SPINOZA VOR DEM HORIZONT DER TYPOLOGIE DER URTEILSBILDUNG IN DER ETHIK

Endre Kiss, Budapest

In diesem Versuch wird eine Typologie der ethischen Urteilsbildung durch die Konfrontierung der Typen der "formalen" und der "materiellen" Ethik aufgestellt. Sowohl im einzelnen, wie auch in dieser Konfrontation überhaupt betrachten wir diese Arten der ethischen Urteilsbildung als "idealtypisch" und aus diesem Grunde auch als die relevantesten Weisen der ethischen Urteilsbildung par excellence.


Wir erkennen selbstverstaendlich aber auch andere Verfahren der ethischen Urteilsbildung als legitim an, wie wir es auch gern auch zugeben, dass die Typologisierung der verschiedenen ethischen Schulen auch auf nicht als nur eine andere Weisen möglich ist. Wir können uns beispielsweise ohne Schwierigkeiten vorstellen, dass eine ethische Typologie aufgrund der prinzipiellen und historischen Bestimmungen, bzw. Überzeugungen des Alltagsbewusstseins unternommen wird, worin man auch die einzelnen Typen der antiken Ethik im grossen aktualisiert werden könnten.
Aufsehenerregende Ergebnisse liessen sich ferner auch durch einen strukturellen Vergleich von grossen ethischen Systemen mit umfassenden historischen Perioden erzielen, es waere aber auch ebenso produktiv, die hinter den einzelnen ethischen Konzeptionen stehenden "metaphysischen" oder "quasi-metaphysischen" Ansaetze für eine Typologie der ethischen Konzeptionen fruchtbar zu machen, darüber ganz zu schweigen, dass auch die einzelnen Religionen als möglicher Ausgangspunkt einer verallgemeinerten Typologie der einzelnen ethischen Ansaetze geradezu wie bestimmt erscheinen. Es verspricht ferner auch viel, wenn ethische Konzeptionen auf ihre sozialontologischen Implikationen hin weiter untersucht und typologisiert werden würden. Im Konkreten denken wir hierbei etwa an eventuelle Versuche, materialistisch aufgebaute ethische Konzeptionen mit "geschlossenen" Gesellschaften und formell aufgebaute ethische Konzeptionen mit "offenen" Gesellschaften in streng typologischem Sinne in Verbindung zu bringen.

Trotz all diesen Bemerkungen von einschraenkendem Charakter gelten für uns diese beiden Typen der spezifisch ethischen Urteilsbildung, d.h. die "formale" und die "materiale" Ethik sowohl in ihrer singulaeren strukturellen Beschaffenheit wie auch in ihrer unaufhörlichen Koexistenz und Rivalitaet als die bestimmendsten Phaenomene nicht nur einer Geschichte der Ethik, sondern auch des jeweiligen konkreten ethischen Phaenomens.

Die grundsaetzlichen Typen der ethischen Urteilsbildung gehen vielfach auch ins ideologisch-religiöse Gebiet hinüber und werden auch als solche zu fundamentalen Komponenten der neuzeitlichen Geschichte. Im Laufe des europaeischen historischen Prozesses wechselte die in typologischer Sicht material aufgebaute Ethik in eine formale hinüber, aber so, dass die konstitutive Rolle der das Christentum kennzeichnenden materialen Elemente auch erhalten blieb.

Will man den Typus der formalen ethischen Urteilsbildung generell bestimmen, so sollten die Momente der individuellen moralischen Autonomie, die der operativ und autonom zu vollziehenden Konstitution der ethischen Entscheidung und der Notwendigkeit der allgemeingültigen Formulierbarkeit der einzelnen ethischen Zusammenhaenge sowie die der Transparenz der formalen Regelung der richtigen Urteilsbildung in der ersten Reihe hervorgehoben werden. Im Gegensatz dazu definiert der Typus der materialen Ethik die ethische Urteilsbildung im Verfolgen von allgemein anerkannten und vor der ethischen Gemeinschaft klar definierten Werten und Gütern, wobei der jeweilige lebensweltliche Tatbestand mit diesen vorhin schon definierten Werten und Gütern in die Relation der Entsprechung gebracht werden soll. Der Einzelne soll hierbei nicht so sehr die ethische Tat frei konstituieren, anstatt dessen soll er einen bestimmten konkreten Tatbestand in die Sphaere der geltenden Werte einordnen. Aus diesen Bestimmungen folgt, dass die materielle Ethik schon von vorne herein hierarchisiert ist, da die einzelnen "Werte" und "Güter" eine kohaerente und hierarchische Ordnung wie notwendig vorschreiben.

