelt entfernen und müßte bei naturwissenschaftlichen Erscheinungen
stehen bleiben. Und hätte Spinoza sogar anstatt des Euklides und seiner
Geometrie sich die Analyse des Descartes zum Muster nehmen können, die gerade
damals ohne Wirklichkeitswelt und ohne Zeichnung zu rechnen anfing, so hätte er
doch selbst diese abstraktere Sprache der Mathematik mit der allgemeinen Sprache
niemals erreichen können, weil die mathematischen Zeichen eben das besitzen, was
menschlichen Worten immer fehlt -: die vor-[93/94]herige Verabredung, die
strenge Geltung für jeden einzelnen Fall und die Meßbarkeit ihrer Verhältnisse.
Und auch die Analyse hätte überdies zur Erklärung der Wirklichkeitswelt eine
schlechte Methode gewiesen, „Aus rein Analytischem kann nur wieder Analytischem,
es darf daraus nichts spezifisch Geometrisches gefolgert werden." (A.
Riehl.)
Ich glaube also abermals
gezeigt zu haben, daß der in seiner Weltanschauung freiste aller Denker in
seiner Darstellungsform gebundener als die andern war. Wieder aber wäre es
gefehlt, ihn um dieser Unfreiheit willen tadeln zu wollen. Es gehört untilgbar
mit zu dem Charakterbilde dieses einzigen Mannes, daß er bis ans Ende ging, wo
er irrte, wie er bis ans Ende ging, wo er die Wahrheit sah. Alle Denker haben
das Denken oder die Sprache überschätzt; alle hätten gleich ihm dieses Werkzeug
nun im Sinne der Überschätzung mathematisch gebrauchen müssen, wenn sie
konsequent gewesen wären wie Spinoza, wenn sie, ehrlich wie er, unerschütterlich
an ihren [94/95] Glauben geglaubt hätten, wenn sie nicht heimlich ein schlechtes
Gewissen gehabt hätten beim Gebrauch ihrer Sprache. Spinoza allein hatte kein
schlechtes Gewissen; er war so groß, daß er gewissenlos sein durfte, d. h.
unbeirrt von Vorurteilen. So wurde der ärgste Ketzer unbeirrt zum Dogmatiker.
Nicht einmal der Umstand beirrte ihn, daß er selbst, und lange vor der Abfassung
seiner Ethik, die geometrische Methode angewandt hatte auf eine Darstellung der
Lehren des Descartes, der doch damals von ihm. innerlich schon überwunden war.
Man muß fragen, und man hat gefragt, wie ein solcher Mann Sätze, die ihm
überwunden schienen, mit dieser untrüglichen Methode habe beweisen können? Man
hat sogar gesagt, es liege darin eine Art Humbug. Man hat dabei vergessen, daß
Spinoza den Zweifel des Descartes eben nicht kannte oder vielmehr sehr fein von
dem grundsätzlichen Zweifel der Skeptiker unterschied. Man hat aber vielleicht
noch eine Kleinigkeit übersehen, auf die ich aufmerksam machen möchte. [95/96]
Seine Ethik will Spinoza, wie das Titelblatt verspricht, nach geometrischer
Methode (ordine geometrico) beweisen; auf dem Titelblatt der Grundsätze
kartesianischer Philosophie verspricht er nur, sie auf geometrische Art und
Weise (more geometrico) zu beweisen. Der Unterschied ist unabsichtlich, aber er
ist vielleicht der von Ernst und Spiel; an der Wahrheit der Ausgangssätze des
Descartes, dieser kartesianischen Teufelchen, konnte Spinoza zweifeln, an der
mathematischen Kraft des sprachlichen Denkens zweifelte er
nicht.
Und vielleicht läßt sich der
Tiefsinn Spinozas dadurch retten, auch in seinem schweren Irrtum, daß man diesem
übermenschlichen Denker einen fast übermenschlichen Gedanken zutraut, wie denn
bewußte Bescheidenheit lehrt, alles für des Lehrers Gedanken zu halten, was im
Schüler durch des Lehrers Worte angeregt worden ist.
Spinoza hat zu dem ersten Teil seiner Ethik, zu der
Lehre von Gott, einen Anhang geschrieben, eine Erklärung, die [96/97] ebenso
bewunderungswürdig ist, wie der Text selbst verschult und angreifbar. In dieser
überzeugenden Anmerkung will er wie immer die um Menschenschicksal unbekümmerte
eiserne Kette der Notwendigkeit darstellen und den Glauben an Zweckursachen und
damit jede Form theologischen, ethischen, ja selbst ästhetischen Aberglaubens
mit der Wurzel ausreißen. Niemand ist bis zu dieser Stunde über den Geist dieser
Anmerkung hinausgelangt. Alle Revolution aller Wissenschaften im 19. Jahrhundert
ließe sich herleiten von diesen Sätzen: „Nachdem die Menschen sich eingeredet
hatten, die Welt und der Welt Lauf sei ihretwegen da, mußten sie an jedem Dinge
dasjenige für das Wichtigste und Wertvollste halten, was ihnen am nützlichsten
und angenehmsten war. Daher mußten sie sich diejenigen Begriffe bilden, mit
deren Hilfe die Welt zu erklären wäre, die Begriffe: das Gute, das Schlechte,
die Ordnung, die Unordnung, das Warme, das Kalte, die Schönheit, die
Häßlichkeit. Und weil sie sich für frei [97/98] hielten, entstanden die
Begriffe: Lob und Tadel, Sünde und Verdienst." Man horche wohl darauf, wie
Spinoza hier mit einem großen Atemzuge nicht nur die Grundlage der Kirche, die
Lehre von der Zurechnung, umbläst, sondern zugleich die Ausgangsbegriffe der
Ethik, der Empfindungslehre, insbesondere der Ästhetik, wobei es noch gar nicht
ausgemacht ist, was alles noch mehr durch Abstreifen der Begriffe „Ordnung und
Unordnung" in seinen Grundlagen erschüttert sein mag. In diesem selben
Zusammenhang hat Spinoza das stolze, in seiner Ruhe Alles niederbeugende Wort
gesprochen: „Das Fragen nach Absichten in der Natur, d. h. nach Zweckursachen
und den Ursachen der Ursachen, müsse schließlich immer zurückflüchten zu einem
Willen Gottes, diesem Asyl der Unwissenheit (ad ignorantiae asylum)", wobei zu
beachten ist, daß Spinoza hier unter Ignoranz fast ohne Bosheit die Tatsache des
Nichtwissens versteht.
In diesem
selben Zusammenhange klagt nun Spinoza, der Glaube an Zweck-[98/99]ursachen (und
an das, was drum und dran hängt) hätte für sich allein hingereicht, der
Menschheit die wahre Einsicht für immer zu verschließen; da habe
glücklicherweise die Mathematik, welche sich nicht um Zweckursachen, sondern um
das Wesen und die Eigenschaften der Raumgestaltung kümmert, den Menschen eine
andere Norm der Wahrheit gezeigt.
Hier nun scheint mir die fast übermenschliche Anschauung für einen
Augenblick entschleiert zu werden, die den Spinoza unbewußt zu seinem
mathematischen Denken führte. Tief im menschlichen Wesen begründet, in dem
Schein seiner Willensfreiheit nämlich, ist seine Sehnsucht nach einer Absicht in
der Natur, nach einem Gott. So grausam, ein solcher Moloch ist diese Täuschung
in uns, daß auch Darwin sie nicht völlig überwunden hat. Ja, ich scheue mich
nicht es auszusprechen: dieser Glaube, diese Sehnsucht an eine Absicht in der
Natur ist in uns unzerstörbar, die Absicht in der Natur ist in den Menschen eine
ange-[99/100]borene Idee, was ich deshalb ruhig sagen kann, weil ich dazu
behaupte, daß Ideen oder Begriffe darum nicht wahr sein müssen, weil sie
angeboren sind. Angeborene, d. h. ererbte Ideen sind falsch, wie jemand eine
Truhe mit falschem Gelde erben kann, oder einst vollwertiges Geld erben, das
inzwischen entwertet worden ist.
Niemand hat wie Spinoza diese „angeborene" Idee bekämpft, und wenn er in
diesem Kampfe nach der mathematischen Methode griff, so hatte er dabei
vielleicht den folgenden Gedankengang: In der ganzen Mathematik gibt es
sicherlich keine Zweckursache. Hätte Spinoza seinen Scharfsinn an die
Erkenntnistheorie gewandt, er hätte aus der Umkehrbarkeit aller solchen
mathematischen Sätze die Ahnung schöpfen müssen, daß auch der Begriff Ursache,
logische Ursache, für solche Wechselbeziehungen ein sinnleeres Wort sei. Ihm
aber war es in genialer Einseitigkeit bloß um die Vernichtung der Zweckursachen
zu tun. Da konnte er den Gedanken fassen, daß [100/101] Zweckursachen - wenn sie
schon in umkehrbaren mathematischen Sätzen ausgeschlossen sind - noch sinnloser
sein müssen in der Ursächlichkeit des Wirklichen, weil diese Ursächlichkeit sich
in der Zeit vollzieht und sich daher nicht umkehren läßt. Auch wo wir die
Zeitfolge nicht wahrnehmen, in der Wirklichkeitswelt, nehmen wir sie doch
unbedingt an. Wenn wir den Hahn am Gewehr berühren und im selben Augenblick der
Schuß kracht, so „wissen" wir dennoch, daß nacheinander, in der Zeitfolge also,
die schnappende Eisenspitze das Zündhütchen getroffen, der Funke das Pulver
entflammt und das Pulvergas die Kugel herausgetrieben hat. Ist nun in der
umkehrbaren Beziehungsfolge der Raumverhältnisse der Zweckbegriff nicht
unterzubringen, um wieviel weniger in der Zeitfolge der Wirklichkeitswelt, wo
doch unentwurzelbar die Ursache der Vergangenheit angehört, der Zweck aber etwas
Zukünftiges sein müßte. Dieses konnte nach Spinoza die mathematische Methode
lehren. Aber vielleicht noch mehr. [101/102]
Die mathematischen Gesetze sind ewige Gesetze, weil sie zeitlos sind.
