Holzschnitt 1510
    
Niklaus von Flüe
Bruder Klaus  
  
 
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   Mystik und Mathematik · Analyse der Radskizze
  
2. Mathematische Theologie» zur Erklärung des
     Unsagbaren bei Nikolaus von Kues (gest. 1464)
  
Das wohl größte wissenschaftliche Genie des 15. Jahrhunderts kommt aus der Gegend, die heute «Rheinland-Pfalz» heisst. Der 1464 verstorbene Kardinal Nikolaus von Kues war nicht nur Philosoph, Jurist und Theologe, er hatte sich auch auf dem Gebiet der Mathematik verdient gemacht. Die Besonderheit dabei lag darin, dass er dieses Wissensgebiet nahe an die Theologie heranrückte und mathematische Symbole auf sie anwandte. Als rein mathematische Werke sind bekannt: «De quadratura circuli», «De transmutationibus geometricis» und «De arithmeticis complementis», die beide einem Florentiner Physicus namens Paulus gewidmet sind, dann «De mathematicis complementis», welches Papst Nikolaus V. zugeeignet wurde, und schließlich noch «De mathematica perfectione». Zur Schrift, die dem Papst dediziert wurde, verfasste Cusanus die Ergänzungsschrift «Complementum theologicum», welche für unsere Untersuchung von besonderem Interesse sein wird und desgleichen auch das Hauptwerk «De docta ignorantia»; diese beiden Schriften werden nun im folgenden zu berücksichtigen sein. Darin finden wir die im vorangegangenen Kapitel angeschnittenen Themen in einer großartigen Systematik wieder. Wahrscheinlich ist der Cusaner betreffend der Anwendung der Kreis- bzw. Kugelsymbolik in der Theologie unübertreffbar in der weiten Anlegung, der Ausführlichkeit und der Effizienz der Verknüpfung von Theologie und Mathematik. Kreis, Mittelpunkt, Quadrat, etc. werden hier bedeutsam, sie dienen als Hilfsmittel zu Aussagen über Gottes Einheit und Dreifaltigkeit, sowie sein Verhältnis zum Universum, das sich in Vielfalt ausfaltet und als Ganzes trotzdem eine stete Einheit bildet.

Zirkulatur des Quadrats
   
Im vorhergehenden Kapitel wurde der Radskizze im Pilgertraktat ein Zusammenhang mit der Quadratur des Zirkels in theologischer Bedeutung nachgewiesen. Der Kusaner hat sich besonders mit dieser Thematik auseinandergesetzt, wie der Titel eines der soeben erwähnten mathematischen Schriften verrät. Die Ausführungen in seinem «Complementum theologicum» streift auch die Aufgabenstellung im alten euklidischen Sinn, er erkennt diese als unlösbar, formt sie um und transloziert sie in eine philosophisch-theologische Aussage, die Quadratur des Zirkels ist nicht mehr wichtig, die aktuelle Themenstellung ist jetzt die «Zirkulatur des Quadrats», der Kreis wird nicht gemessen, sondern ist selbst das Maß aller Dinge, ebenso wie analog Gott das Maß aller Dinge ist im Verhältnis zu allem Weltlichen.
   
Größte Aufmerksamkeit widmet der Kusaner der Phänomenologie der Kreiskrümmung, die ansatzweise bereits ein Stück Infinitesimalrechnung darstellt, darüber handeln beide der erwähnten Schriften. In «De docta ignorantia» wird angenommen, dass die unendliche Linie eine gerade sei; wenn nun die Krümmung einer Kreislinie extrem minimal wird, bei gleichzeitigem unendlichen Expandieren des Kreises, so wird diese Krümmung in vollständige Geradheit umgewandelt. Diese Erkenntnis ist grundlegend für die intelligible Tatsache, dass ein dem Kreis umschreibendes regelmäßiges Dreieck, Sechseck oder Quadrat, bei gleichzeitigem Anwachsen dieser Figur ins Unendliche mit dem gleichfalls unendlich expandierten Kreis in eine einzige Figur zusammenfasst. – Im Übrigen erscheinen jedoch die Ausführungen in der Frühschrift «De docta ignorantia» etwas schwer verständlich. Ähnlich verhält es sich mit der Spätschrift «Comlementum theologicum». Diese Schrift knüpft an das dem Papst Nikolaus V. gewidmete Werk «De mathematicis comlementis» an. So wird denn hier auch Bezug genommen auf die Problemstellung, den Kreisumfang messbar zu machen. In der «theologischen» wird dies wiederum ins Überdimensionale, Infinitesimale, hinübergeführt, um davon einen theologischen Sinn abzugewinnen. Ein Kreis, dessen Umfang unendlich ist, der ist selber unendlich; je größer der Kreis, desto gerader sein Umfang, der Umfang des unendlichen Kreises ist somit geradlinig und die Umfänge gerade und kreisförmiger Figuren koinzidieren bei maximal unendlicher Ausweitung; so ist die Unendlichkeit demnach Geradheit, und theologisch bedeutsam, sie ist absolute Gerechtigkeit. Aber auch die Wahrheit ist in diesem Sinne Unendlichkeit. Wenn man sich nun den unendlichen Kreis vorstellt, so sieht man, dass der Kreis als solcher, sowie sein Durchmesser und sein Umfang einander notwendigerweise völlig gleich sind; der Mittelpunkt selber ist dann ebenfalls unendlich, also auch gleich mit den drei vorher genannten Größen. Das ist gleichsam die Vorstufe von jenem vielbesagenden Satz, Gott sei eine unendliche
Sphäre und ein Allmittelpunkt.