Jede grosse Richtung der ethischen Urteilsbildung hat ihre versteckten sozialontologischen Voraussetzungen, die auch im einzelnen weiter erforscht werden sollten. Der formale Typ der Urteilsbildung enthaelt ein sozialontologisches Moment der menschlichen Freiheit, dessen kompromisslose und die sogenannten "Realitaeten" ausser acht lassende Betonung bei dem "rigorosen" Kant so vielfache Widerstaende und Verwunderungen auslöste. Anders steht es im Falle des Typus der materialen Ethik. In diesem Fall nehmen die in der ethischen Urteilsbildung zentral aufgestellten Werte und Güter bereits in dem rein ethischen Kontext sozialontologische Dimensionen an, denn ohne diese wirklichen ontologischen oder quasi-ontologischen Massstaebe könnte keine "materiale" Hierarchie der Werte und Güter bestehen.

Bevor wir den Versuch unternehmen würden, Spinozas Ethik im Rahmen dieser Typologie naeher zu beschreiben, wird diese Typologie mit anderen philosophisch-ethischen Konzeptionen konfrontiert.
Ziel dieser Demonstration ist die Untersuchung der Frage nach der Relevanz dieser Typologie der ethischen Urteilsbildung. In einer wahrhaft "typologisch" zu nennenden Skizzenhaftigkeit wird im folgenden die philosophische Konzeption von Hegel, Nietzsche, Feuerbach und des Platoschen "thymos" auf ihre Beschaffenheit unter dem Aspekt der formalen und der materialen ethischen Urteilsbildung erforscht.

Vergleicht man die Essenz der demonstrativ gewaehlten philosophischen Schulen mit den Normen der formalen ethischen Urteilsbildung, so ergibt sich das folgende Bild. Bei Hegel kann eine konkrete, in der Sphaere der Besonderheit sich bewegende Tat nicht unmittelbar zum Gegenstand einer im formalen Sinne genommenen Allgemeingültigkeit werden. Denn es entscheidet sich nicht aufgrund eines Automatismus der transparenten formalen Urteilsbildung, welche Tat sich in ethischer Sicht in die Höhe der Allgemeingültigkeit erhebt und welche nicht. Dieser Bewaehrung soll naemlich ein komplexer intellektueller Prozess vorangehen, der aufgrund einer vielschichtigen Analyse letztlich entscheiden kann, ob diese Qualifikation eine berechtigte ist oder nicht. Ebenfalls wird nach den Grundkoordinaten der Nietzscheschen Philosophie der (im formalen Sinne genommene) ethische Charakter einer Tat erst nach einer Reihe von konstruktiven intellektuellen Schritten eruierbar. Aufgrund dieser Einsichten erlaubt weder die Hegelsche noch die Nietzschesche Grundkonzeption der Philosophie die Entfaltung einer im direkten Sinne genommene "formale" Ethik. Nicht anders steht es aber auch mit der eudaimonistischen (Feuerbach) oder auch mit der auf die Idee des "thymos" ausgebauten Ethik. In diesen beiden Faellen geht es darum, dass die (im formalen Sinne genommenen) ethischen Qualitaeten einer Handlung nicht durch ein in der formalen Ethik konstituiertes Verfahren operationalisiert werden, vlelmehr geht es hier wieder um einen intellektuell motivierten Gedankengang, dessen Ergebnis zur endgültigen ethischen Qualifikation der betreffenden Tat führen muss. Aufgrund dessen können wir nun auch in expliziter Form aussagen, dass diese (vor allem nur als Beispiele angeführten) ethischen Konzeptionen nicht in den Typus der formalen Ethik restlos eingeordnet werden können.

