Wir erkennen
selbstverstaendlich aber auch andere Verfahren der ethischen
Urteilsbildung als legitim an, wie wir es auch gern auch
zugeben, dass die Typologisierung der verschiedenen ethischen
Schulen auch auf nicht als nur eine andere Weisen möglich ist.
Wir können uns beispielsweise ohne Schwierigkeiten vorstellen,
dass eine ethische Typologie aufgrund der prinzipiellen und
historischen Bestimmungen, bzw. Überzeugungen des
Alltagsbewusstseins unternommen wird, worin man auch die
einzelnen Typen der antiken Ethik im grossen aktualisiert
werden könnten. Aufsehenerregende Ergebnisse liessen sich
ferner auch durch einen strukturellen Vergleich von grossen
ethischen Systemen mit umfassenden historischen Perioden
erzielen, es waere aber auch ebenso produktiv, die hinter den
einzelnen ethischen Konzeptionen stehenden "metaphysischen"
oder "quasi-metaphysischen" Ansaetze für eine Typologie der
ethischen Konzeptionen fruchtbar zu machen, darüber ganz zu
schweigen, dass auch die einzelnen Religionen als möglicher
Ausgangspunkt einer verallgemeinerten Typologie der einzelnen
ethischen Ansaetze geradezu wie bestimmt erscheinen. Es
verspricht ferner auch viel, wenn ethische Konzeptionen auf
ihre sozialontologischen Implikationen hin weiter untersucht
und typologisiert werden würden. Im Konkreten denken wir
hierbei etwa an eventuelle Versuche, materialistisch
aufgebaute ethische Konzeptionen mit "geschlossenen"
Gesellschaften und formell aufgebaute ethische Konzeptionen
mit "offenen" Gesellschaften in streng typologischem Sinne in
Verbindung zu bringen.
Trotz all diesen Bemerkungen von
einschraenkendem Charakter gelten für uns diese beiden Typen
der spezifisch ethischen Urteilsbildung, d.h. die "formale"
und die "materiale" Ethik sowohl in ihrer singulaeren
strukturellen Beschaffenheit wie auch in ihrer unaufhörlichen
Koexistenz und Rivalitaet als die bestimmendsten Phaenomene
nicht nur einer Geschichte der Ethik, sondern auch des
jeweiligen konkreten ethischen Phaenomens.
Die
grundsaetzlichen Typen der ethischen Urteilsbildung gehen
vielfach auch ins ideologisch-religiöse Gebiet hinüber und
werden auch als solche zu fundamentalen Komponenten der
neuzeitlichen Geschichte. Im Laufe des europaeischen
historischen Prozesses wechselte die in typologischer Sicht
material aufgebaute Ethik in eine formale hinüber, aber so,
dass die konstitutive Rolle der das Christentum
kennzeichnenden materialen Elemente auch erhalten blieb.
Will man den Typus der formalen ethischen
Urteilsbildung generell bestimmen, so sollten die Momente der
individuellen moralischen Autonomie, die der operativ und
autonom zu vollziehenden Konstitution der ethischen
Entscheidung und der Notwendigkeit der allgemeingültigen
Formulierbarkeit der einzelnen ethischen Zusammenhaenge sowie
die der Transparenz der formalen Regelung der richtigen
Urteilsbildung in der ersten Reihe hervorgehoben werden. Im
Gegensatz dazu definiert der Typus der materialen Ethik die
ethische Urteilsbildung im Verfolgen von allgemein anerkannten
und vor der ethischen Gemeinschaft klar definierten Werten und
Gütern, wobei der jeweilige lebensweltliche Tatbestand mit
diesen vorhin schon definierten Werten und Gütern in die
Relation der Entsprechung gebracht werden soll. Der Einzelne
soll hierbei nicht so sehr die ethische Tat frei
konstituieren, anstatt dessen soll er einen bestimmten
konkreten Tatbestand in die Sphaere der geltenden Werte
einordnen. Aus diesen Bestimmungen folgt, dass die materielle
Ethik schon von vorne herein hierarchisiert ist, da die
einzelnen "Werte" und "Güter" eine kohaerente und
hierarchische Ordnung wie notwendig vorschreiben.