Der Punkt ist die Quelle der Kraft
   
Die Vielecke (darin inbegriffen das Quadrat) werden aus geraden Linien gebildet, unendlich gedacht, fallen sie, wie gesagt, mit dem ebenfalls unendlich gedachten Kreis zusammen, an einem Beispiel gezeigt, sind es ein Vieleck, der es umschreibende Außenkreis und der ihm eingeschriebene Innenkreis, welche nun koinzidieren im isoperimetrischen Kreis, auch «einigdreier Kreis» genannt. Analog gibt es diesen Kreis auch in der Theologie, in Abgrenzung zu den «vieleckigen» Geschöpfen. Diese dreifaltige Unendlichkeit selber ist hingegen unbegreiflich, wir müssen uns zunächst den Figuren zuwenden, welche Seiten, Grenzen und Winkel haben, dann begreifen wir bald, dass der unendliche Kreis ein «einigdreier» ist. Mittels dieser Symbolik können wir vom Niederen zum Höheren und schließlich zum rein Theologischen aufsteigen, wo im Einen alles enthalten ist, und aus dem Einen sich alles entfaltet. – Dieses Begriffspaar «complicatio–explicatio» = Zusammenfassung–Entfaltung nimmt im Denken des Kusaners u.a. eine Schlüsselstellung ein. – Der Geist steigt also auf, ausgehend von den vielwinkligen (vieleckigen) Figuren und vom Kreis, der alle diese Figuren einfaltet, zum theologisch Darstellbaren, und nach der Figuren-Entledigung findet er zurück zur unendlichen Kraft des ersten Ursprungs (primum principium, bzw. principium sine principio = Gott-Vater, Ursprung ohne Ursprung), also zum Schöpfer. Dieser schaut auf sich und die unendliche Fruchtbarkeit und schafft die fruchtbare Seinsheit des Geschöpfes, in welcher der einfaltende Ursprung die Kraft ist, d.h. der Mittelpunkt oder die Seiendheit des Geschöpfes, welche dessen Kraft in sich zusammenschließt, und es entfaltet sich die Kraft des Seienden, die im Mittelpunkt eingefaltet ist, gleichsam wie in einer rückführenden Linie, welche die Kraft des gezeugten oder entfaltenden Seienden ist, so wie eben aus dem Zentrum und der Linie der Umkreis hervorgeht, bzw. die Tätigkeit. Die Krümmung des unendlichen Kreises ist aufgehoben in der unendlichen Geradheit, welche allmächtig, schöpferisch und das Maß von allem ist, das auf irgendeine Weise in seiner Unvollkommenheit der Krümmung unterworfen ist.
   
Nicht nur das unendlich Große ist in der «theologischen Ergänzung» von Bedeutung, sondern auch dessen extremes Gegenteil, die geometrische Figur: der Punkt. Aus diesem Punkt fließt die Linie und dazu analog das Viele (die Zahl) aus dem Einen. Es scheint so, dass Gott primär zwei Dinge geschaffen hat, das Nichts und den Punkt, die so nahe beieinander sind, dass zwischen ihnen kaum eine Grenze besteht, denn werden Punkte (vektoriell) addiert, so resultiert das Gleiche, wie wenn zum Nichts noch mehr Nichts hinzu- gegeben wird; der Punkt ist das geschaffene Eine, in ihm fand die Einfaltung des Universums statt, und aus diesem einzigen Punkt ließ der Schöpfer alles in ähnlichem hervorgehen, denn aus dem Punkt entwickeln sich die Linien und aus diesen wiederum die Figuren. Doch das dem Schöpfer Ähnlichste, Einfachste und Vollkommenste ist der Kreis, der aber dennoch nicht der absoluten Geradheit gleichkommt, es sei denn, er würde der unendliche Kreis.
   
Da Gott aber nur verglichen werden kann mit dem ursprünglichsten Punkt einerseits und der zugleich unendlichen Geradheit des absolut größten Kreises andererseits, so kann es sein, dass dem im Geist aufsteigenden Menschen Gott immer mehr als Paradox erscheint, einmal als Nichts, wie es bereits Dionysius Areopagita erfahren hatte, dann aber auch wiederum als absolute Unendlichkeit, die alles dimensionale Vorstellungsvermögen sprengt. Gott ist also umso mehr, je weniger er scheint, und je unmöglicher etwas in Bezug auf ihn erscheint, desto notwendiger kommt gerade dies ihm zu. – Dieses Paradox veranschaulicht nun auch die Radskizze im Pilgertraktat.