Fragt man nun danach, ob diese vier philosophischen Konzeptionen in ihren Grundkoordinaten in den Typus der materialen Ethik gehören, so ergibt sich das folgende Bild.

Fasst man die diesbezüglichen Konsequenzen der Hegelschen Philosophie in typologischer Absicht zusammen, so kommt man zum Schluss, dass sich die einzelnen Handlungen im Zeichen einer spezifisch Hegelschen "unbestimmter Bestimmtheit" zweifellos doch auf "materiale" Werte und Güter richten, die spezifisch ethische Qualifizierung der einzelnen Taten laesst sich aber unter keinen Umstaenden ausschliesslich aufgrund dieser primaeren Relation ausführen. In idealtypisch abgekürzter Form kann auch die Nietzschesche Ethik nicht "material" genannt werden, obwohl die staendige Betonung von konkreten und dadurch "materialen" Zielsetzungen leicht den Eindruck erwecken kann, dass es hier um eine wirkliche materiale Ethik geht. Auch ohne eine detaillierte Analyse laesst sich aber einsehen, dass es jederzeit der wahre Grund der jeweiligen Verfaelschung der Nietzscheschen Philosophie war, wenn seine scheinbar "materialen" moralischen Zielsetzungen beim Wort genommen und als tatsaechliche materiale Ethik ausgegeben und aufgefasst worden sind. Scheinbar waere auch ein logischer Schritt, die Ethik des Eudaimonismus in ihrem bei Feuerbach artikulierten Typus als eine "materiale" Ethik zu definieren, denn - ebenso scheinbar - das Glück liesse sich mit einem "materialem" Gut identifizieren. Dagegen spricht aber, dass das Glück nicht ohne weiteres als ein Gut kategorisiert werden kann, vor allem (aber nicht ausschliesslich) aus dem Grunde, weil es analytisch kaum so aufgelöst werden kann, dass es das notwendige Mass der Allgemeingültigkeit erreicht. Mit anderen Worten geht es hier um die extremen wissenschaftslogischen Schwierigkeiten der Definition des Glückes, die ja auf dem Wege der analytischen Unauflösbarkeit, die es effektiv verhindern können, das "Glück" als zentrales Gut im Sinne der materialen Ethik aufzufassen. Aus diesem Grunde kann das Glück dem Ausmass der Allgemeingültigkeit nicht erreichen, die für die Konstituierung der Ethik notwendig waere, wohlgemerkt, es geht hier um jenes Ausmass der Allgemeingültigkeit, die für eine "materiale" (d.h. nicht "formale") Ethik an Allgemeingültigkeit der leitenden Werte und Güter erforderlich waere. Aehnlich steht es mit jener ethischen Vorstellung, die auf den Gedanken des "thymos", etwas anders formuliert, auf denjenigen des "Kampfes um Anerkennung" aufgebaut ist. Gerade die "Anerkennung" laesst sich - wieder scheinbar - als ein im Sinne der "materialen" Ethik genommenes "Gut" interpretieren, was so viel heissen würde, dass dadurch diese Ethik als "material" bestimmt werden kann. Die eine (aber nicht ausschliessliche) mögliche Linie der Argumentation dagegen ist wieder der Nachweis dessen, dass die "Anerkennung" eine analytisch in dem gleichen Masse nicht auflösbare Dimension darstellt als es mit dem Glück vorhin der Fall gewesen ist.

Wir kamen zu dem Schluss, dass der par excellence ethische Charakter der einzelnen konkreten Handlungen im System der Kategorien dieser vier philosophischen Konzeptionen nicht ohne weitere gedankliche Operationen auszumachen ist. Weder die Bedingungen der formalen noch die der materialen Ethik konnten in diesen vier repraesentativen und bedeutenden philosophischen Richtungen restlos erfüllt werden.