Jede
grosse Richtung der ethischen Urteilsbildung hat ihre
versteckten sozialontologischen Voraussetzungen, die auch im
einzelnen weiter erforscht werden sollten. Der formale Typ der
Urteilsbildung enthaelt ein sozialontologisches Moment der
menschlichen Freiheit, dessen kompromisslose und die
sogenannten "Realitaeten" ausser acht lassende Betonung bei
dem "rigorosen" Kant so vielfache Widerstaende und
Verwunderungen auslöste. Anders steht es im Falle des Typus
der materialen Ethik. In diesem Fall nehmen die in der
ethischen Urteilsbildung zentral aufgestellten Werte und Güter
bereits in dem rein ethischen Kontext sozialontologische
Dimensionen an, denn ohne diese wirklichen ontologischen oder
quasi-ontologischen Massstaebe könnte keine "materiale"
Hierarchie der Werte und Güter bestehen.
Bevor wir den
Versuch unternehmen würden, Spinozas Ethik im Rahmen dieser
Typologie naeher zu beschreiben, wird diese Typologie mit
anderen philosophisch-ethischen Konzeptionen
konfrontiert. Ziel dieser Demonstration ist die
Untersuchung der Frage nach der Relevanz dieser Typologie der
ethischen Urteilsbildung. In einer wahrhaft "typologisch" zu
nennenden Skizzenhaftigkeit wird im folgenden die
philosophische Konzeption von Hegel, Nietzsche, Feuerbach und
des Platoschen "thymos" auf ihre Beschaffenheit unter dem
Aspekt der formalen und der materialen ethischen
Urteilsbildung erforscht.
Vergleicht man die Essenz der
demonstrativ gewaehlten philosophischen Schulen mit den Normen
der formalen ethischen Urteilsbildung, so ergibt sich das
folgende Bild. Bei Hegel kann eine konkrete, in der Sphaere
der Besonderheit sich bewegende Tat nicht unmittelbar zum
Gegenstand einer im formalen Sinne genommenen
Allgemeingültigkeit werden. Denn es entscheidet sich nicht
aufgrund eines Automatismus der transparenten formalen
Urteilsbildung, welche Tat sich in ethischer Sicht in die Höhe
der Allgemeingültigkeit erhebt und welche nicht. Dieser
Bewaehrung soll naemlich ein komplexer intellektueller Prozess
vorangehen, der aufgrund einer vielschichtigen Analyse
letztlich entscheiden kann, ob diese Qualifikation eine
berechtigte ist oder nicht. Ebenfalls wird nach den
Grundkoordinaten der Nietzscheschen Philosophie der (im
formalen Sinne genommene) ethische Charakter einer Tat erst
nach einer Reihe von konstruktiven intellektuellen Schritten
eruierbar. Aufgrund dieser Einsichten erlaubt weder die
Hegelsche noch die Nietzschesche Grundkonzeption der
Philosophie die Entfaltung einer im direkten Sinne genommene
"formale" Ethik. Nicht anders steht es aber auch mit der
eudaimonistischen (Feuerbach) oder auch mit der auf die Idee
des "thymos" ausgebauten Ethik. In diesen beiden Faellen geht
es darum, dass die (im formalen Sinne genommenen) ethischen
Qualitaeten einer Handlung nicht durch ein in der formalen
Ethik konstituiertes Verfahren operationalisiert werden,
vlelmehr geht es hier wieder um einen intellektuell
motivierten Gedankengang, dessen Ergebnis zur endgültigen
ethischen Qualifikation der betreffenden Tat führen muss.
Aufgrund dessen können wir nun auch in expliziter Form
aussagen, dass diese (vor allem nur als Beispiele angeführten)
ethischen Konzeptionen nicht in den Typus der formalen Ethik
restlos eingeordnet werden können.
Fragt man nun
danach, ob diese vier philosophischen Konzeptionen in ihren
Grundkoordinaten in den Typus der materialen Ethik gehören, so
ergibt sich das folgende Bild.