Das Maß aller Dinge
   
Die Wahrheit ist das Maß aller Dinge und nur in sich selbst begreifbar; dies wird deutlich, wenn in unserem Lebensbereich alles in Gegensätzen kontrastiert, die jedoch in Gott wiederum alle koinzidieren, so wie dies auch im Umfang des unendlichen Kreises der Fall ist. «Theologische Ergänzung» bedeutet sodann, auf den Ursprung schauen, was im Endlichen als Gegensätze auf uns zukommt, bedeutet im Ursprung Koinzidenz. Was bisher den Theologenverborgen blieb und nicht gewusst wurde, das kann jetzt durch die Zirkulatur des Quadrats einsichtig gemacht werden; denn Gott wurde ja nach dem Bilde des «Sehens» «theos» genannt, er sieht nämlich so, wie er auch misst, mit dem Maß der unendlichen Geradheit des unendlichen Kreises; dieser Kreis umfasst alle Aussageweisen, darum gleicht ihm die gesamte Theologie. In dieser sind menschliche Namen im strengen Sinne nicht geeignet, um sie auf Gott anzuwenden; in ihm selber ist die ganze Schöpfung ein einziges Schauen, Sehen, Schaffen, Einsehen, Wollen, Messen, Tun, Wirken und dergleichen; auf Gott übertragen sind das alles Namen des menschlichen Kreises.

Wissen trotz Unwissenheit
   
Die soeben aufgeführten Gedanken sind nun auch in ähnlicher Weise im Frühwerk «De docta ignorantia» (= belehrte Unwissenheit) enthalten. Hier ist die Anwendung der Kreis- bzw. Kugelsymbolik auf Gott ebenfalls vorhanden; damit wird jedoch kein Modell gegeben über das innere Wesen Gottes, sondern etwas über dessen Eigenschaften und sein abgegrenztes Verhältnis zum Kosmos ausgesagt. Auch die Dreizahl und das Begriffspaar «Complicare-explicare» sind in diesem Werk von größter Bedeutung. – Manche Partien dieser Schrift mögen wohl etwas dunkel erscheinen, die für unsere Studie wichtigen Stellen sollen nun im folgenden als zusammenfassende Paraphrasen wieder gegeben werden. – Der unendliche Kreis ist ewig, ohne Anfang und Ende, absolut einer, unteilbar und allumfassend; weil der Kreis unendlich ist, so ist es auch sein Durchmesser, und noch weiter, auch der Mittelpunkt liegt deswegen im Unendlichen; alle drei, Kreisumfang, Durchmesser und Mittelpunkt (Zentrum) sind miteinander identisch, dies gilt auch in der dreidimensionalen Erweiterung für die unendliche Kugel. Die Theologie bewegt sich im Kreise, ja sie ist auf diese Form angewiesen, denn alle Eigenschaften Gottes bewahrheiten sich im Kreise, so ist beispielsweise die höchste Gerechtigkeit identisch mit der höchsten Wahrheit und aller höchsten Eigenschaften schlechthin. Durch sein Anderssein grenzt sich Gott ab von der Schöpfung, dem Produkt seines Wirkens, das zunächst einmal in Bezug auf den Va-ter gesehen wird und später auch im Hinblick auf Christus und den göttlichen Geist; das Göttliche ist dabei immer der «unendliche» Mittelpunkt.
   
Die unendliche Einheit ist ein Punkt, aus dem sich alle Quantität entfaltet, Linien, Flächen und Körper, er ist in Ruhe, und diese wiederum enthält in sich alle Bewegungen eingefaltet (vektorielle Addition – vgl. im 1. Teil die Analyse der Radskizze, wo drei ausgehende Wirkkräfte als außen breite Speichen zusammen addiert diesen Punkt ergeben, ebenso wie die drei zurückkehrenden innen breiten Speichen oder eben alle sechs «Radspeichen zusammen als Vektoren betrachtet). Der Punkt ist Vollendung; das Vollkommene geht allem Unvollkommenen voraus. «Gott ist die Einfaltung (complicatio) von allem insofern, als er in allem ist.» Der «gebenedeite» Gott ist der Mittelpunkt der Welt, von der Erde, von allen Sphären (Himmel, Sternenbahnen) und von allen Dingen, die in der Welt existieren, und er ist zugleich auch der unendliche Umfang von allem.
   
Die «Weltmaschine» (machina mundi) ist so strukturiert, dass es scheint, sie habe ihren Mittelpunkt überall und ihre Peripherie nirgendwo, dies deshalb, weil in Wahrheit Gott selber ihre Peripherie und ihr Mittelpunkt ist, der überall und nirgends ist. Der Mittelpunkt der Welt fällt nun aber mit ihrem Umfang zusammen. – Der ganze Satz über Gott wird vom Kusaner nie in voller Ausführlichkeit ausformuliert, auch nicht im «De ludo globi» (Vom Spiel des Kosmos), wo nur ein Teil des oft zitierten Satzes erwähnt wird, Gott sei ein Kreis, dessen Mittelpunkt überall ist, weil er in dieser Weise in der Vielheit präsent ist und zugleich im Einen (= Universum); er ist aber trotzdem noch einfacher und freier als jenes Eine, welches dem gewöhnlichen Punkt zukommt, er ist die absolute zusammenfaltende Kraft von allem. – Doch aus allem bisher Erwähnten ist das Theorem in vollem Umfange ableitbar, wonach Gott einem Kreis zu vergleichen ist, dessen Mittelpunkt … In Gott sind ja alle Gegensätze aufgehoben, also auch die der extremen minimalen sowie maximalen Unendlichkeit, erstere darstellbar als Punkt, letztere als Umfang eines unendlichen Kreises; aber schließlich sind dann doch im unendlichen Kreis Mittelpunkt, Durchmesser und Umfang miteinander völlig identisch, alle drei «Elemente» sind also zugleich überall und nirgendwo, wobei aber der Mittelpunkt dem «überall» näher kommt und der Umfang dem «nirgendwo». Der Gedanke des Kusaners ist in seiner weiten Thematik ausführlicher und konsequenter als das alte Theorem.