Bei Hegel wird die einzelne und "besondere" Handlung durch eine spezifischen intellektuellen Akt mit dem Allgemeinen konfrontiert, dessen Ausführung nicht in jedem Fall dem einzelnen Handelnden selber überlassen werden kann. Mutatis mutandis unterscheidet sich Nietzsches Fall von dieser Struktur kaum, denn die Überlegung der spezifischen ethischen Qualitaet einer Handlung schreibt letztlich die Beherrschung von schwierigen intellektuellen Techniken und einer authentischen und persönlichen Einsicht in zahlreiche und ursprünglich überhaupt nicht ethische Zusammenhaenge vor. Dasselbe konstruktive Moment ist - wieder mutatis mutandis - aber auch für die eudaimonistische und die auf die Idee des "thymos" aufgebaute Ethik charakteristisch. Zu all dem muss man an dieser Stelle noch hinzufügen, dass dieses konstruktive Moment allein noch keineswegs ausreichend ist, das typologische Dilemma der ethischen Urteilsbildung zu lösen.

Nach der Konfrontierung dieser vier philosophischen Konzeptionen mit den beiden wichtigsten Typen zeichnet sich ein merkwürdiger zweifacher Charakter der ethischen Urteilsbildung ab.

Als "material" erwies sich in diesen vier philosophischen Systemen, dass sie alle aus - aus ethischer Sicht klar identifizierbaren - materialen Werten ausgehen. Diese materialen Komponenten lassen sich jedoch als nicht a priori, als nicht voraussetzungslos, als heteronom und als Produkte spezifischer intellektuell-konstruktivistischer Operationen identifizieren.

In allen vier philosophischen Systemen meldeten sich aber auch "formale" Züge an. Alle vier enthielten die Affinitaet zur Allgemeingültigeit, eine Art kontextueller Autonomie. Alle vier betrachten sich als Gattungsoptimum, was zwar noch primaer kein ethisches Optimum ist, auf sekundaere Weise aber schon auch geeignet dafür werden kann, den einzelnen Handlungen ihre in formalem Sinne genommene Allgemeingültigkeit zu gewaehren.

Die exemplarisch behandelten philosophischen Schulen bewahren alle das allerwesentlichste Element der "formalen" Ethik, indem sie sich auf die Allgemeingültigkeit, auf die persönliche Freiheit und Souveraenitaet beharren. Sie konstruieren aber die diesen Bedingungen entsprechende handlungsleitende Maxime nicht direkt (d.h. nicht so, wie es eigentlich in dem reinen Typus der formalen Ethik geschehen sollte). Zwischen der Wahrnehmung der konkreten Situation und der ("formellen") Konstruktion der handslungsleitenden Maximen schalten sie den Akt einer intellektuell-konstruktiven Operation ein, die berufen ist, aufgrund einer spezifischen Überlegung definitiv zu entscheiden, ob die betreffende Tat tatsaechlich den "formalen" Bedingungen der ethischen Urteilsbildung entspricht oder nicht. Diese intellektuell-konstruktive Operation enthaelt ohne Zweifel das Element der Sinngebung und der Interpretation, die in manchen Faellen nur durch extrem anspruchsvolle und komplizierte intellektuelle Schritte realisiert werden kann.

Dies impliziert einerseits eine Art Intellektualisierung der spezifischen ethischen Urteilsbildung. Man muss entschieden betonen, dass diese Art der Intellektualisierung den genuin ethischen Charakter dieses Prosesses nicht widerruft, es geht in diesem Fall um eine rein ethische Angelegenheit, die nach ihren eigenen Notwendigkeiten intellektualisiert wird.

Diese Intellektualisierung der genuin ethischen Urteilsbildung laesst sich aber auch so auffassen, dass dadurch die ursprünglich "formale" ethische Urteilsbildung Schritt für Schritt "materialisiert" wird. Mit diesem Prozess müssen wir auch bei Spinoza eingehend auseinandersetzen, denn es zeichnen sich die Konturen ab, in denen die Fundamente der formalen Ethik zwar erhalten bleiben, die Bildung dieser Urteile aber aus intellektueller Notwendigkeit immer staerker materialisiert wird. Uns schwebt als Hypothese schon vor, dass diese Entwicklung einen spezifischen Übergang der ethischen Urteilsbildung von dem Zustand der ethischen Autonomie in einen Zustand der ethischen und mit diesem gleichrangigen intellektuellen Autonomie führen wird.