Fasst man die
diesbezüglichen Konsequenzen der Hegelschen Philosophie in
typologischer Absicht zusammen, so kommt man zum Schluss, dass
sich die einzelnen Handlungen im Zeichen einer spezifisch
Hegelschen "unbestimmter Bestimmtheit" zweifellos doch auf
"materiale" Werte und Güter richten, die spezifisch ethische
Qualifizierung der einzelnen Taten laesst sich aber unter
keinen Umstaenden ausschliesslich aufgrund dieser primaeren
Relation ausführen. In idealtypisch abgekürzter Form kann auch
die Nietzschesche Ethik nicht "material" genannt werden,
obwohl die staendige Betonung von konkreten und dadurch
"materialen" Zielsetzungen leicht den Eindruck erwecken kann,
dass es hier um eine wirkliche materiale Ethik geht. Auch ohne
eine detaillierte Analyse laesst sich aber einsehen, dass es
jederzeit der wahre Grund der jeweiligen Verfaelschung der
Nietzscheschen Philosophie war, wenn seine scheinbar
"materialen" moralischen Zielsetzungen beim Wort genommen und
als tatsaechliche materiale Ethik ausgegeben und aufgefasst
worden sind. Scheinbar waere auch ein logischer Schritt, die
Ethik des Eudaimonismus in ihrem bei Feuerbach artikulierten
Typus als eine "materiale" Ethik zu definieren, denn - ebenso
scheinbar - das Glück liesse sich mit einem "materialem" Gut
identifizieren. Dagegen spricht aber, dass das Glück nicht
ohne weiteres als ein Gut kategorisiert werden kann, vor allem
(aber nicht ausschliesslich) aus dem Grunde, weil es
analytisch kaum so aufgelöst werden kann, dass es das
notwendige Mass der Allgemeingültigkeit erreicht. Mit anderen
Worten geht es hier um die extremen wissenschaftslogischen
Schwierigkeiten der Definition des Glückes, die ja auf dem
Wege der analytischen Unauflösbarkeit, die es effektiv
verhindern können, das "Glück" als zentrales Gut im Sinne der
materialen Ethik aufzufassen. Aus diesem Grunde kann das Glück
dem Ausmass der Allgemeingültigkeit nicht erreichen, die für
die Konstituierung der Ethik notwendig waere, wohlgemerkt, es
geht hier um jenes Ausmass der Allgemeingültigkeit, die für
eine "materiale" (d.h. nicht "formale") Ethik an
Allgemeingültigkeit der leitenden Werte und Güter erforderlich
waere. Aehnlich steht es mit jener ethischen Vorstellung, die
auf den Gedanken des "thymos", etwas anders formuliert, auf
denjenigen des "Kampfes um Anerkennung" aufgebaut ist. Gerade
die "Anerkennung" laesst sich - wieder scheinbar - als ein im
Sinne der "materialen" Ethik genommenes "Gut" interpretieren,
was so viel heissen würde, dass dadurch diese Ethik als
"material" bestimmt werden kann. Die eine (aber nicht
ausschliessliche) mögliche Linie der Argumentation dagegen ist
wieder der Nachweis dessen, dass die "Anerkennung" eine
analytisch in dem gleichen Masse nicht auflösbare Dimension
darstellt als es mit dem Glück vorhin der Fall gewesen ist.
Wir kamen zu dem Schluss, dass der par excellence
ethische Charakter der einzelnen konkreten Handlungen im
System der Kategorien dieser vier philosophischen Konzeptionen
nicht ohne weitere gedankliche Operationen auszumachen ist.
Weder die Bedingungen der formalen noch die der materialen
Ethik konnten in diesen vier repraesentativen und bedeutenden
philosophischen Richtungen restlos erfüllt werden.
Bei
Hegel wird die einzelne und "besondere" Handlung durch eine
spezifischen intellektuellen Akt mit dem Allgemeinen
konfrontiert, dessen Ausführung nicht in jedem Fall dem
einzelnen Handelnden selber überlassen werden kann. Mutatis
mutandis unterscheidet sich Nietzsches Fall von dieser
Struktur kaum, denn die Überlegung der spezifischen ethischen
Qualitaet einer Handlung schreibt letztlich die Beherrschung
von schwierigen intellektuellen Techniken und einer
authentischen und persönlichen Einsicht in zahlreiche und
ursprünglich überhaupt nicht ethische Zusammenhaenge vor.