Einheit und Vielheit – Drei-Einheit in Wechselbeziehungen
   
Zurück zu «De docta ignorantia»: Nicht nur die Welt (mundus) ist sphärisch aufgebaut, sondern auch die Erde (terra) kommt der Kugelgestalt sehr nahe und bewegt sich kreisförmig. Dass ein späterer Kardinal derartige Gedanken äußern konnte, wo wenige Zeit später ein Galileo Galilei dafür verurteilt wurde, erscheint schier unglaublich. Die Spekulationen des Kusaners gehen in seiner «belehrten Unwissenheit» noch weiter, das Universum selber erscheint in extremer Gottähnlichkeit. Im Hinblick auf Vollkommenheit gibt es eine dreifache, konzentrische Abstufung. Die absolut konzentrierteste Vollkommenheit und Einheit kommt nur Gott zu, der unsichtbar ist, in Bezug auf das Sehen also ein Nichts, ein Punkt; dieser «absolute Punkt» ist aber, wie schon erwähnt, dennoch überall, er ist das absolut Größte, er ist in absoluter Weise das Sein aller Dinge, absolutes Prinzip und Ziel. Gott lässt aus sich heraus das All (universum) ausfließen als das eingeschränkte Größte (contractum maximum). Das All ist zugleich Einheit und Vielheit, denn die Dinge sind seine Teile, ohne sie könnte das All nicht existieren, es wird durch sie zum eingeschränkten Einen, Ganzen und Vollendeten konstituiert. Das All ist Gottes eigenes Gleichnis, denn als einfachste Einheit existiert er im All; dieses ist eine Art «Vermittler» zwischen Gott und den Dingen, durch es ist er in allen Dingen, und alle Dinge sind durch Vermittlung des Alls in Gott. Die absolute Einheit Gottes ist die erste Stufe, die eingeschränkte Einheit des Alls die zweite, sie ist von der absoluten abgeleitet, doch in beiden ist die Vielheit eingefaltet, aber in der Einheit des Alls in geringerem Grade, denn bei ihr wird die Vielheit sichtbar, bei Gott aber nicht. Die Vielheit ist die dritte Abstufung. Diese ist eine Abbildung des dreipersönlichen Gottes und so letztlich ebenfalls dreifaltig, nur ist in Gott diese Drei-Einheit so vollkommen, dass bei ihm kein Auseinandertreten stattfindet; nicht so ist es bei der Dreifaltigkeit des Alls, diese wird verwirklicht durch die Wechselbeziehungen, die als Verbindungen und gegenseitige Einschränkungen fungieren (= Relationen, darstellbar als Vektoren), auf diese Weise hält das All zusammen, das ohne diese eingeschränkte Dreifaltigkeit gar keine Einheit sein könnte.

Das Rad im Rad
   
Die Gestalt der Welt (mundus) lässt sich im letzten nicht erfassen, doch sie erscheint in der belehrten Unwissenheit wie ein «Rad im Rad» und wie eine «Sphäre in der Sphäre» (wörtlich auf Lateinisch: …rota in rota et sphaera in sphaera). Zum bereits erwähnten Begriffspaar «complicatio-explicatio» tritt nun ein weiteres hinzu, «ascensio-descensio», die unteren Formen erreichen im Aufsteigen durch die höheren hindurch den allumfassenden Umkreis, der Gott ist, währenddem das Körperhafte absinkt zum Mittelpunkt, wo ebenfalls Gott ist; von allem ist die Bewegung auf Gott hin ausgerichtet, im Absteigen zum Mittelpunkt oder im Aufsteigen zur Peripherie, so dass letzten Endes beide Bewegungen in Gott wieder zusammenlaufen.
   
Das All ist beseelt, zusammenfassend ist dies die Weltseele, sie ist ganz im Ganzen und in jedem Teile der Welt, aus ihr geht alle Bewegung aus, sie ist die wirkende Kraft in allem; diese Weltseele ist die erste kreishafte Entfaltung, wobei aber der göttliche Geist sich zu ihr verhält wie der Mittelpunkt zum Kreis; dazu ist aber nun die Weltseele selber wiederum ein Mittelpunkt eines weiteren sich ausfaltenden Kreises. Im Wirken gibt es also eine dreifach graduelle Abstufung, von Gott als dem reinen Wirken zum kontingenten Wirken der Weltseele bis zum Wirken im Einzelnen.
   