Diese Grundverhaeltnisse einer auf die Unterscheidung "material"-"formal" aufgebauten Typologie, mitsamt den Einsichten in die "Intellektualisierung" der ethischen Urteilsbildung liefern auch die Rahmen für eine Rekonstruktion von Spinozas im engeren Sinne des Wortes genommenen Ethik.

Eine der wichtigsten Bestimmungen dieser Ethik ist: Grundrelation nicht die Relation zwischen Einzelnen und Einzelnen, auch nicht zwischen Einzelnen und Gesellschaft. Die klar ersichtliche Grundbeziehung ist eine Relation des Einzelnen zu sich selber, die Relation des Einzelnen zu seinen eigenen Affekten, die ja seine Einstellung zu den anderen Einzelnen, aber auch zu der Geserllschaft konstituieren.

Diese indirekten Relationen zeigen aber auch gleich, dass diese überhaupt nicht übliche Grundeinstallung mit einer Privatisierung der Ethik keineswegs gleichbedeutend ist. Trotz also der Wendung ins Innere versichert das Zentrum der ethischen Urteilsbildung - wenn auch nunmehr aauf die soeben angedeutete indirekte Weise - die spezifisch ethische Relation auch zu den Anderen.

Aehnlich zu den soeben angeführten Philosophen (Hegel, Feuerbach, Nietzsche und der Platon der thymos-Problematik) erweist sich auch dieser spezifische Ausgangspunkt der ethischen Urteilsbildung bei Spinoza nicht als einer, der ohne weiteres in die formale oder die materiale Ethik eingeordnet werden könnte. Die Klaerung unserer richtigen Relation zu unseren Affekten konstituiert mit Selbstverstaendlichkeit ein entscheidendes "materiales" Element in dieser Auffassung der ethischen Urteilsbildung. Weil aber die so entstehende ethische Position in ihrem weiteren Ausbau, waehrend wessen er auf indirekte Weise zur Interpersonalitaet und zur Sozialitaet hinführt, auch "formale" Kriterien annimmt, bewahrheitet sich auch im Falle Spinozas, dass keiner der reinen Typen der ethischen Urteilsbildung auf seine Konzeption generell zutrifft.

Schaut man an dieser Stelle auf die allgemeine Beurteilung der im engeren Sinne des Wortes genommenen Ethik Spinozas, so faellt auf, dass ein Schrumpfen, bzw. Rückgang der eigentlichen ethischen Dimension generell gesehen und festgestellt wird. Maurice Blondel
geht davon aus, dass das umfassende ethische Interesse Spinozas es ist, das zu einer spezifischen Reduktion führt. Das eigentlich Moralische geht in Metaphysik und Ontologie auf. Nicht unaehnlich beurteilt Albert Schweitzer in seinem bedeutenden Werk über die Ethik Spinoza. Er kommt zu dem aehnlich paradox klingenden Schluss, dass das ethische Verhaeltnis kein ethisches Verhaeltnis ist. In dieser Verschiebung in der Richtung der Ontologie erscheint auch das Moment des intellektuellen Anteils im Prozess der ethischen Urteilsbildung, was in Schweitzers Augen das Ausmass der spezifischen ethischen Taetigkeit stark reduziert. Aehnlich signalisiert Gilles Deleuze das Moment eines Fehlens des praktischen Motivs in Spinozas Ethik, das mit der Ignoranz des Negativen und ihrer Macht zusammengeht. Obwohl sich die Ansaetze ebenso wie die Terminologien der angeführten Autoren voneinander deutlich unterschieden, die Aehnlichkeit ihrer Einstellungen laesst sich nicht übersehen. Alle drei deuten das Fehlen einer als "normal" oder als "üblich" anzusehenden ethischen Dimension an und weisen entschieden auf jene in der Richtung der Ontologie, bzw. der Metaphysik weisenden Sphaere hin, die wir als die "materiale" Dimension dieser Ethik bezeichneten. Wegen ihres indirekten Charakters erwaehnt aber keiner von den drei Autoren den versteckten "formalen" Charakter dieser ethischen Konzeption, waehrend auf diese oder jene Form die Tendenz zur Intellektualisierung der ursprünglich rein ethischen Urteilsbildung bei ihnen allen explizit angesprochen wird.