Dasselbe konstruktive Moment ist - wieder mutatis mutandis -
aber auch für die eudaimonistische und die auf die Idee des
"thymos" aufgebaute Ethik charakteristisch. Zu all dem muss
man an dieser Stelle noch hinzufügen, dass dieses konstruktive
Moment allein noch keineswegs ausreichend ist, das
typologische Dilemma der ethischen Urteilsbildung zu
lösen.
Nach der Konfrontierung dieser vier
philosophischen Konzeptionen mit den beiden wichtigsten Typen
zeichnet sich ein merkwürdiger zweifacher Charakter der
ethischen Urteilsbildung ab.
Als "material" erwies sich
in diesen vier philosophischen Systemen, dass sie alle aus -
aus ethischer Sicht klar identifizierbaren - materialen Werten
ausgehen. Diese materialen Komponenten lassen sich jedoch als
nicht a priori, als nicht voraussetzungslos, als heteronom und
als Produkte spezifischer intellektuell-konstruktivistischer
Operationen identifizieren.
In allen vier
philosophischen Systemen meldeten sich aber auch "formale"
Züge an. Alle vier enthielten die Affinitaet zur
Allgemeingültigeit, eine Art kontextueller Autonomie. Alle
vier betrachten sich als Gattungsoptimum, was zwar noch
primaer kein ethisches Optimum ist, auf sekundaere Weise aber
schon auch geeignet dafür werden kann, den einzelnen
Handlungen ihre in formalem Sinne genommene
Allgemeingültigkeit zu gewaehren.
Die exemplarisch
behandelten philosophischen Schulen bewahren alle das
allerwesentlichste Element der "formalen" Ethik, indem sie
sich auf die Allgemeingültigkeit, auf die persönliche Freiheit
und Souveraenitaet beharren. Sie konstruieren aber die diesen
Bedingungen entsprechende handlungsleitende Maxime nicht
direkt (d.h. nicht so, wie es eigentlich in dem reinen Typus
der formalen Ethik geschehen sollte). Zwischen der Wahrnehmung
der konkreten Situation und der ("formellen") Konstruktion der
handslungsleitenden Maximen schalten sie den Akt einer
intellektuell-konstruktiven Operation ein, die berufen ist,
aufgrund einer spezifischen Überlegung definitiv zu
entscheiden, ob die betreffende Tat tatsaechlich den
"formalen" Bedingungen der ethischen Urteilsbildung entspricht
oder nicht. Diese intellektuell-konstruktive Operation
enthaelt ohne Zweifel das Element der Sinngebung und der
Interpretation, die in manchen Faellen nur durch extrem
anspruchsvolle und komplizierte intellektuelle Schritte
realisiert werden kann.
Dies impliziert einerseits
eine Art Intellektualisierung der spezifischen ethischen
Urteilsbildung. Man muss entschieden betonen, dass diese Art
der Intellektualisierung den genuin ethischen Charakter dieses
Prosesses nicht widerruft, es geht in diesem Fall um eine rein
ethische Angelegenheit, die nach ihren eigenen Notwendigkeiten
intellektualisiert wird.
Diese Intellektualisierung der
genuin ethischen Urteilsbildung laesst sich aber auch so
auffassen, dass dadurch die ursprünglich "formale" ethische
Urteilsbildung Schritt für Schritt "materialisiert" wird. Mit
diesem Prozess müssen wir auch bei Spinoza eingehend
auseinandersetzen, denn es zeichnen sich die Konturen ab, in
denen die Fundamente der formalen Ethik zwar erhalten bleiben,
die Bildung dieser Urteile aber aus intellektueller
Notwendigkeit immer staerker materialisiert wird. Uns schwebt
als Hypothese schon vor, dass diese Entwicklung einen
spezifischen Übergang der ethischen Urteilsbildung von dem
Zustand der ethischen Autonomie in einen Zustand der ethischen
und mit diesem gleichrangigen intellektuellen Autonomie führen
wird.