Christus ist Mittelpunkt und Umkreis der vernunfthaften Natur und, da die Vernunft alles umfasst, ist er über allem; da er aber Gott ist, so ist er alles in allem, er regiert in jenen geistigen Himmeln, da er die Wahrheit selber ist, und er sitzt, was den Ort betrifft, nicht mehr im Umkreis als im Mittelpunkt, da er als das Leben aller verstandbegabten Geister ihr Mittelpunkt ist, und deshalb versichert er selber, welcher der Lebensquell und das Ziel der Seelen ist, dass dieses Himmelreich auch unter den Menschen ist3.
   
Selbstverständlich lässt sich bei Nikolaus von Kues auf Umwegen auch ein innertrinitarisches Kreismodell interpretativ ableiten, wonach der Mittelpunkt der väterliche Ursprung bedeutet, der Radius (oder das unendliche Radienbüschel) der Ursprung vom Ursprung, die Gleichheit, also der Sohn, und schließlich der Umkreis, als Verknüpfung von beiden, den hl. Geist. Dennoch, dieses Modell kommt beim Kusaner nicht ausdrücklich so formuliert vor. Vielmehr wird ein anderes Modell deutlich, das sich nicht darum bemüht, wie das innere Wesen Gottes «strukturiert» ist, sondern darum, wie sich sein Verhältnis (=Relation) zur ganzen Schöpfung aktualisiert. Vom obigen innertrinitarischen Modell wird vielleicht schon deswegen Abstand genommen, um Missverständnisse zu vermeiden, denn die drei Personen sind nicht erfassbar als je eines der drei Elemente, Mittelpunkt, Radienbüschel und Umkreis, sondern jede Person ist je für sich zu vergleichen mit allen drei Elementen zusammen; Christus ist eben beispielsweise nicht nur der Radius, sondern dazu auch Mittelpunkt und Umfang des unendlichen Kreises; ebenso ist dies der Vater und der hl. Geist.
   
Im Hinblick auf die Radskizze im Pilgertraktat können wir nun zusammenfassend folgenden Vergleich wagen:
a) Bei Nikolaus von Kues ist das Sein dreigliedrig abgestuft: Gott – Universum – Vielheit der konkreten Geschöpfe. Das Wesen Gottes ist die absolute Einheit, ihm kommt der höchste Grad an Vollkommenheit und Einfachheit zu, Gott ist ein gleichsam überall gegenwärtiger und wirkender Punkt. Das Universum ist eine eingeschränkte (kontrakte) Einheit, geringer an Vollkommenheit und Einfachheit, darum kann hier die Darstellungsart nicht ganz einem Punkt entsprechen, sondern einem kleinen Kreis. Die dritte Stufe wäre die Vielheit, darstellbar als Zwischenraum zwischen einem kleinen Kreis und einem großen (unendlich gedachten) Kreis, der seinerseits wiederum das Umfassen durch den unendlichen Gott im höchsten Grade und durch das unendliche Universum im geringeren Grade bedeuten soll.
b) Das All faltet sich aus in konkrete Vielheit, dies geschieht in dreifaltiger Weise, abbildhaft in Bezug auf die unsichtbare göttliche Trinität, die als solche nicht darstellbar ist, sie ist «im» Punkt. Hingegen, die Spuren der göttlichen Dreifaltigkeit sind im Abbild, in dem aus der Einheit in die Vielfalt konkretisierten Universum, sichtbar und auch darstellbar. Der Vater ist der ursprungslose Ursprung und gibt dem All und den Dingen das Sein, der Sohn gibt die Vernunft, der hl. Geist die wirkende, Leben spendende Kraft. Alle drei Personen sind in dieser Hinsicht je für sich allein schon der Mittelpunkt, die absolute Einheit. Die «Mitteilung» von Sein, Vernunft und Kraft an die Dinge geschieht über die Vermittlung durch die eingeschränkte Einheit des Alls. Von hier aus ist die Dreifaltigkeit darstellbar. Diese ist ein Dreierlei in Bezug auf eine ausgehende Bewegung, dann aber auch wieder in Bezug auf eine rückkehrende, kontrahierende Bewegung. – Im ganzen gesehen ist die Bewegung bei beiden, in den Texten des Cusanus und in der Skizze des Pilgertraktats, eine sechsfache, bzw. eine zwei-mal-drei-fache. Auch dies müsste eigentlich irgendwie darstellbar sein, heute würden wir hierzu Vektoren anwenden, wobei die drei ausgehenden Bewegungen zusammen als Summe (vektoriell) einen Punkt ergeben, desgleichen die drei rückläufigen Bewegungen; werden dann auf diese Weise alle sechs Bewegungen addiert, so erhalten wir als Resultat wieden denselben Punkt, in dem schließlich alle überhaupt wirklichen Bewegungen eingefaltet sind; dieser Punkt ist dann eben zugleich überall und, paradoxerweise, nirgendwo. In den damaligen Verhältnissen war das eigentliche Vektorenrechnen, wie wir es heute kennen, kaum bekannt, doch zumindest intuitiv bewegen sich beide, der Kusaner und der Pilger in Vorfeld dieser mathematischen Methode, das Radmodell kann im konkreten Fall als vorzügliches Hilfsmittel dienen.
c) Der dreipersönliche Gott ist zu vergleichen mit einem Kreis, dessen Mittelpunkt überall ist und dessen Umfang aber im Unendlichen liegt, wo seine Krümmung vollständig aufgehoben wird und mit der absoluten Geradheit zusammenfällt, dies kann dargestellt werden durch ein den Kreis umschreibendes Quadrat. Gott ist also nicht nur innerster Mittelpunkt des Alls und aller Dinge, sondern auch derjenige, der dies alles umfängt, einhüllt.
   