Spinoza liebt den Gedanken, daß auch die Gesetze der Wirklichkeitswelt ewig
seien, daß man jede Einzelerscheinung unter dem Gesichtspunkte der Zeitlosigkeit
betrachten müsse. Wie nun, wenn auch die Wirklichkeitswelt, das Wirken aller
Körper aufeinander in tiefstem Grunde zeitlos wäre? Umkehrbar wie die Geometrie
und darum zeitlos? Wie wenn die Geometrie durch diesen Gedanken die arme
Menschheit von dem Wahnsinn der Zweckursachen befreien könnte?
So mag Spinoza Unsagbares geahnt haben. Aber er
vergaß dabei - wie ich es eben vergessen mußte - daß die Worte der menschlichen
Sprache Zeitloses nicht ausdrücken können, daß unsere Worte Zeichen sind,
Erinnerungszeichen unserer Empfindungen, immer nur Erinnerungszeichen für das,
was uns erscheint, daß also keine menschliche Sprache sich losreißen kann von
dem Widerhaken der Zeitfolge und der Ur-[102/103]sache, mit dem die
Wirklichkeitswelt unser Gehirn hinter sich herreißt. Und der Begriff der Ursache
ist zuletzt nicht wirklicher als der Begriff der Zweckursache; nur daß wir es
nicht sagen können, weil wir die Umkehrbarkeit der sogenannten Zeitfolge nicht
fassen können.
Kaum die dunkle Ahnung
kann ich hinzufügen: daß die Absichten in unserm sogenannten Selbstbewußtsein -
die wir so gern auf die Natur übertragen, und die in uns den Schein der
Willensfreiheit erzeugen - sich vielleicht doch als zeitlos erkennen lassen,
wenn wir sie als gedachte Zwecke erkennen, also als dasselbe, was auch die
andern Vorstellungen sind. Wenn wir begreifen, daß der Ablauf unseres ganzen
Lebens nur ein Auf und Ab auf den ausgefahrenen Gleisen unserer Nerven ist, daß
unsere Vorstellungen wie unsere Willensbewegungen nur einander aufhebende
Nervenzuckungen in umgekehrter und vielleicht umkehrbarer Richtung sind, daß -
wie schon Spinoza gelehrt hat - Wille und Vorstellung eins ist, dann werden wir
[103/104] wohl den Gedanken, mit lächelnder Trauer ihn umarmend, festhalten
können: Wie unsere eigenen Absichten doch nur Erinnerungen sind, unsere
künftigen Zwecke also etwas Vergangenes, so ist unser Leben zeitlos, zeitlos die
Wirklichkeitswelt.
Und so steht
hinter dem großen Irrtum Spinozas, seine Sprache einer mathematischen Anwendung
fähig zu halten, eine noch größere Ahnung dessen, was wir in unserer
bettlerfrechen Sprache Wahrheit nennen.
[104/105]
Spinoza wurde so durch seine Theorie der Erkenntnis, weil der
letzte Zweifel fehlte, weil er die mathematischen Wahrheiten (wie ja auch noch
Kant) für belehrende, synthetisch belehrende Kenntnisse nahm und weil er an der
Existenz der höchsten Essentien oder Begriffshülsen festhielt, - Spinoza wurde
so zu der unfruchtbaren Darstellung seiner Lehre verlockt. Aber den unerhört
tiefen Blick in das eiserne Räderwerk der Natur zu tun, hinderte ihn keine
Theorie; und in den genialsten Aperçus hat er der Folgezeit den Weg gewiesen.
Sogar über seinen unerkennbaren Gott sagt er einmal (und verrät damit
ahnungsvoll eine köstliche Verachtung der Sprache): es wundre ihn nicht, daß man
dem Deus gern menschliche Eigenschaften andichte; „denn ich glaube, daß ein
Dreieck, wenn es sprechen könnte, [105/106] ebenso sagen würde, Gott sei
hervorragend dreieckig, daß ein Kreis sagen würde, Gott sei hervorragend rund"
(56., nach früherer Zählung 60. Brief).
Dieser Ausspruch mit seinem übermütigen „hervorragend dreieckig" (Deum
eminenter triangularem esse) ist weder von Kant noch auch von Feuerbach
überboten worden; er ist nur zu begreifen, wenn wir annehmen, Spinoza habe den
unscheinbaren Zwischensatz „wenn das Dreieck sprechen könnte" in seiner ganzen
Ironie gefaßt. Wir Menschen sind Dreiecke, die sprechen können; Naturwesen, die
so wenig imstande sind, ihre Notwendigkeit anders als durch Worte zu begreifen,
daß wir dieser Notwendigkeit selbst menschensprachliche, also menschliche
Eigenschaften andichten.
Zur klaren
Schärfe ist Spinoza in der Frage der Sprache leider nicht gelangt. Es ist vorhin
gesagt worden, daß er drei Stufen der Erkenntnis unterschied, daß nach ihm die
erste Stufe, die der Begriffe oder Universalien, zum Irrtum führte, die
[106/107] zweite aber erst zu einer Art Wahrheit; ich habe das „Gemeinsame"
dieser zweiten Stufe in den Gesetzen der Natur zu finden geglaubt, aber Spinoza
- der unter den Rabbinern ebenso eifrig Naturwissenschaften trieb, wie Descartes
unter den Jesuiten - vermeidet das Wort, und läßt die Möglichkeit offen, auch
bei der zweiten Stufe an Begriffe, an seine unerklärten adäquaten Begriff e zu
denken. Mir aber scheint es gewiß, daß seine ganze Darstellung zu dem Schlusse
führen muß und auch ihn selbst führen mußte, die von der Wirklichkeitswelt
abstrahierten Begriffe sind es, unser Denken also ist es, was uns verwirrt, was
uns irreführt, was unsere Vorstellungen fälscht. Unsere Irrtümer kommen von den
Worten her, „wenn wir uns nicht außerordentlich vor ihnen in acht
nehmen,"
Für diese Stellung Spinozas
und dafür, daß ich mich auf ihn bei meinen sprachkritischen Nachforschungen als
einen Eideshelfer berufen kann, finde ich einen Beweis in der Art, wie er
zuver-[107/108]lässig den Sprachgebrauch der Scholastiker verläßt oder gar
verächtlich fortschiebt, wo seine Weltanschauung klar und fest ist. Wofür das
größte Beispiel seine Leugnung der Willensfreiheit ist, eben sein sieghafter
Gedanke von der Lückenlosigkeit der Kausalität, ich möchte fast sagen, von der
Undurchdringlichkeit der notwendigen Kette der Natur. Schopenhauer hat 200 Jahre
später ein geistreicheres Buch über die Unfreiheit des Willens geschrieben; der
Beweis ist bei Schopenhauer ebenso scholastisch, weil von der Apriorität des
Kausalitätsbegriffs ausgegangen, also eigentlich gar nichts bewiesen wird; und
in der Kritik des Willenbegriffs selbst, also des Wortes „Wille", bleibt Spinoza
unerreicht.
Ihm ist es gewiß, daß
unsere Begriffe nur verworrene Bilder der Wirklichkeitswelt sind; die
verworrensten sind natürlich die allgemeinsten, abstraktesten Begriffe, und wenn
er also die berühmten Universalien (Begriffe) schon als für die Erkenntnis
unbrauchbar denunziert, so [108/109] kann er mit den transzendentalen
Kunstausdrücken (termini transcendentales dicti) noch weniger anfangen. Als
Beispiele solcher transzendentalen Kunstausdrücke, d. h. solcher Worte, welche
über die Erfahrung hinausgehen oder vielmehr den Zusammenhang mit der Anschauung
verloren haben, als Beispiele nennt er zunächst nur drei: Wesen, Ding, Etwas
(Ens, res, aliquid). Aber er läßt keinen Zweifel darüber, daß ihm auch andere
höchst abstrakte Worte zu der Gattung solcher unnützen Lufterschütterungen
gehören. „In der Seele gibt es keinen unabhängigen oder freien Willen sagt er an
der Spitze des Paragraphen; er beweist es logisch, also schlecht; dann aber fügt
er hinzu, ebenso könne man beweisen (ebenso behauptete er also), daß es in der
Seele keine unabhängige Fähigkeit des Denkens, des Begehrens, des Liebens usw.
gebe. Also seien alle diese Begriffe Einbildungen oder bloße Worte, so sehr, daß
ein „Verstand" oder ein „Wille" sich zu unsern wirklichen einzelnen
Vorstel-[109/110]lungen oder einzelnen Willensakten verhalten, wie der Begriff
der „Steinität" (Lapideitas) zu einzelnen Steinen, der Begriff „Mensch" zu Peter
und Paul.