Diese Grundverhaeltnisse einer auf die
Unterscheidung "material"-"formal" aufgebauten Typologie,
mitsamt den Einsichten in die "Intellektualisierung" der
ethischen Urteilsbildung liefern auch die Rahmen für eine
Rekonstruktion von Spinozas im engeren Sinne des Wortes
genommenen Ethik.
Eine der wichtigsten Bestimmungen
dieser Ethik ist: Grundrelation nicht die Relation zwischen
Einzelnen und Einzelnen, auch nicht zwischen Einzelnen und
Gesellschaft. Die klar ersichtliche Grundbeziehung ist eine
Relation des Einzelnen zu sich selber, die Relation des
Einzelnen zu seinen eigenen Affekten, die ja seine Einstellung
zu den anderen Einzelnen, aber auch zu der Geserllschaft
konstituieren.
Diese indirekten Relationen zeigen aber
auch gleich, dass diese überhaupt nicht übliche
Grundeinstallung mit einer Privatisierung der Ethik keineswegs
gleichbedeutend ist. Trotz also der Wendung ins Innere
versichert das Zentrum der ethischen Urteilsbildung - wenn
auch nunmehr aauf die soeben angedeutete indirekte Weise - die
spezifisch ethische Relation auch zu den Anderen.
Aehnlich zu den soeben angeführten Philosophen (Hegel,
Feuerbach, Nietzsche und der Platon der thymos-Problematik)
erweist sich auch dieser spezifische Ausgangspunkt der
ethischen Urteilsbildung bei Spinoza nicht als einer, der ohne
weiteres in die formale oder die materiale Ethik eingeordnet
werden könnte. Die Klaerung unserer richtigen Relation zu
unseren Affekten konstituiert mit Selbstverstaendlichkeit ein
entscheidendes "materiales" Element in dieser Auffassung der
ethischen Urteilsbildung. Weil aber die so entstehende
ethische Position in ihrem weiteren Ausbau, waehrend wessen er
auf indirekte Weise zur Interpersonalitaet und zur Sozialitaet
hinführt, auch "formale" Kriterien annimmt, bewahrheitet sich
auch im Falle Spinozas, dass keiner der reinen Typen der
ethischen Urteilsbildung auf seine Konzeption generell
zutrifft.
Schaut man an dieser Stelle auf die
allgemeine Beurteilung der im engeren Sinne des Wortes
genommenen Ethik Spinozas, so faellt auf, dass ein Schrumpfen,
bzw. Rückgang der eigentlichen ethischen Dimension generell
gesehen und festgestellt wird. Maurice Blondel geht davon
aus, dass das umfassende ethische Interesse Spinozas es ist,
das zu einer spezifischen Reduktion führt. Das eigentlich
Moralische geht in Metaphysik und Ontologie auf. Nicht
unaehnlich beurteilt Albert Schweitzer in seinem bedeutenden
Werk über die Ethik Spinoza. Er kommt zu dem aehnlich paradox
klingenden Schluss, dass das ethische Verhaeltnis kein
ethisches Verhaeltnis ist. In dieser Verschiebung in der
Richtung der Ontologie erscheint auch das Moment des
intellektuellen Anteils im Prozess der ethischen
Urteilsbildung, was in Schweitzers Augen das Ausmass der
spezifischen ethischen Taetigkeit stark reduziert. Aehnlich
signalisiert Gilles Deleuze das Moment eines Fehlens des
praktischen Motivs in Spinozas Ethik, das mit der Ignoranz des
Negativen und ihrer Macht zusammengeht. Obwohl sich die
Ansaetze ebenso wie die Terminologien der angeführten Autoren
voneinander deutlich unterschieden, die Aehnlichkeit ihrer
Einstellungen laesst sich nicht übersehen. Alle drei deuten
das Fehlen einer als "normal" oder als "üblich" anzusehenden
ethischen Dimension an und weisen entschieden auf jene in der
Richtung der Ontologie, bzw. der Metaphysik weisenden Sphaere
hin, die wir als die "materiale" Dimension dieser Ethik
bezeichneten. Wegen ihres indirekten Charakters erwaehnt aber
keiner von den drei Autoren den versteckten "formalen"
Charakter dieser ethischen Konzeption, waehrend auf diese oder
jene Form die Tendenz zur Intellektualisierung der
ursprünglich rein ethischen Urteilsbildung bei ihnen allen
explizit angesprochen wird.