Nun können wir uns fragen, ob nicht unsere Radskizze die ganze mathematische Theologie des Nikolaus von Kues zusammenfassend bildlich darzustellen versucht. Alle Bildelemente sind jetzt erklärbar, der Punkt, die beiden Kreise, die sechs keilförmigen Speichen und das Quadrat. Zugegeben, der dazugehörende Text im Pilgertraktat ist ziemlich dürftig und im Wenigen, das er bietet, sogar noch nahe an der Grenze des Missverständlichen; dennoch fällt er kaum aus dem Rahmen des bisher Erwähnten. Die Frage ist also durchaus mit «Ja» zu beantworten, der Einfluss des kusanischen Gedankengutes ist unverkennbar, für unsere Radskizze ist hier die beeinflussende Quelle zu finden. Der Traktatschreiber hat sich damit auseinandergesetzt, es aber in Worten zusammenzufassen entspricht jedoch weder seinem Können noch seiner Absicht. Die Bildumsetzung ist ihm aber wohl gelungen. Schade ist nur, dass der Verleger der späteren Nürnberger Ausgabe (1488) daran vorbei sah und lediglich die Absicht verfolgte, seine Radskizze dem Gemälde anzugleichen.
  
Der Spiegel
   
In der Bibel sind zwei Stellen von Bedeutung, in denen wörtlich vom «Spiegel» (speculum) die Rede ist:
a) die präexistente Weisheit ist ein Abglanz des ewigen Lichtes und ein makelloser Spiegel des Wirkens Gottes (Weish 7,26).
b) Für uns Menschen gibt es eine Abstufung in der Gotteserkenntnis; wir sehen nämlich jetzt wie durch einen Spiegel alles in Rätseln und Gleichnissen, dann aber von Angesicht zu Angesicht ( 1 Kor 13,12). Beide Zitate sprechen von der Indirektheit des Sehens, wobei Gott derjenige ist, der sich in einem «Medium» abbildet. Beim ersten Zitat handelt es sich offensichtlich um das Thema «Gottebenbildlichkeit», die im Neuen Testament im Besonderen dem Gottmenschen Christus zukommt und im Alten Bund dem Menschen im Allgemeinen, wobei dort jedoch nicht wörtlich von einem Spiegel die Rede ist, sondern nur von einem Abbild, bzw. Ebenbild und von der Gleichgestalt (imago, imago et similitudo).
Weitere Stellen über die Ebenbildlichkeit:
c) Christus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15). Dies bezieht sich auf den Mensch gewordenen, wodurch der unsichtbare Gott sichtbar erschienen ist. Christus selbst gilt als die größte Theophanie.
d) Gott schuf den Menschen so, dass in ihm eine abbildende Ähnlichkeit aufscheint (Gen 1,26; 5,1; 9,6; Weis 2,23)
Oben wurde versucht, die Anwendung des Wortes «spiegel» im Pilgertraktat zu erfassen und eine einheitliche Sinngebung zu finden. Nun gilt es diesen Begriff bei Nikolaus von Kues herauszustellen, verbunden mit der Frage, ob er ihn einheitlich und «bibelgemäß» anwendet.
   
Der zweite Teil der Frage kann nicht ohne Weiteres voll bejaht werden, denn beim Kusaner ist der Spiegel par excellence Gott selbst, in «De dato patris luminum» beginnt er in der Du-Form (Gebetsform):
     «Dein Gesicht, das von sich aus die Gleichheit des flächenhaften Beschaffenseins vervielfältigt, wird mannigfach im Spiegel aufgenommen, gemäß der Verschiedenheit der Spiegel, die dieses aufnehmen; in dem einen klarer, weil das Empfangen des Spiegels klarer ist, im andern verdunkelter, aber in keinem jemals so, wie das Gesicht selbst ist. Denn es muss in einem Anderen anders empfangen werden. Nur ein Spiegel ist ohne Makel, nämlich Gott selbst. In ihm wird es so aufgenommen, wie es ist, da dieser Spiegel kein Anderes von einem Andern ist, das ist, sondern das Selbe, das in allem das ist, was es ist, weil er die universale Form des Seins ist.»
   