Die Bedeutsamkeit dieser
Stelle leuchtet ein. Spinoza erhob sich da über seine eigene Sprache und
vermochte so, indem er überhaupt die Existenz eines „Willens" beiseite schob,
die Unfreiheit der menschlichen Willensakte fester anzuschauen, als 200 Jahre
später sein Kritiker Schopenhauer - wie Spinoza auch durch die Auflösung des
Begriffs der Vollkommenheit, also durch Streichung dieses Wortes, Kants spätere
Kritik der Beweise für das Dasein Gottes überflüssig machte, wie er von Rechts
wegen auch der Existenz der 2000 Jahre alten „Ideen" Platons für jeden
Philosophen hätte ein Ende gemacht haben müssen. Er war der einzige Denker, der
Ernst machte mit dem Begriff der Notwendigkeit; und wenn es bei den Alten eine
Unklarheit war, daß sie ihre Götter unter eine über ihnen stehende Ananke, unter
das Fatum beugten, wenn es bei Schiller und seinen Mit-[110/111]strebenden ein
Spiel des Geistes war, sobald sie von einem allherrschenden Schicksal (über
Göttern und Menschen) sprachen, so war Spinozas Deus wirklich unfrei, wie er
verstandlos war, weil dieser Deus oder Natura ernsthaft und wirklich ohne Zwecke
gedacht wurde. Der Begriff des Zweckes widerspricht schnurstracks dem ernst
genommenen Begriff der Notwendigkeit oder Kausalität. So gehört bei Spinoza der
„Zweck", der „Wille", der „Verstand" so gut wie „Wesen , „Ding" zu den
„Transzendentalen", zu den Hülsen ohne Inhalt, zu den bloßen Worten, die
unfruchtbar sind für die menschliche Erkenntnis.
Spinoza war in diesen Einsichten doch nicht ganz
konsequent. Er konnte seinem System zuliebe ganz zuversichtlich von denselben
transzendentalen Worten darauf losreden, konnte von den Attributen seines Deus
erzählen, als ob er mit ihm und ihnen einen Scheffel Salz gegessen hätte, dann
aber konnte er wieder zu verstehen geben, daß die Attribute der obersten
Substanz nur in unsrem Denken (d. h. für [111/112] uns in der Sprache) zu finden
seien und in dem 9. (nach früherer Zählung 27.) Briefe an einen strebsamen,
treuen, jungen Verehrer konnte er gar lachend (es ist gewiß etwas Scherz mit
dabei) die Erklärung beifügen: man könnte sich ganz gut eine Substanz unter zwei
Bezeichnungen oder Namen (d. h. Worten) denken, wie ja auch der dritte Patriarch
sowohl Jakob als Israel geheißen habe. Worte, Worte, Worte sind ihm die
verehrungswürdigsten Begriffe, und einmal erkennt er sogar Verstand und Wille
für zwei Worte, die nur ein und dasselbe besagen; Verstand und Wille sind Jakob
und Israel. Insbesondere der Wille (voluntas) ist nichts und nicht mehr als die
einzelnen Willensakte (volitiones).
So löst Spinoza allein die Frage nach der Willensfreiheit, indem er die
Worte ihres Sinnes entkleidet. Wie das Dreieck, wenn es sprechen könnte, sich
seinen Gott hervorragend dreieckig. höchst dreieckig denken müßte, so würde der
geworfene Stein, wenn er denken könnte, [112/113] von seinem Entschlusse, seiner Freiheit, durch die Luft
zu fliegen, sprechen.
Überall da,
wo sein System ihn nicht
scholastisch machte, verzichtete Spinoza auf den Gebrauch von transzendentalen
Begriffen. Ihm waren die handelnden Menschen dem Schein der Freiheit
unterworfen, wie der geworfene Stein; und wie dem Scheine der Willensfreiheit,
so dem Scheine aller andern Ideen oder ideale. Denn das darf nicht verschwiegen
werden, daß der Selbstdenker Spinoza die Platonischen Ideen, die unser Ideal
geworden sind - wie wir schon bei den Begriffen „gut" und „schön" gesehen haben
- nicht anerkannte.
Denn hinter ihm
im wesenlosen Scheine lag, was uns alle bändigt, - das „Ideal". Er hat sein
Hauptwerk nach dem Beispiel seines Vorgängers Geulinx (nachträglich) Ethik
genannt, canis a non canendo. In seiner undurchbrechlichen Kette der
Notwendigkeit hat das „Sollen" so wenig Platz wie das „Wollen". Er stellt keine
Ideale auf; ganz anders als bei Hegel ist alles vollkommen, was ist; [113/114]
es ist vollkommen, weil es nicht anders sein kann, als es ist. So kennt Spinoza
auch in seiner Staatslehre keine knechtenden Worte; er glaubt nicht an einen
Idealstaat (wie vor ihm Hobbes), nicht an einen Idealmenschen (wie nach ihm
Rousseau); und die mächtigen Utopisten der Gegenwart, die Kommunisten, können
sich darum nicht auf Spinoza berufen.
Seine Ethik predigt keine Moral. Außer sich findet der Mensch dieselbe
Notwendigkeit wie in seinem Innern. Nur Freudigkeit erzeugt die Erkenntnis von
Deus oder der Natur, nicht das Bewußtsein eines äußeren Gebots. Und in sich
selbst findet Spinoza nicht, was man ein Gewissen genannt hat; er kennt es
nicht. Mit einer Überlegenheit, für deren volles Verständnis wir vielleicht
heute noch nicht ganz reif sind, geht er in dem ruhigen Abschnitt „von den
Leidenschaften" über das Gewissen hinweg. Alles führt er auf Schmerz und Freude,
also auf unsere Natur zurück. Gegenwart und Zukunft werden eins vor seinem
Blick. Freudiges [114/115] erwarten heißt hoffen, Trauriges erwarten heißt
fürchten. Ein Gaudium ist es, wenn das erwartete Traurige nicht eingetroffen
ist, wenn die Furcht unbegründet war; wenn aber die Hoffnung unbegründet war,
„wenn wir uns blamiert haben", so empfinden wir -
Gewissensbisse.
Wer über diese Worte
erschrickt, wer es nicht für möglich hält, daß Spinoza wirklich diesen Ärger als
Gewissensbiß aufgefaßt haben kann, der ist wohl noch nicht sehend für den Stern
Spinoza, noch nicht reif für seine Lehre von dem Unwert der Worte.
[115/116]
Die postume Geschichte des Spinozismus, die Geschichte also
seiner Wirkung auf das Geistesleben Europas, ist ein neuer Beleg dafür, daß bei
Spinoza ganz besonders zwischen der genialen, intuitiven, bildlich wahren
Weltanschauung, dem gewaltigen Aperçu, und dann der schwerfälligen, diskursiven,
unverdaulichen Form, dem hilflosen Wort, zu unterscheiden sei. Ich kehre zurück
zu der Darstellung der Geltung Spinozas, von der ich ausgegangen
bin.
Daß man nämlich noch vor etwas
mehr als 140 Jahren von Spinoza allgemein verächtlich geredet hat, ist wohl
gewiß zurückzuführen auf den Einfluß des großen Dictionnaire historique et
critique von Pierre Bayle. Dieser bedeutende Mann war bei aller historischen
Gelehrsamkeit und aller skeptischen Kritik, bei allem Geist und allem Freimut
[116/117] doch dadurch eine mittelalterliche, eine unmoderne Gestalt, daß er für
die neuen Lebenskeime kein Verständnis besaß, so tapfer er auch Sterbendem den
Gnadenstoß gab. Zieht man von Lessing ab, was in ihm dichterisch und ahnungsvoll
zu Goethe führt, und zieht man weiter manches ab, was uns teuer ist, so bleibt
etwas Pierre Bayle noch übrig.
Trotzdem ist der Haß Bayles gegen seinen großen Zeitgenossen (4 Jahre nur
nach Spinozas Tode und dem Erscheinen der Ethik wurde Bayle Professor in
Rotterdam) nur schwer verständlich. Ein Haß liegt vor. Der mächtige Skeptiker,
dem sonst so gern die leichte Ironie zur Verfügung steht, gebraucht gegen den
atheistischen Juden die stärksten Ausdrücke. Er nennt sogar den
theologisch-politischen Traktat, den man doch die Bibel von Bayles eigenem
Lebenskampf um die Denkfreiheit nennen könnte, ein livre pernicieux et
détestable; er wirft in seiner geistreich-spielenden Weise Spinoza wirklich zu
den Toten und sagt: Il n`est pas vrai que [117/118] ses Sectateurs (seine
Schüler) soient en grand nombre. Très peu de personnes sont soupconnées
d'adhérer à sa doctrine; et parmi ceux que l'on en soupconne, il y en a peu qui
l'aient étudiée; et entre ceux-ci il y en a peu qui l'aient comprise et qui
n'aient été rebutés des embarras et des abstractions impénétrables, qui s'y
rencontrent.
Dieser Haß ist nicht mit
dem gewöhnlichen Widerwillen der Halben gegen die Ganzen zu erklären; denn Bayle
war in seiner Art kein Halber, und er sah vor allem nicht in Spinoza den Ganzen.