Es besteht kein Zweifel,
Spinozas Ethik (im engeren Sinne des Wortes) ist eine sehr
komplexe, wenn eben nicht gar paradoxe Konzeption in ihrer
Vereinigung der materialen und der formalen Qualitaeten vor
dem Horizont der Intellektualisierung. Im Falle Spinozas ist
es die Erfüllung der Bedingungen der materialen Dimension der
Urteilsbildung, die die Erfüllung der formalen Kriterien
derselben ethischen Urteilsbildung ermöglicht. In der
Erfüllung der materialen Kriterien (in der Form der
Herstellung des richtigen Verhaltens zu den eigenen Affekten)
wird aber eine sowohl in ihrer Komplexitaet wie auch in ihrem
sonstigen Ausmass gewaltige intellektuelle Arbeit verlangt. In
der hier unvermeidlich vereinfachten Form ausgedrückt, muss
der Handelnde zunaechst ins Wesen der Affekte entscheidende
Einsichten haben, um dann die an sich ebenfalls eher paradoxe
Logik eines (eudaimonistisch gefaerbten) Glücksgewinns auf dem
Wege des freiwilligen Verzichts auf die eigene Affektivitaet
vollziehen zu können. Uns geht es an dieser Stelle nicht so
sehr die Frage an, dass diese Ethik eine für Philosophen ist.
Für uns an dieser Stelle ist es wichtiger, auf die Grundrisse
von Spinozas Ethik im Rahmen der genannten Typologie hinweisen
zu können.
Es ist von nicht geringerer Bedeutung, dass
jener kognitiver Spielraum, der bei der intellektuellen
Ausfüllung der konkreten Leerstellen jeder materialen Ethik
erfordert ist, im Falle von Spinozas Ethik eben mit der
Erkenntnis und mit der selbstaendigen, d.h. von keiner
Philosophie oder Religion unterstützten Pragmatik eines
Affektenverzichtes zusammengeht. Dies zeigt, dass die
Intellektualisierung im Vollzug der Forderungen der ethischen
Urteilsbildung nicht mit Notwendigkeit eine triviale ist. Es
wird klar, dass das richtige ethische Handeln bei Gelegenheit
mit der höchsten intellektuellen Herausforderungen einhergehen
kann. Es wird einsichtig, dass Ethik nicht unbedingt ein Feld
von gemaessigten intellektuellen Erwartungen und Forderungen
sein muss und ihre Reduzierung der wirklichen Komplexitaet
keiner aehnlichen Reduzierung jeglicher anderen Provenienz
nachsteht.
Der Vollzug der einzelnen Phasen der
ethischen Urteilsbildung ergibt somit eine eigentümliche
Dynamik, die ja weder theoretisch noch praktisch auf die
ethische Sphaere beschraenkt bleiben muss. Diese Dynamik formt
die Persönlichkeit, denn sie muss einen Weg von ansehnlicher
Weite in der Zurückdraengung ihrer Affekte hinter sich legen.
Dieser Weg generiert auch zeitliche und damit auch historische
Prozesse. Allein aus diesem Grunde ist es uns, dass die Thesen
über den vollkommen unhistorischen Charakter von Spinozas
Denken nicht unbedingt voll richtig sind. Auch an dieser
Stelle sei daran erinnert, dass damit auch die These über
das Fehlen der ethischen Praxis nicht als stichhaltig
erscheint. Eine Praxis der ausgeführten formalen Ethik scheint
aus dem Grunde zu fehlen, weil diese Praxis erst nach dem
vollendeten Verzicht auf Affektenrealisierung in Funktion
treten kann .