Im Gegensatz zum Menschen, dessen sehendes Erfahren nur mittel-bar (indirekt) sein kann als Wahrnehmen der Wirklichkeit mittels Abbildungen, Modellen und schematischen Spekulationen, ist das Sehen Gottes absolut unmittelbar, er ist selber das Sehen:
     «Doch dein Sehen, da es ein Auge oder ein lebendiger Spiegel ist, sieht in sich selbst alles. Ja es ist sogar die Ursache von allem Sichtbaren. Daher ist es insgesamt in der Ursache und im Grund von allem, d.h. es sieht alles in sich selbst und wird in allem gesehen. Dein Auge, Herr, erreicht alles ohne Einschränkung (sine flexione). Hingegen wird unser Auge durch das Objekt eingeschränkt, das kommt davon, dass unser Sehen in einem bestimmten Winkel sieht. Der Winkel deines Auges, o Gott, wird nicht eingeschränkt, sondern ist unendlich, wie es auch der Kreis ist, ja noch mehr, wie es die unendliche Kugel ist; denn dein Sehen ist ein kugelhaftes Auge, vollkommen und unendlich.»
   
Gott ist ein lebendiger Spiegel, er sieht alles, sein Blickwinkel ist maximal, sein Auge ist vergleichsweise Kreis und Kugel. Im Pilgertraktat heißt es in Bezug auf Gott bei der Interpretation der Speiche, die vom Auge des gekrönten Hauptes ausgeht: «Sein goetlicher spiegel waist und sicht alle ding."Gott ist aber nicht nur im Sehen an sich vollkommen, sondern auch im Voraussehen und Vorausplanen, so ist im Pilgertraktat Maria «in dem spiegel der goetlichen allmechtigkeit fürsehen worden ee ye was beschaffen worden hymel und erde...» Die Speiche, welche im Gemälde das Auge verlässt, ordnet der «Pilger» dem Sohn Gottes zu, und es ist offensichtlich, dass er mit dem «goetlichen spiegel» in diesem Zusammenhang ebenfalls die zweite Person Gottes meint. Christus ist also der vollkommene lebendige Spiegel, in dem der Vater alles sieht, voraussieht und -plant. Das Zitat aus dem Buch der Weisheit könnte ebenfalls in diese Richtung weisen, denn es ist nicht ungewöhnlich, die präexistente Weisheit mit Christus identisch zu setzen. Von hier aus bekommt auch die Stelle des ersten Korintherbriefes eine Bedeutung, die Christen sehen in dem von Christus geoffenbarten Rätselworten und Gleichnissen wie in einem Spiegel ihn (Christus) selber und das ganze göttliche Wesen.
   
Die Anwendung des Spiegelbegriffs ist im ganzen gesehen auch beim Kusaner nicht völlig bibelfremd. Der Spiegel in Gott ist Christus, die zweite trinitarische Person, er ist aber untrennbar eins mit dem Vater und dem hl. Geist, so dass man auch sagen kann, Gott sei ein Spiegel. Wie aber der Kusaner den Spiegelbegriff dem Sohn Gottes zuordnet, soll das folgende Zitat dokumentieren:
     «Du weißt sehr wohl, dass die Formen in geraden Spiegeln gleichgroß erscheinen, in gekrümmten hingegen kleiner. Es sei daher die erhabenste Widerspiegelung unseres Ursprunges, des glorreichen Gottes, diejenige, in der Gott selber erscheint, von seiner Wahrheit ist diese ein Spiegel ohne Makel, völlig gerade, unbegrenzt (uneingeschränkt) und vollkommen; alle Geschöpfe hingegen seien insgesamt eingeschränkte und verschieden gekrümmte Spiegel, unter diesen seien wiederum die vernunftbegabten Naturen lebendigere, klarere und geradere Spiegel, da sie ja lebendig, vernunftbegabt und frei sind, so dass sie sich selber entkrümmen, begradigen und reinigen können. /.../ Wenn daher irgend- ein vernunftbegabter lebendiger Spiegel zum ersten Spiegel der Wahrheit übertragen wird, in dem sich wahrhaftig alles ohne Mangel widerspiegelt, dann strömt dieser Spiegel der Wahrheit zusammen mit der Aufnahmefähigkeit aller Spiegel in einen derartig vernünftigen und lebendigen Spiegel, in dem der Spiegelstrahl des Spiegels der Wahrheit aufgenommen wird, der wiederum die Wahrheit aller Spiegel in sich trägt. Jener Spiegel aber empfängt in einem ein- zigen Augenblick der Ewigkeit diesen ursprünglichsten Spiegel, gleichsam wie ein lebendiges Auge... Je einfacher, absoluter, klarer, reiner, gerader, gerechter und wahrer er sein wird, um so klarer, freudiger und wahrer wird er in sich die Herrlichkeit Gottes und alle Dinge wahrnehmen. In jenem ursprünglichsten Spiegel aber, der das Wort, der Logos oder der Sohn Gottes genannt werden kann, erlangt der vernunftbegabte Spiegel die Kindschaft, auf dass er alles in allem sei und alles in sich selber, auf dass sein Dasein das Eigentum Gottes sei und all jener, die im verherrlichten Leben wandeln.»
   