Darin aber, daß er das nicht sah, daß er den Spinoza nicht verstand, liegt die
Erklärung. Er hielt sich an die Worte des Philosophen und verstand die neuen
Fragen des Mannes nicht. Als ob er nur die schwächsten Sätze des Spinoza
gelesen, als ob er sich nur um den schrecklichen methodischen Aufbau und die
Beweise gekümmert hätte, nennt er das „System" la plus monstrueuse Hypothese qui
se puisse imaginer, la plus absurde et la plus diamétralement opposée aux
notions les [118/119] plus évidentes de notre esprit. Und er verteidigt sogar
den Deus gegen Spinoza. Was die heidnischen Dichter Infames gesungen hätten
gegen Jupiter und Venus, reiche noch nicht heran an die furchtbare Vorstellung,
die Spinoza uns von Gott gebe; denn im Altertum habe man den Göttern doch nicht
alle Verbrechen und Schwächen zugeschrieben, nach Spinoza sei nichts auf der
Welt handelnd oder leidend als der Deus, auf ihn beziehe sich aller Schmerz und
alle Schuld, alles physische und moralische übel. Wenn Gott und die Welt nur
eines sei, alles in Gott, dann sei es ein falscher Satz, wenn man sagt: „Die
Deutschen haben 10 000 Türken erschlagen" - außer man verstehe darunter den
Sinn: „Gott in Gestalt von Deutschen habe Gott in Gestalt von 10 000 Türken
erschlagen." Bayle kann so wenig von der Vorstellung eines persönlichen Gottes
loskommen, daß er eben gar nicht merkt, wie gut er durch die beabsichtigte
Parodie gerade den Gedanken Spinozas trifft. Alle spöttisch gemeinten Beispiele
Bayles treffen zu. Jawohl, so [119/120] hat es Spinoza verstanden. Gott betet zu
sich selbst, Gott verweigert sich die Bitte, er verfolgt sich, er ißt sich, er
schickt sich aufs Schafott. Und die Beispiele sind um so besser, als sie
deutlich zeigen, wie Spinozas Deus an der Sprache scheitern mußte, die ihn ganz
pöbelhaft, ganz individuell, also mit Willen und Verstand begabt zu denken nicht
umhin konnte.
Es ist dem Pierre Bayle
sofort gesagt worden, daß er Spinoza nicht verstanden habe, und seine Antwort
darauf klammert sich erst recht an Worte; und wie da seine Kritik im einzelnen
gewiß recht behalten wird, so ist sie im großen unzulänglich, rückständig. Es
läuft darauf hinaus, daß Bayle sich unter den Spinozistischen Begriffen
„Substanz" und „Modus" nichts Deutliches hat denken können, womit er wohl leider
recht hat, wobei er aber übersieht, daß man Spinozas heitern Einblick und
Eintritt in die morallose Notwendigkeit der Welt verstehen kann, ohne sich um
die Definitionen von Substanz und Modus zu bekümmern. Und so [120/121] endet
Bayles Klage und Anklage mit den tragikomischen Worten: Si l'on n'entend pas ce
qu'il veut dire par là (daß Gott nämlich die einzige Substanz und alle andern
Wesen seine Modifikationen seien) c'est sans doute parcequ'il a joint aux mots
une signification toute nouvelle sans, en avertir ses lecteurs. Wie alle
Entdecker neuer Ideen tun und tun müssen, füge ich hinzu.
Ich möchte nicht unterdrücken, was ich schon einmal
(„Geschichte des Atheismus" II. S. 303) auszuführen gesucht habe, daß der
Skeptiker Bayle allerdings den vermeintlichen Dogmatiker Spinoza bekämpfen zu
müssen glaubte, daß aber der schlimme Artikel „Spinoza" doch der Tendenz des
großen Wörterbuchs nicht durchaus widersprach. Bayle warnte ehrlich vor dem, was
ihm an Spinoza zu metaphysisch erscheinen mußte; aber als Vorkämpfer für
Toleranz und Gedankenfreiheit bewährte er sich auch da, offen oder versteckt, wo
er als Gegner des Juden von Amsterdam auftritt. Offen nimmt er die Partei
Spinozas, wo er im Texte das [121/122] Leben des Philosophen erzählt und seinem
Charakter volle Gerechtigkeit widerfahren läßt. Versteckt und vorsichtig deutet
Bayle an, namentlich in der Anmerkung O, daß die Widersprüche und
Schwierigkeiten im Systeme Spinozas nicht größer seien als in dem der
christlichen Theologie, daß also eigentlich die gemeine Meinung oder die
christliche Hypothese nur aus praktischen Gründen vorzuziehen sei; und am Ende
wäre ein philosophisches System vorzuziehen, wenn seine Widersprüche geringer
wären als die der Theologie. Dazu kommt, daß wir in die Ausfälle Bayles gegen
den Pantheismus Spinozas fast überall Bosheiten gegen Geheimnisse und Dogmen der
christlichen Religion hineinlesen können. Alles in allem hat der unglückliche
Spinoza-Artikel Bayles den Feinden Spinozas manche Waffe geliefert, aber doch
zur Verbreitung und zum Ruhme Spinozas mächtig beigetragen. Durch Bayle hat
wahrscheinlich auch Goethe seinen Spinoza zuerst kennen gelernt; die kurzen
Angaben im „kleinen Brucker", den [122/123] er als Knabe gelesen hatte, wird er
inzwischen wieder vergessen haben,
Diese Stellung Bayles zu Spinoza und den ungeheuren Einfluß Bayles auf
ein ganzes Jahrhundert muß man vor Augen haben, um jetzt zu verstehen, wie
Spinoza in Deutschland wieder auferstand, wie die drei, wahren Führer des neuen
deutschen Geistes, wie Lessing, Herder und Goethe sich zu Spinoza bekannten, wie
Moses Mendelssohn - damit auch hier die Tragikomödie nicht fehle - nach der
innerlich doch wahren, von Goethe selbst geglaubten Legende vor Schrecken über
Lessings Spinozismus starb und wie von Deutschland aus Spinoza auch Frankreich
gewann, um endlich von Schelling und Hegel in seinen Fehlern übertroffen, in
seiner Hoheit nachgeäfft zu werden.
Ich setze als bekannt voraus, daß Fritz Jacobi, Goethes Freund, nach dem
Tode Lessings zuerst einen kleinen Kreis, dann ganz Deutschland mit der
Mitteilung überraschte, Lessing sei Spinozist gewesen, daß jenes Gespräch
(zwischen Jacobi und Lessing) zu köstlich Les-[123/124]singsch ist, um nicht
Silbe für Silbe echt zu sein, daß Moses Mendelssohn, der schon als Jude auf
diese Entdeckung hätte stolz sein müssen, in seiner Erklärung „An die Freunde
Lessings" (1786, nach Mendelssohns Tode erschienen, im Jahr von Goethes
italienischer Reise) zunächst seine Unkenntnis Spinozas, sodann seinen durchaus
subalternen Sinn und endlich seine relative Albernheit bewies, ich setze ferner
als bekannt voraus, daß Goethe durch alle diese Vorgänge sofort und später zu
reichen Mitteilungen über sein Verhältnis zu Spinoza veranlaßt
wurde.*)
Ein Gedicht Goethes,
„Prometheus", hatte die Lessingschen Äußerungen und so den ganzen Aufruhr
veranlaßt; Mendelssohn hatte auch nicht verfehlt, das
*) Ich
habe diesen Streit um Lessings Spinozismus darzustellen gesucht, zuerst in
meiner „Kritik der Sprache" (I. Band, 3. Aufl., S. 354), dann ausführlicher in
meiner Einleitung zu einem Neudruck von „Jacobis SpinozaBüchlein" (Georg Müller
Verlag 1912). Hier mag man nachlesen, wie schwach, eitel und geschwätzig der
kleine Jacobi das unschätzbare Gespräch mit dem großen Lessing vortrug, wie
klein und eitel der Kampf zwischen Jacobi und Mendelssohn begonnen und
weitergeführt [124/125]
Gedicht, da er den Verfasser nicht kannte, für eine Armseligkeit zu
erklären, die Lessing wohl unmöglich gelobt haben könnte. Aber nicht just dieses
Gedicht war spinozistisch, Goethe war es durch und durch. Als junger Mann war er
ja durch Bayle auf Spinoza aufmerksam gemacht worden; sofort hatte ihn die
Einheit von Gott und Natur tief ergriffen und vielleicht hatte es ihm eine der
gelehrten Notizen angetan, in der von einem Epikureer (?) Alexander erzählt
wird, er habe die Dinge der Welt, die Formen, die Erscheinungen mit dem Peplon,
mit dem Kleide der Gottheit verglichen. (.."wirke der Gottheit lebendiges
Kleid.") Durch Jacobi, dann durch Herder und endlich durch die geliebte Frau von
Stein ließ er sich zu einem tiefern Eindringen in Spinoza verlocken und von da
ab bleibt Spi-
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 124] wurde,
wie Hamann, an Körper und Geist schon zerbrochen, sich einmischte, wie der
bevorstehende Tod Friedrichs des Großen den Mut auch eines Kant dämpfte, wie
eigentlich alle Beteiligten für das Heidentum Spinozas Stellung nahmen, gegen
ein positives Christentum. Die Gegner Herder und Kant verteidigten übrigens, in
geistigem Egoismus, ihre eigenen Ideen, ein jeder die seine, wenn sie sich gegen
den uneigennützigen Spinoza erklärten. [125/126]
noza sein Leitstern. In welchen Fragen? Als alter
Herr hat Goethe einmal an Zelter geschrieben, die Männer, die den stärksten
Einfluß auf ihn genommen hätten, seien Shakespeare, Spinoza und Linné gewesen.