Nicht nur in den umfassenden
strukturellen Zügen weist SpinozasEthik spezifische,
nicht-konventionelle Züge auf. Die materialen Elemente
dieses Urteilsbildungsprozesses sind selber sehr
vielschichtig und differenziert. Erstens findet man in dieser
Reihe gewöhnlich zu nennende materiale Elemente
(beispielsweise "Glück"). Zweitens sind hier auch reformierte,
wenn eben nicht revolutionaere materiale Elemente, die schon
in dieser revolutionaeren Form wie Paradoxien ausschauen
können ("Glück ist Erkenntnis"). Und drittens thematisiert
Spinoza dabei auch "negativ-materiale" Elemente ("Glück
ist Verzichtleistung auf Affekte" ). Allein diese
Zusammensetzung der materialen Dimension des
Urteilsbildungsprozesses zeigt die einmalige Komplexitaet von
Spinozas Ethik (denn die andere Haelfte ist hier noch
überhaupt nicht thematisiert worden). Der intellektuelle
Prozess bei der Realisierung der materialen Elemente der
ethischen Urteilsbildung führt in Spinozas Fall zu wahrhaft
paradoxen, aber auch zu wahrhaft neuen Ergebnissen. In einer
kohaerenten Zusammenfassung der gewöhnlichen, der
refomierten/revolutionierten, bzw. der negativen Elemente der
material-ethischen Urteilsbildung kommt Spinoza nicht allein
zu einer Neuordnung, sondern auch zu einer spezifischen
Selbstauslöschung einer einheitlichen materialen Ethik.
Ausgehend aus einer auf Glück aufgebauten materialen Ethik
wird, wie bereits kurz angedeutet, Glück mit Erkenntnis
identifiziert und zuletzt die mit Glück identifizierte
Erkenntnis oder das mit Erkenntnis identifizierte Glück führt
zu einer bestimmten komplexen menschlichen Praxis, die ganz
auf Verzicht der eigenen Affektbetaetigungen ausgerichtet ist.
Diese Selbstauslöschung einer materialen Ethik in ihrer
reinen Form bestaetigt die anfangs heraufbeschworenen
unterschiedlichen Beurteilungen von Blondel, Schweitzer und
Deleuze, sie macht aber für eine spezifische Form der formalen
Ethik den Weg auch frei.
Aufgrund dessen laesst sich
auch schon die Frage stellen, ob Spinoza nicht schon ein
eigener entwicklungsgeschichtlicher Ort in der Geschichte der
Ethik zukommt. Wir sind überzeugt, dass diese Annahme im
Rahmen der in diesem Versuch in Anspruch genommenen Typologie
richtig ist. Wir formulieren sie, auch wenn es nur noch
eindeutig hypothetisch formuliert werden kann.
Versucht man es, den Typus der materialen Ethik
historisch zu aktualisieren, so kann kein Zweifel darüber
bestehen, dass dieser Typus der ethischen Urteilsbildung
historisch mit den geschichtlichen Religionen die intensivste
Verbindung hatte. Die zentralen Werte, die Gütertafel, die
Hierarchie der Werte, sowie alle anderen relevanten
Bestimmungen der materialen Ethik sind zwar typologisch oder
prinzipiell überhaupt nicht an transzendentale Denkfiguren
gebunden, sie erscheinen aber trotzdem historisch als gebunden
an die frühen Formen der Religiositaet. Unsere Hypothese
besagt, dass die oben dargestellte Auslöschung der reinen Form
der materialen Ethik auch in dieser Hinsicht von Relevanz
gewesen sein dürfte.
Die wahre Bedeutung dieser
Hypothese für die Geschichte der Ethik überhaupt zeigt sich in
einem bisher nicht erwaehnten typologisch nichtsdestoweniger
ebenfalls höchst relevanten Zusammenhang. Die Ablsösung der
materialen Ethik durch einen klassischen Typus der formalen
Ethik erfolgte durch die protestantische Ethik, die dann das
Niveau der Klassizitaet bei Kant erreichte. Waere diese
Hypothese einmal tatsaechlich zu verifizieren, so könnte man
auch noch einen anderen Weg aus der materialen in die formale
Ethik aufweisen, der ja auch in zahlreichen weiteren
Detailfragen neue Einsichten liefern könnte.
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