Es besteht kein Zweifel, Spinozas Ethik (im engeren Sinne des Wortes) ist eine sehr komplexe, wenn eben nicht gar paradoxe Konzeption in ihrer Vereinigung der materialen und der formalen Qualitaeten vor dem Horizont der Intellektualisierung. Im Falle Spinozas ist es die Erfüllung der Bedingungen der materialen Dimension der Urteilsbildung, die die Erfüllung der formalen Kriterien derselben ethischen Urteilsbildung ermöglicht. In der Erfüllung der materialen Kriterien (in der Form der Herstellung des richtigen Verhaltens zu den eigenen Affekten) wird aber eine sowohl in ihrer Komplexitaet wie auch in ihrem sonstigen Ausmass gewaltige intellektuelle Arbeit verlangt. In der hier unvermeidlich vereinfachten Form ausgedrückt, muss der Handelnde zunaechst ins Wesen der Affekte entscheidende Einsichten haben, um dann die an sich ebenfalls eher paradoxe Logik eines (eudaimonistisch gefaerbten) Glücksgewinns auf dem Wege des freiwilligen Verzichts auf die eigene Affektivitaet vollziehen zu können. Uns geht es an dieser Stelle nicht so sehr die Frage an, dass diese Ethik eine für Philosophen ist. Für uns an dieser Stelle ist es wichtiger, auf die Grundrisse von Spinozas Ethik im Rahmen der genannten Typologie hinweisen zu können.

Es ist von nicht geringerer Bedeutung, dass jener kognitiver Spielraum, der bei der intellektuellen Ausfüllung der konkreten Leerstellen jeder materialen Ethik erfordert ist, im Falle von Spinozas Ethik eben mit der Erkenntnis und mit der selbstaendigen, d.h. von keiner Philosophie oder Religion unterstützten Pragmatik eines Affektenverzichtes zusammengeht. Dies zeigt, dass die Intellektualisierung im Vollzug der Forderungen der ethischen Urteilsbildung nicht mit Notwendigkeit eine triviale ist. Es wird klar, dass das richtige ethische Handeln bei Gelegenheit mit der höchsten intellektuellen Herausforderungen einhergehen kann. Es wird einsichtig, dass Ethik nicht unbedingt ein Feld von gemaessigten intellektuellen Erwartungen und Forderungen sein muss und ihre Reduzierung der wirklichen Komplexitaet keiner aehnlichen Reduzierung jeglicher anderen Provenienz nachsteht.

Der Vollzug der einzelnen Phasen der ethischen Urteilsbildung ergibt somit eine eigentümliche Dynamik, die ja weder theoretisch noch praktisch auf die ethische Sphaere beschraenkt bleiben muss. Diese Dynamik formt die Persönlichkeit, denn sie muss einen Weg von ansehnlicher Weite in der Zurückdraengung ihrer Affekte hinter sich legen. Dieser Weg generiert auch zeitliche und damit auch historische Prozesse. Allein aus diesem Grunde ist es uns, dass die Thesen über den vollkommen unhistorischen Charakter von Spinozas Denken nicht unbedingt voll richtig sind. Auch an dieser Stelle sei daran erinnert,
dass damit auch die These über das Fehlen der ethischen Praxis nicht als stichhaltig erscheint. Eine Praxis der ausgeführten formalen Ethik scheint aus dem Grunde zu fehlen, weil diese Praxis erst nach dem vollendeten Verzicht auf Affektenrealisierung in Funktion treten kann .