Es ist klar, daß der Dichter sich Shakespeare, der Naturforscher Linné
verpflichtet fühlte. Worin war er ein Schüler Spinozas? Ein Philosoph wollte er
niemals sein und die Form der „Ethik" mußte ihm widerstreben, wie er das Werk
denn auch niemals im Zusammenhang „studiert" hat.*) Auch seine
Re-
*) Ein
noch deutscherer Deutscher als Goethe darf in ähnlicher Weise als freier Schüler
Spinozas angesprochen werden, Fürst Bismarck, der von seinem Dämon getriebene
Realpolitiker. Darauf haben schon die Geschichtsschreiber Meinecke und Marcks
und (in einer besonderen Schrift) der Staatsrechtler Rosin hingewiesen. Man
würde zu weit gehen, wollte man die zahlreichen Anklänge, die in Bismarcks Reden
an Worte Spinozas erinnern, für bewußte Anlehnungen erklären; sehr
wahrscheinlich aber ist es, daß der sogenannte Kulturkampf, der wirklich wie
eine Idee aus dem 17. Jahrhundert erschien und darum fehlschlug, auf alte
Vorstellungen von der Übermacht des Staates über die Kirche zurückging, wie sie
von Hobbes und noch entschiedener von Spinoza gelehrt wurde. Von den vielen
Zeugnissen aus Bismarcks Reden und Briefen führe ich nur eines an, das aus dem
merkwürdigen Werbebrief um seine Frau Johanna; es ist vom Ende
[126/127]
ligion, im Sinne eines gemeinsamen Glaubensbekenntnisses, suchte Goethe
nicht bei Spinoza. Im Rausche der Neuentdeckung konnte Dalberg an Herder
schreiben, „Spinoza und Christus, nur in diesen beiden liegt reine
Gotteserkenntnis", konnte Lichtenberg sagen: „Wenn die Welt noch eine unzählbare
Zahl von Jahren steht, so wird die Universalreligion geläuterter Spinozismus
sein", konnte Hegel den Satz wagen: „Entweder Spinozismus oder keine
Philosophie". So unfreier Enthusiasmus (bei Lichtenberg sehr merkwürdig) war
Goethes Sache nicht. Worin war er ein Spinozist?
Der Einfluß Spinozas auf ihn ist un-
[Fortsetzung der Anmerkung
von Seite 126] Dezember 1846, köstlich in seiner Vereinigung von inniger
Offenheit und Schlauheit; er redet viel von Gott und von der möglichen Kraft des
Gebets, verschleiert aber durchaus nicht, daß der Werber seit seiner
Konfirmation ein Unchrist war, ein Deist, ein Pantheist, daß erst seit zwei
Monaten die „Gnade" des Glaubens ihm nahe gekommen ist. Der Spinozist
Schleiermacher hatte ihn ja eingesegnet. Einmal verrät sich sogar, daß er sich
einst die Spinoza-Deutung Bayles zu eigen gemacht hatte: er habe nicht beten
können, weil der allgegenwärtige Gott (wenn Bismarck bete) gewissermaßen zu Sich
Selbst bete (die großen Anfangsbuchstaben sollten dem pietistisch frommen Herrn
von Puttkammer wohl schmeicheln). Dann aber heißt es [127/128]
geheuer; es wäre eine gute Seminararbeit, diesen
Einfluß einmal im einzelnen nachzuweisen, im Faust, in der Lebensbeschreibung
und vor allem in der Lebenshaltung. Auch an Huldigungen für Spinoza fehlt es
nicht. In den zahmen Xenien nennt er ihn den Philosophen, dem er zumeist
vertraue. Das unvergleichliche Gedicht „Prometheus", das den ganzen Götterbrand
um Spinoza entfachte, ist ein Bekenntnis zum rebellischen Atheismus, noch
unabhängig von Spinoza; und das herrliche „Fragment über die Natur" (von 1782)
mag wirklich nur indirekt von Spinoza, direkt von Shaftesbury beeinflußt sein,
obgleich
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 127] ausdrücklich: In der
Studienzeit „waren es Philosophen des Altertums, unverstandene Hegelsche
Schriften, und vor allem Spinozas anscheinend mathematische Klarheit, in denen
ich Beruhigung über das suchte, was menschlichem Verstande nicht faßlich ist". -
Es reizt mich, neben Goethe und Bismarck auch den dritten Deutschen zu, nennen;
natürlich konnte Luther nichts von Spinoza ,wissen; aber auch Luther, in seiner
schönen und starken Jugend, kam von dem ketzerischen Pantheismus her, der in der
„Theologia deutsch" steckte, wie überall in den Schriften der deutschen Mystik.
Erst später verfing sich der realpolitische Reformator in dem Drahtverhau der
Dogmen, die er wahrlich nicht reformierte. [128/129]
man da gerade regelmäßig
„Gott" an die Stelle von „Natur" setzen könnte; aber die (etwa 1784 der Frau von
Stein diktierte) „Philosophische Studie" ist zugleich eine zustimmende Deutung
Spinozas und eine stolze Absage an die Einfältigkeit der christelnden Freunde
Lavater und Jacobi. Da er später sich vom Geiste Jacobis, dessen Herz er liebt,
für ewig entfernen muß, schreibt er (1811) in seine strengen „Annalen": er
rettete sich zu seinem alten Asyl, zu Spinozas Ethik. Im dritten und vierten
Buche von „Dichtung und Wahrheit" ist und bleibt Spinoza der „Heilige", zu dem
Goethe aufblickt. Goethe selbst hält den ethischen Einfluß Spinozas für
überwältigend, die - ich wiederhole es - grenzenlose Uneigennützigkeit, die aus
jedem Satze hervorleuchte. Wie schon bei Bayle die Beschimpfung des Denkers
neben der Anerkennung des „Partikuliers" Spinoza Goethes Mißtrauen erweckt hat,
so geht ihm die Lehre des Amsterdamer Juden zunächst durch seinen Charakter auf.
In dem schönen Eingang des vierten Buches [129/130] von „Dichtung und Wahrheit"
hat Goethe am klarsten ausgesprochen, wie er sich durch Spinoza habe in allem
Handeln bestimmen lassen. Jeder kluge Mensch habe noch zuletzt ausgerufen, daß
alles eitel sei, „Nur wenige Menschen gibt es, die solche unerträgliche
Empfindung vorausahnen und, um allen partiellen Resignationen auszuweichen, sich
ein für allemal im ganzen resignieren. Diese überzeugen sich von dem Ewigen,
Notwendigen, Gesetzlichen und suchen sich solche Begriffe zu bilden, welche
unverwüstlich sind, ja, durch die Betrachtung des Vergänglichen nicht
aufgehoben, sondern vielmehr bestätigt werden. Weil aber hierin wirklich etwas
übermenschliches liegt, so werden solche Personen gewöhnlich für Unmenschen
gehalten, für Gott- und Weltlose, ja, man weiß nicht, was man ihnen alles für
Hörner und Klauen andichten soll ... Denke man aber nicht, daß ich seine
(Spinozas) Schriften hätte unterschreiben und mich dazu buchstäblich hätte
bekennen mögen. Denn daß niemand den [130/131] andern versteht, daß keiner bei
denselben Worten dasselbe was der andre versteht, daß keiner bei denselben
Worten dasselbe was der andre denkt, daß ein Gespräch, eine Lektüre bei
verschiedenen Personen verschiedene Gedankenfolgen aufregt, hatte ich schon
allzu deutlich eingesehen und man wird dem Verfasser von ,Werther' und ,Faust'
wohl zutrauen, daß er, von solchen Mißverständnissen tief durchdrungen, nicht
selbst den Dünkel gehegt, einen Mann vollkommen zu verstehn, der als Schüler von
Descartes durch mathematische und rabbinische Kultur sich zu dem Gipfel des
Denkens emporgehoben, der bis auf den heutigen Tag noch das Ziel aller
spekulativen Bemühungen zu sein scheint."
Da haben wir den Gegensatz zwischen Bayle und Goethe. Bayle macht dem
Denker dessen Umwertung alter Begriff e zum bittern Vorwurf und versteht ihn
nicht, weil er sich trotzdem an den Buchstaben hält; Goethe durchschaut die
Wertlosigkeit überhaupt der Sprache [131/132] und versteht Spinoza eben darum,
weil er sich nicht an den Wortlaut hält. Er ist ein Spinozist, aber nicht als
ein Schüler, sondern als ein Verwandter. (E. Caro, „La philosophie de Goethe":
Il est de sa famille bien plus que de son école.)
Wenn es die Ethik Spinozas allein gewesen wäre, was
Goethe fürs Leben fesselte, warum brachte er den philosophischen Juden (in
seinem Ahasver-Plan) in direkten Gegensatz zu Jesus Christus? Warum wurde Goethe
ein „dezidierter Nichtchrist"? War „grenzenlose Uneigennützigkeit" nicht auch
die Ethik Jesu Christi? Wollte Goethe sich nur von der Kirche befreien, warum
dann sein Haß gegen das Kreuz selbst?
Weil Goethe eben die Ethik Spinozas nicht nur bewunderte, sondern in ihr
weit mehr, als er sich logisch klarzumachen gewohnt war, eine Welterklärung
fand. Spekulative Bemühungen waren nicht Goethes Sache; er verhielt sich
ablehnend gegen Kant, so oft auch Schiller die Kategorien der reinen Vernunft
anzu-[132/133]preisen suchte, er schob Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung" stillschweigend
beiseite, trotzdem ihm der Verfasser nahestand. Er hatte sich bei der
Weltanschauung Spinozas „beruhigt", er war bei ihr „stille" geworden, wie „Gott
oder die Natur". „Sie ist weise und still."