Nun erscheint also eine weitere Kombination mit der Kreissymbolik, der Spiegel wird in Bezug auf das Attributspaar «gekrümmt/ gerade» besprochen, im Anklang an die Erläuterung der Quadratur des unendlichen Zirkels, dessen Umfang zur absoluten Geradheit zurückgebogen ist. Dieses Prädikat «absolute Geradheit» als Zeichen größter Vollkommenheit kommt nur Gott zu. Der absolut gerade Spiegel ist also nur Christus allein, der Sohn Gottes; die an Vollkommenheit geringeren, also gekrümmten Spiegel sind die Dinge der Schöpfung, welche ihrerseits umso gerader sind, je mehr Vernunft sie enthalten, die sie eben, wie oben erwähnt, von Christus erhalten. So kommt den Menschen im Vergleich zu den übrigen Geschöpfen ein Vorsprung zu an Ähnlichkeit mit Christus, der selber das erste Abbild, der Urspiegel des Urbildes ist. Wir sind also hier mitten in der Thematik von der Gottebenbildlichkeit, die dreifach abgestuft ist. Das Ur-Abbild von Gott ist in Gott selber, ja ist Gott selber, der Sohn Gottes, der mit den andern zwei Personen vollkommen eins ist, also undividierbar, das ist der erste Grad. Der zweite Grad kommt den Menschen zu, auch sie erhalten ein gewisses Maß nicht nur an der «Gottebenbildlichkeit», wie der Sohn Gottes, sondern auch an «Gotteskindschaft», weshalb ja die Schrift des Kusaners, die zuletzt zitiert wurde, auch den Titel «De filiatione Dei» trägt. Im Spiegelgleichnis ist die «Gestalt» der Menschen vorerst noch gekrümmt, sie können aber zu einer immer größeren Geradheit fortschreiten, sich reinigen und vervollkommnen, bis sie schließlich in der Form so weit fortgeschritten sind, dass sie durch ihre Gestalt (Spiegelgestalt) mit dem Urspiegel vereint sein und Gott von Antlitz zu Antlitz begegnen können, dies ist so, weil ein völlig glatter und ebener Spiegel eine weitaus größere Reflexionsfähigkeit besitzt als ein unebener und gekrümmter. Das Erkennen vollzieht sich grundsätzlich durch das Fortschreiten in der Ähnlichkeit; alles zu erkennen ist dann möglich, wenn man sich im größten Maß als Ähnlichkeitsbild Gottes sieht, das ist zugleich die höchste Gotteskindschaft, d.h. Vereinigung mit Gott. – Der dritte Grad in dieser «Gottesspiegelung» kommt den übrigen, einfachen Dingen zu, aber dennoch sind sie die Spuren Gottes, in denen ein Weg zu ihm zu finden ist, zu ihm, der aller Dinge Einheit ist. Es scheint nun, dass Nikolaus von Kues den Begriff «speculum» einheitlich anwendet, nämlich in Bezug auf die Gottebenbildlichkeit, und zwar im allgemeinen auf den Menschen hin, sowie im besonderen auf Christus hin. Etwa in dieser Art, allerdings etwas konzentrierter auf Christus hin bezogen, ist auch im Pilgertraktat vom «spiegel» die Rede. Die Gottebenbildlichkeit im Allgemeinen ist jedoch prädestiniert in Christus, der als der erste Spiegel, das Sehen Gottes ist, aber auch sein Voraussehen, Vorausplanen und Vorausentscheiden. Der Traktatschreiber war bestimmt vertraut mit den entsprechenden Gedanken des Kusaners, er hat nicht nur versucht seine Kreissymbolik auf das «Rad» anzuwenden, er hat auch von seinem Spiegelbegriff reichlich Gebrauch gemacht zur Erklärung und angeblichen Erweiterung des Meditationsbildes. Ein wörtliches Zitieren ist jedoch kaum auszumachen, vielmehr handelt es sich lediglich um Andeutungen, bzw. kurze Paraphrasen. Die Gedankenführung im Pilgertraktrat Gundelfingens ist vergleichsweise meist ziemlich knapp, gerafft, wenn nicht sogar in theologischer Hin- sicht etwas oberflächlich. Trotzdem dürften in Bezug auf das eben Zitierte, die Schriften des Kusaners als wahrscheinliche Quelle zu betrachten sein.
  
Nikolaus von Kues ist der geistige Ziehvater der Radskizze und der Rad-Metapher im Pilgertraktat. Heinrich Gundelfingen ist nur der Übermittler der großen Idee. Bruder Klaus, alias Niklaus von Flüe, ist dank der Namensgleichheit ein Katalysator des Gedankengutes, obwohl gerade er in seiner stark verinnerlichten Gottverbundenheit (Mystik), seiner Bescheidenheit, seiner belehrten Unwissenheit – docta ignorantia – durchaus nicht fern davon lebte.
  
     Werner T. Huber, Dr. theol.
   
Anmerkung: Die originalsprachlichen Zitate des Cusanus (lateinisch) sind in meiner Dissertation «Der göttliche Spiegel – Zur Geschichte und Theologie des ältesten Druckwerks über Bruder Klaus und sein Meditationsbild» (Bern 1981, Europ. Hochschulschriften 23/164) zu finden.
  
  
Verzeichnis: Das «Rad» und sein verborgener Sinn
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Bruder Klaus · Niklaus von Flüe · Flüeli-Ranft · Schweiz
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