Nicht nur in den umfassenden strukturellen Zügen weist SpinozasEthik spezifische, nicht-konventionelle Züge auf. Die materialen Elemente
dieses Urteilsbildungsprozesses sind selber sehr vielschichtig und differenziert. Erstens findet man in dieser Reihe gewöhnlich zu nennende materiale Elemente (beispielsweise "Glück"). Zweitens sind hier auch reformierte, wenn eben nicht revolutionaere materiale Elemente, die schon in dieser revolutionaeren Form wie Paradoxien ausschauen können ("Glück ist Erkenntnis"). Und drittens thematisiert Spinoza dabei
auch "negativ-materiale" Elemente ("Glück ist Verzichtleistung auf Affekte" ). Allein diese Zusammensetzung der materialen Dimension des Urteilsbildungsprozesses zeigt die einmalige Komplexitaet von Spinozas Ethik (denn die andere Haelfte ist hier noch überhaupt nicht thematisiert worden). Der intellektuelle Prozess bei der Realisierung der materialen Elemente der ethischen Urteilsbildung führt in Spinozas Fall zu wahrhaft paradoxen, aber auch zu wahrhaft neuen Ergebnissen. In einer kohaerenten Zusammenfassung der gewöhnlichen, der refomierten/revolutionierten, bzw. der negativen Elemente der material-ethischen Urteilsbildung kommt Spinoza nicht allein zu einer Neuordnung, sondern auch zu einer spezifischen Selbstauslöschung einer einheitlichen materialen Ethik. Ausgehend aus einer auf Glück aufgebauten materialen Ethik wird, wie bereits kurz angedeutet, Glück mit Erkenntnis identifiziert und zuletzt die mit Glück identifizierte Erkenntnis oder das mit Erkenntnis identifizierte Glück führt zu einer bestimmten komplexen menschlichen Praxis, die ganz auf Verzicht der eigenen Affektbetaetigungen ausgerichtet ist.
Diese Selbstauslöschung einer materialen Ethik in ihrer reinen Form bestaetigt die anfangs heraufbeschworenen unterschiedlichen Beurteilungen von Blondel, Schweitzer und Deleuze, sie macht aber für eine spezifische Form der formalen Ethik den Weg auch frei.

Aufgrund dessen laesst sich auch schon die Frage stellen, ob Spinoza nicht schon ein eigener entwicklungsgeschichtlicher Ort in der Geschichte der Ethik zukommt. Wir sind überzeugt, dass diese Annahme im Rahmen der in diesem Versuch in Anspruch genommenen Typologie richtig ist. Wir formulieren sie, auch wenn es nur noch eindeutig hypothetisch formuliert werden kann.

Versucht man es, den Typus der materialen Ethik historisch zu aktualisieren, so kann kein Zweifel darüber bestehen, dass dieser Typus der ethischen Urteilsbildung historisch mit den geschichtlichen Religionen die intensivste Verbindung hatte. Die zentralen Werte, die Gütertafel, die Hierarchie der Werte, sowie alle anderen relevanten Bestimmungen der materialen Ethik sind zwar typologisch oder prinzipiell überhaupt nicht an transzendentale Denkfiguren gebunden, sie erscheinen aber trotzdem historisch als gebunden an die frühen Formen der Religiositaet. Unsere Hypothese besagt, dass die oben dargestellte Auslöschung der reinen Form der materialen Ethik auch in dieser Hinsicht von Relevanz gewesen sein dürfte.

Die wahre Bedeutung dieser Hypothese für die Geschichte der Ethik überhaupt zeigt sich in einem bisher nicht erwaehnten typologisch nichtsdestoweniger ebenfalls höchst relevanten Zusammenhang. Die Ablsösung der materialen Ethik durch einen klassischen Typus der formalen Ethik erfolgte durch die protestantische Ethik, die dann das Niveau der Klassizitaet bei Kant erreichte. Waere diese Hypothese einmal tatsaechlich zu verifizieren, so könnte man auch noch einen anderen Weg aus der materialen in die formale Ethik aufweisen, der ja auch in zahlreichen weiteren Detailfragen neue Einsichten liefern könnte.




powered by