Für die Behauptung, daß Goethe im Spinozismus das Aperçu seiner
Weltanschauung gefunden hatte, daß er der Wiedererwecker Spinozas werden konnte,
weil ihn das Wort nicht kümmerte, daß er aber im Spinozismus dennoch für
Dichtung und Naturbetrachtung das ewige Licht sah, dafür hat er selbst kaum
irgendwo einen stolzern, überlegenern und reinern Ausdruck gefunden, als in
seinem Brief an Herder, aus Rom, vom 23. Oktober 1787 (Ital. Reise), „Ich habe
immer mit stillem Lächeln zugesehen, wenn sie mich in methaphysischen [!]
Gesprächen nicht für voll ansahen; da ich aber ein Künstler bin, so kann mir's
gleich sein. Mir konnte vielmehr daran gelegen sein, daß das [133/134]
Prinzipium verborgen bliebe, aus dem und durch das ich arbeite."
In metaphysischen Gesprächen hat Goethe oft gesagt,
was ihm Spinoza geworden war. Als Künstler hat er die gewaltige Phantasie, den
Besuch des Ewigen Juden bei Spinoza, leider nur gedacht, nicht gestaltet.
Vielleicht ist etwas Ungeheures verloren gegangen: Spinoza in der deutschen
Dichtung, unzerstörbar wie Faust. Vielleicht aber auch war die Phantasie nicht
gestaltbar genug. Später haben deutsche Dichter jüdischer Rasse den Plan Goethes
ausgeführt; Berthold Auerbach klein und beschämend, S. Heller mit geistiger
Kraft ohne recht strömende Poesie, (Es gibt auch selbständige Spinoza-Romane;
den von Kolbenheyer, „Amor Dei", wir erleben da viel von Spinozas Welt; den von
Otto Hauser, ein fast christelndes Unterhaltungsbuch.)
Kostbar sind die wenigen Blätter, in denen Goethe
sich doch - nachdem er an „guten Abenden" die Dinge mit Herders [134/135] und
der geliebten Frau durchgesprochen hat - mit Spinoza metaphysisch
auseinanderzusetzen[,] sucht.
Sie
können uns lehren, wie hoch die führenden Geister jener Zeit über dem
Literaturgebrodel unserer Tage standen. Mit Ehrfurcht und Sehnsucht muß 'man
jener Tage gedenken. Nicht müde wird Goethe, in Spinoza wieder und wieder zu
lesen, sich alles klar zu machen, nur um es der geliebten Frau einfach wie eine
Blume vorzulegen, und nicht müde wird Charlotte, von dem geliebten Lehrer zu
lernen. Man war besonders fleißig im Dezember 1784; die Handschrift von Jacobis
Spinoza-Büchlein war kurz vorher in Weimar eingetroffen. Aber Goethe hat kein
eigenes Exemplar des Spinoza; Herder schenkt das seine und sendet es den
Liebenden am Christtage, am 25. Dezember, dem Geburtstage auch der Frau von
Stein.*) Und der Generalsuperintendent
*) Darauf natürlich geht der
anmutige Scherz, der sie eine Schwester des heiligen Christes nennt; es ist
häßlich von Suphan, daß er es mit auf ihre Frömmigkeit bezieht.
[135/136]
und
Prediger Herder begleitet das Buch mit folgender Widmung:
Deinem und unsern Freund sollt heut den heiligen
Spinoza
als ein Freundesgeschenk bringen der heilige
Christ.
Doch wie kämen der heilige Christ und Spinoza
zusammen?
welche vertrauliche Hand
knüpfte die beiden in eins?
Schülerin des Spinoza und
Schwester des heiligen Christes.
Dein geweiheter Tag knüpfet am besten das Band.
Reich ihm seinen Weisen, den du gefällig ihm machtest,
und Spinoza sei euch immer der heilige
Christ.
[136/137]
In dem durch Jacobi heraufbeschworenen allgemeinen Streite um
Spinoza, hatte sich auch Kant, durch den Tod Friedrichs des Großen ängstlich
geworden, nicht mit Ruhm bedeckt. Es ist nicht anders, die Philosophen verbissen
sich in die Sätze und Beweise des Systems von Spinoza und förderten nur
logistischen Streit; die Dichter zuerst, die deutschen Dichter, die wir die
klassischen nennen, versenkten sich, nachdem Lessing ihn wiederentdeckt hatte,
in die ganz persönliche Weltanschauung des halbverschollenen Denkers, und Goethe
wurde nicht so sehr zu seinem Schüler als zu seiner Reinkarnation. Auf dem
besten, vielleicht dem einzigen echten Spinozabildnis, dem von Wolfenbüttel,
blicken die großen, großen Augen ähnlich heraus wie auf dem Goethebildnis von
Kügelgen, dem von 1810. Goethe dichtete und lebte, [137/138] was Spinoza gelebt
und gelehrt hatte: die nichtchristliche, meinetwegen gegenchristliche Einheit
oder Einigheit von Ich und Natur, dazu die Freude an dieser Einigheit, das
Glücksgefühl des Heiden; die Abkehr von jedem sogenannten
Pessimismus.
Es sind immerhin die
Freiern unter uns, die sich jetzt mit Berufung auf Spinoza und Goethe, auf deren
Gefühl von Einheit oder Einigheit, zu dem Monismus bekennen, als der für
konfessionslose Menschen allein noch möglichen Weltanschauung. Ich habe vor
Jahren (in meinem „Wörterbuch der Philosophie" II. S, 97 u. f.) diesen
dogmatischen Monismus einer etwas zu herben Kritik unterzogen; ich will jetzt,
weniger streng, die Gedanken jenes Aufsatzes zusammenfassen, um zu zeigen, was
an der Lehre Spinozas auch für uns, nach 250 Jahren, noch ganz lebendig oder
zukunftsreich ist. Denn wir haben die Einsichten Spinozas zwar in allen
Einzelwisenschaften überholt, sein Weltgefühl aber noch nicht alle erreicht.
[138/139]
Der Mensch, dieweil er
lebt, hat den Instinkt, in der Umwelt nur Individuen zu erblicken, mit denen
allein er es durch seine drei Motive des Hungers, der Liebe und der Eitelkeit zu
tun hat; derselbe Mensch, dieweil er denkt, hat den entgegengesetzten Instinkt,
nur die Begriffe für wahr zu halten, ja immer höhere und allgemeinere Begriffe
zu bilden. So den Begriff des einen Gottes, der einen Substanz. Der alte
Dualismus von Leib und Seele oder von Körper und Geist schien so durch ein Wort
überwunden, durch den Monismus. Anstatt „Körper und Geist" konnte man auch
„Natur und Verstand" sagen. Diesen Gegensatz, der die gleiche Erscheinung wie in
zwei verschiedenen Sprachen ausdrückt, glaubte der Forscher Darwin ehrlich aus
der Welt geschafft zu haben, da er die bewußten Zwecke aus der Natur
ausschaltete, da er die „zweckmäßigen" Formen der Natur aus den Gesetzen der
Vererbung und Anpassung erklärte, eine Entwicklung an die Stelle einer Schöpfung
setzte. Unsere deutschen Monisten - Haeckel an der [139/140] Spitze - begingen
den Fehler, aus den Hypothesen Darwins ein Dogma des Darwinismus zu machen; wir
wissen jetzt, daß Darwins Entwicklungslehre nur eine Denkrichtung ist, keine
Lösung der alten Rätsel, daß Haeckels dogmatischer Darwinismus sich verrannt
hatte; aber es war doch schon eine Kulturtat, daß Darwin die Möglichkeit erkannt
hatte, den Zweckbegriff aus der Natur wegzudenken: die Schöpfung nach einem
Plane im Kopfe eines mit menschenähnlichem Verstande ausgestatteten Wesens.
Haeckels Monismus war nicht weniger wortabergläubig als irgendeine abergläubige
Theologie, er war dogmatischer Materialismus; und bei der Einigheit des
Materialismus können wir uns nicht mehr beruhigen. Wir wissen von der Materie
ebensowenig, im letzten Grunde, wie vom Geiste. Und mit seinen Berufungen auf
Spinoza und Goethe, mit seiner Systemmacherei und seiner gekünstelten Sprache,
bewies Haeckel nur - dessen Bedeutung als Spezialforscher nicht angetastet
werden soll -, daß er weder [140/141] Spinoza noch Goethe eigentlich kannte, daß
er kein philosophischer Kopf war, nicht einmal eine Herrschaft über die
Fachausdrücke des abstrakten Denkens besaß. Seit Jahren bemüht sich gegenwärtig
Wilhelm Ostwald, und mit Erfolg, die deutschen Monisten aus dem Dogmatismus zu
dem bessern, und ebenso unkirchlichen, englischen Agnostizismus hinzuführen, der
Lehre: daß der menschliche Verstand zur Lösung der Welträtsel nicht ausreicht.
Es fehlt nur ein Schritt zu der bescheidenen Lehre meiner Sprachkritik: daß die
Sprache das einzige Werkzeug zur Erkenntnis der Natur ist, das wir besitzen, und
daß diese Sprache ein untaugliches Erkenntniswerkzeug ist. Von diesem
wesentlichen Mangel der Menschensprache, auch der wissenschaftlichen, hatte
Spinoza - obgleich er selbst mittelalterliche Wortgebilde nicht verschmähte -
eine tiefe Ahnung, hatte Goethe ein starkes Bewußtsein. Das Wort „Monismus" nun
ist aus der altgriechischen Bezeichnung der Eins entstanden und bedeutet: den
Glau-[141/142]ben an die Einigheit der Naturursache, an die Einheit des
Weltganzen. Als ob dadurch etwas erklärt wäre! Als ob hinter dieser Einheit
nicht ebensogut der alte Judengott stecken könnte! Vor zweitausend und einigen
Jahren erklärte der weltberühmt gewordene Philosoph Aristoteles den Kreis für
die vornehmste Linie und „bewies" aus diesem unsinnigen Werturteile eine Menge
Erscheinungen; wir sind nicht klüger, wenn wir die Eins für die vornehmste Zahl
erklären und aus diesem ebenso unsinnigen Werturteile eine Weltanschauung
herausspinnen wollen. Wir werden den Wortaberglauben an den Monismus ebenso
überwinden müssen - durch ihn hindurch, nicht an ihm vorbei - wie die Zeit von
Descartes und Spinoza den Wortaberglauben der Aristoteliker in schweren äußern
und innern Kämpfen überwinden mußte.
Wenn sich also unsere Monisten weiterhin auf Spinoza und auf Goethe als
auf ihre Schutzheiligen berufen wollen, so habe ich nichts dagegen und werde
[142/143] nicht einmal darauf bestehen, daß man das Schlagwort „Monimius"
aufgebe, bevor man ein ebenso hübsches und bequemes zur Verfügung hat. Die
Sprachkritiker oder Wortkritiker sind nicht zahlreich genug, um so einen Bund
bilden zu können; auch wohl nicht geschäftstüchtig genug, nicht positiv genug
gerichtet, um ihre Überzeugung von der Wertlosigkeit alter Begriffe und Ideale
zum Ausgangspunkte einer ausgedehnten Propaganda zu machen. Zu sehr lachende
Zweifler, nicht feierlich genug. In der Ablehnung freilich, in der
vielgeschmähten Negation, stimmen die Sprachkritiker oder Wortkritiker ebenso
mit den Monisten überein wie diese mit Spinoza und Goethe; nur daß das
gemeinsame Weltgefühl dieser beiden heidnischen Schutzheiligen - im Denken und
im Dichten - baumeisterlich war und eben, fast mit Widerstreben, morsche Mauern
niederreißen mußte, um Raum und Grund zu schaffen für das Gebäude der neuen
Sehnsucht; nur daß die Kritik der Sprache einen neuen Grund aller menschlichen
[143/144] Erkenntnis, für das Begreifen der bloßen Erkenntnismöglichkeit, zu legen hat und bei
ihrer ungeheuern Aufgabe sich gar nicht darum zu bekümmern braucht, ob die alten
dem Tode verfallenen Wortmauern bis vor kurzem die höchsten Begriffe der
Wissenschaften oder gar einige Ideale oder Sehnsüchte der Religion, der Moral
usw. bedeuteten.
Mag also Spinoza,
der (nach dem hübschen Worte des Engländers Lewes) groß war auch noch unter den
größten Denkern, eine Autorität bleiben für diejenigen, die für ein gemeinsames
Ziel eine Fahne nötig haben, wir beugen uns keiner Autorität und stehen sogar
einem Spinoza, nachdem wir ihn ganz kennen gelernt haben, in freier Liebe
gegenüber. Und weil wir die Grenzen seines Denkens deutlich wahrnehmen, da wo
er, abhängig von den alten Worten und von der Scholastik seines Meisters
Descartes, auch nur ein Weltbild aus leeren Linien, ein System aus Worten
erfindet, weil wir trotzdem überwältigt werden von der Geisteskraft, mit der er
- nicht einmal [144/145] von seinem eigenen Systeme bestochen - dennoch die
Natur und in ihr den Menschen erkannt hat, darum fragen wir noch einmal: was ist
uns Nachgeborenen heute noch der Jude von Amsterdam, der vor bald 300 Jahren um
300 Jahre zu früh geboren wurde?
Ich
habe in anderem Zusammenhange einmal zu lehren versucht, wie schlimm es um die
übliche Scheidung zwischen Mittelalter und Neuzeit bestellt ist; wolle man das
Mittelalter mit der allgemeinen Macht der Papstkirche gleichsetzen, so müsse man
es schon etwa in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts enden lassen, in der
Zeit, als die Ketzer sich nicht mehr zum Schweigen bringen ließen, als durch
Kaiser Friedrich II. das Schlagwort von den drei großen Betrügern (Moses, Jesus,
Mohammed) aufkam; wolle man aber das Mittelalter so lange dauern lassen wie den
allgemeinen Glaubenshaß und die Religionskriege, so könne die Neuzeit erst mit
dem Westfälischen Frieden beginnen, der wenigstens in bescheidener Weise ein
wenig Duldung zwischen [145/146] den christlichen Hauptkonfessionen festsetzte.
Diesen wahren Beginn der Neuzeit kann man an das Auftreten einiger
Naturwissenschaftler knüpfen, die die neuen Waffen der Mathematik auf die
Mechanik des Himmels und der Erde anwandten; unmittelbar hatte Spinoza einen
solchen Einfluß nicht auf den Geist seiner Zeit; rückblickend müssen wir aber
sagen, daß im ganzen 17. Jahrhundert kein Mann so frei war wie er von den
Bindungen des Mittelalters, (Von dem Gebrauche mancher metaphysischer Ausdrücke
immer abgesehen,) Das Mittelalter unterwarf Denken und Moral blindlings der
Kirche und nannte das Gottesfurcht. Alle diese Begriffe löschte Spinoza mit
ruhiger Hand von den alten Tafeln. Er sah und erlebte etwas, was er nach wie vor
Gott nannte, aber die Gottesfurcht war ihm nichts Gutes; wer Gott oder die Natur
fürchtet, anstatt ihn oder sie zu lieben, der liebe irgend etwas (z. B. sein
Wohlergehen im Jenseits) mehr als Gott. Das menschliche Denken war während des
Mittelalters angekettet gewesen, [146/147] innerlich und äußerlich, an die
Dogmen der Kirche; Spinoza befreite durch seinen Traktat die Vernunft vom
Höllenzwang des Bibelworts, er zuerst übte Kritik an aller Theologie. In der
Besiegung der Furcht und in der Bibelkritik ist er seitdem überholt worden, von
tapfern Leuten, die ihm folgten; in der Befreiung der Menschenmoral von der
Theologie aber ist er bis zur Stunde unerreicht geblieben, denn seine
Moralkritik ist noch reiner und zeitloser als die verrufene Lehre, die wir (nach
den glänzenden Sprüchen von Nietzsche) Amoral oder geschichtliche Entwicklung
der Moral zu nennen pflegen. Und das ist bei Spinoza gar nicht geistreich, gar
nicht spöttisch; so einfach und so notwendig wie das vielfarbige Sonnenbild in
einem Tautropfen. Es handelt sich auch um gar nichts anderes als um Spinozas
unmenschlich schöne Vorstellung von der unbedingten Notwendigkeit alles
Geschehens; was in Gott oder der Natur wird, das ist notwendig, das ist nicht
frei; Gott (die Natur) hat keinen Willen und keinen Verstand; der [147/148]
Mensch hat ein bißchen Verstand, doch gar keinen freien Willen, der seine
Handlungen moralisch bewerten ließe; es ist in der gesamten Menschenwelt kein
Raum für das, was man Moral nennt. Gut und böse sind nur Menschenbegriffe; aber
es muß doch wohl Träger des Guten geben, denn Spinoza hat - wie alle seine
Gegner zugeben müssen - ungefähr so gelebt, wie christliche Moral es von einem
Heiligen verlangt. Spinoza war wie sein Gott, eins mit der Natur, die auch
nichts verlangt für ihre Gaben. Und weil der Mensch nicht einer auferlegten
Pflicht gehorcht, wenn er sozusagen gut ist, weil er notwendig so oder so ist,
darum hat der Mensch auch kein Recht darauf, daß Gott oder die Natur ihn
wiederliebe,
Diese unerhört gelassene
Einsicht in die ausnahmlose Notwendigkeit alles Geschehens (nicht auch in dessen
Erklärbarkeit!) bewahrte Spinoza vor der abgründigen Dummheit höchst achtbarer
Schriftsteller, die sich übrigens ja Philosophen nennen dürfen und sich sogar
gern auf Spinoza berufen. Ich denke da an die [148/149] unausrottbare Gewohnheit
der Bücherschreiber, kindischem Bedürfnisse entgegenzukommen mit Schriften, die
den einschläfernden Titel führen: „Sinn des Lebens" oder „Wert des Lebens". Vor etwas mehr als 100
Jahren sagte man da kindlicher und verräterischer: „Die Bestimmung des
Menschen." Der liebe Gott hatte Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen geschaffen,
Steine, Pflanzen und Tiere für den Menschen, den Menschen für einen höheren
Endzweck. Dieser schlichte Glaube wurde verwischt, aber nicht getilgt durch die
neue Bezeichnung: Sinn oder Wert des Lebens. In unsern Tagen hat besonders
Rudolf Eucken begreiflichen Zulauf bei seinen Bemühungen, dem armen
Menschenleben einen Sinn oder Wert unterzulegen; der Mensch hat die Aufgabe (von
wem?) emporzusteigen, zu immer höheren Stufen. (Wohin?) Weniger achtbar ist mir
die Schriftstellerei des Franzosen Bergson, der die Philosophie mit
Schauspielerei zu verwechseln scheint. Gar nicht erst zu reden von dem ganz
unselbständigen Vertreter [149/150] der südwestdeutschen Philosophenschule (ich
weiß nicht, ob sie sich selbst und ernstlich so nennt), der auch über Sinn und
Wert des Weltganzen geschrieben hat und möglicherweise selbst versteht, was
er sagt: „Der Sinn, den
der Akt des Wertens hat, ist einerseits kein psychisches Sein, sondern weist
über dieses hinaus auf die Werte hin; er ist andererseits aber auch kein Wert, weil
er nur auf Werte
hinweist."
In Spinozas erhabenem
Bilde von dem wirklichen Weltgeschehen war - wie gesagt - kein Raum für einen
Zweck oder eine Absicht oder gar für einen Wertmesser; der Gott oder die Natur
besaß weder einen Menschenverstand noch einen Menschenwillen, konnte also bei
der sogenannten Schöpfung einen Zweck nicht haben, eine Bestimmung des Menschen
weder vorstellen noch wollen. Ein Schüler Spinozas kann nicht daran denken,
solche Fragen zu beantworten, weil er solche Fragen nicht zu stellen
vermag.
Aber - so werden mir Leser
entgegenschreien, die wahrlich nicht spinozareif [150/151] sind -: das ist ja
eine ganz verzweifelte Weltansicht, das führt ja schnurstracks zu einem
entsetzlichen Pessimismus! Ich darf bei diesen unfreundlichen Lesern natürlich
nicht voraussetzen, daß sie gelesen oder sich gar gemerkt haben, was ich einmal
(Wörterbuch der Philosophie II. S. 188 ff.) über die Künstlichkeit, ja
Drolligkeit des Begriffspaares Optimismus. und Pessimismus ausgeführt habe. Ich
will es in wenigen Zeilen wiederholen und dann zu der heiligen Heiterkeit
Spinozas zurückkehren, die man nicht Optimismus nennen sollte.
Wir haben es da mit betrüglichen Begriffen zu tun;
nicht einmal die Steigerung der Eigenschaftswörter (z. B. der beste, der
schlechteste) ist allen Menschensprachen eigen; die Vorstellung des Optimismus,
daß also diese uns allein bekannte Welt zwar nicht an sich gut sei, wohl aber
verhältnismäßig die beste aller möglichen Welten, diese Vorstellung war der
traurige Versuch einer Rechtfertigung Gottes, ein Versuch, das beobachtete Elend
des Menschenlebens mit den [151/152] von der Theologie behaupteten Eigenschaften
Gottes (Allmacht, Güte) auszugleichen. Dieser rechtsverdreherischen Lehre, die
man vielleicht zuerst nur in boshafter Absicht Optimismus nannte, stellte sich
erst später die grimmige Lehre gegenüber, die sich wieder nicht in klaren Worten
ausdrücken ließ und für die man, mit einer witzigen Anknüpfung an Optimismus,
eben die Bezeichnung Pessimismus erfand. Hinter der einen wie der andern Meinung
steckt nichts, das man eine Weltanschauung nennen könnte, sondern eigentlich nur
die persönliche Stimmung des Sprechers oder Schreibers, der sich zu der einen
oder zu der andern Meinung bekennen will und dafür ein klingendes Wort
sucht.
Es wäre töricht, Spinoza um
seiner heitern Lebensführung willen einen Optimisten zu nennen. Er nannte sein
Hauptwerk „Ethik", weil sich da alles um das Handeln der Menschen drehte, also
um ein Geschehen, das allgemein nach alten moralischen Tafeln gewertet wird.
Spinoza wertete nicht und wortete nicht; [152/153] der „tugendhafte" Mensch war
ihm nicht moralischer als ein Dreieck, dessen Winkelsumme gleich ist zwei
Rechten. Wenn er die Begriffe Optimismus und Pessimismus in seinem Sprachschatze
besessen, hätte, so hätte er in keinem von beiden eine Regel gesehen, nach
welcher man leben müßte. Es gibt heitere und traurige Menschen, wie es helle und
trübe Tage gibt. Naturnotwendig. Wie es, nach, der Menschensprache, gute und
böse Taten gibt. Naturnotwendig. Es gibt kein Sollen. Alles wird, wie es
notwendig werden muß.
Sind also die
rechtgläubigen Todfeinde Spinozas im Rechte, die ihn einen Materialisten
schelten? Es sind das so geläufige Schimpfwörter, die ungefähr den gleichen
Vorwurf ausdrücken: Atheist, schlechter Kerl, Materialist. Spinoza ist
wahrscheinlich in jungen Jahren, da er dem Köhlerglauben der Synagoge entwachsen
war und in die Lateinschule von van der Ende kam, durch einen geistig unsaubern
Materialismus hindurchgegangen; er lernte damals die Schriften des [153/154]
Mathematikers Descartes kennen, der nur zu ängstlich war, um seine ganz
diesseitige, ganz mechanistische Anschauung offen auszusprechen; für Descartes
waren alle Körper Maschinen, auch die Tiere, nur vor der Menschenseele machte er
halt, weil er bei der Kirche keinen Anstoß erregen wollte. Spinoza nun hatte von
seinem Vorgänger Descartes viel gelernt, sicher auch das mathematische, das
mechanistische Weltbild, den Materialismus. Nur daß Spinoza sich mit diesem
einen und einseitigen Bilde der Welt nicht begnügte, nur daß Spinoza, der
Allumfasser, die Unzulänglichkeit des mechanistischen Bildes durchschaute und
nach einer Ergänzung verlangte, nach einer Befreiung von der Zerbröcklung der
mathematischen Naturerklärung. Hier lebte der Denker Spinoza wie auf dem
obersten Stockwerke einer Sternwarte; auf dem obersten Stockwerke, nicht weil er
sich auf Fernrohre verstand, sondern weil er, eins geworden mit den Sternen, die
irdischen Dinge alle unter einem gewissen Gesichtspunkte der Ewigkeit zu
[154/155] betrachten sich gewöhnt hatte. Um nun ein einziges hohes Beispiel zu
bieten: in dem mechanistischen oder wissenschaftlichen Weltbilde folgt die
Wirkung auf die Ursache, nicht etwa logisch, nicht nur zeitlich, einfach
notwendig; Spinoza als der erste ahnt, daß da nur eine Beschreibung vorliege und
keine Erklärung, er sieht mit seinen geistigen Augen eine Einheit zwischen
Ursache und Wirkung, er begreift, daß eine vollständige Kenntnis der Wirkung
eine vollständige Kenntnis der Ursache einschließen würde. Ich möchte das so
ausdrücken: wenn wir ein einziges Atom unseres mechanistischen Weltbildes
„wissen" würden, so würden wir alles wissen; doch wissenschaftlich wissen wir
nichts.
Spinoza hatte ein so klares
Verständnis für die zwar trügerische, aber in ihrer Einseitigkeit belehrende
mechanistische Weltansicht, daß noch Johannes Müller, der Begründer der neuen
Physiologie, sich auf diese Philosophie berufen konnte. Und Spinoza, in seinem
Traktat nebenbei der Stifter des liberalen Ratio-[155/156]nalismus, war so
überzeugt von dem schließlichen Bankerott jeder mathematischen Welterklärung,
daß er wiederum von dem englischen Agnostizismus in Anspruch genommen werden
konnte, von dem Bekenntnisse, daß uns die letzte Erkenntnis in jedem Punkte
versagt ist. Wir aber wollen uns nicht scheuen, die Weltanschauung Spinozas
zumeist mit derjenigen zu vergleichen, die die ganz wenigen wahren Mystiker des
Ostens und des Westens, der alten und der neueren Zeit, verbindet. Spinoza war
ein' Mystiker, weil er eigentlich nichts wußte, trotz all seiner Denkkraft, als
seine Einheit in der Welt, mit der Welt, seine Einheit in der Gottnatur, mit der
Gottnatur.
Man begnügt sich
gewöhnlich damit, das Wort Pantheismus auf diese Lehre anzuwenden. Weil Spinoza
den Gottesbegriff nicht preisgeben konnte, weil er seinen Gott mit dem All
gleichsetzte. Die den heiligen Spinoza zu den Mystikern rechnen, sollten sich
jedoch nicht darauf berufen, daß der Pantheist Spinoza den Gottesbegriff weiter
benützte. Zu den [156/157] gotttrunkenen Mystikern gehörte Spinoza nicht; er war
nur alltrunken. Wie er in den Eingangsdefinitionen seiner Ethik mehrere uralte
Begriffe für seine eigene Verwendung, sprachwidrig, neu maskierte, so bildete er
sich und für sich einen Gottesbegriff, den die Gemeinsprache des Pöbels und der
Theologie nicht kannte; viel mehr als vier Ellen weit von sich bannte er das
alte Gespenst des persönlichen, des schaffenden und erhaltenden Judengottes.
Herder, Schelling, Hegel und Schleiermacher täuschten sich, als sie Spinoza zu
einem Christen machten. Spinozas Mystik ist eine gottfremde, eine gottlose
Mystik.
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