Exzerpt von:
Tosel, André, 1994: Du matérialisme de Spinoza. Paris. Éditions Kimé
[9] Einführung
Über die systematische Einheit der Philosophie Spinozas
Der Politisch-Philosophische Traktat als Einführung in die Ethik
Erster Teil
Elemente der Lehre
I. Einige Anmerkungen für eine Interpretation der Ethik
[17] I. Entgegen jeder absolutsierenden und fetischisierenden Interpretation dieses Textes, meine Ich, dass die Ethik nicht das absolute Buch, die neue Bibel der Moderne ist. Es ist nicht das Grundlagenwerk, dessen totalitäres Bild manche mit Abscheu oder Faszination erwähnen und auch nicht so wenig laizistisch. Spinoza ist nicht Mallarmé und er ist noch viel weniger jener inkohärente Hegel, den uns Alexandre Kojève präsentiert.
Ausserdem, wenn Spinoza sein Werk fetischisiert hat, warum hat er es dann bescheidenerweise Ethik genannt, d.h. Wissenschaft der Formierung und der Disziplinierung der Formen des menschlichen Lebens ? Warum hat er den praktischen Aspekt unterstrichen ? Warum hat er es in die stoizistische Tradition eingeschrieben und aus ihm das Buch des Lebens gemacht, das Buch der Produktion der individuellen Behauptung/Bejahung/Bekräftigung [affirmation] ? Nicht absolutes Wissen, sondern Wissen um die Sitten, - zu leben wissen, zu handeln wissen, zu wissen, wie man aktiv ist, zu begreifen wissen.
Warum sprechen Wir vom Individuum ? Weil es in der Ethik nicht ausradiert ist. Weil die Ethik v.a. eine Abhandlung der menschlichen Individuation ist. In Wirklichkeit lebt die Ethik von der Spannung zwischen dem anonymen Prozess des totalen und schaffenden [naturante] Individuums und dem individuellen Prozess des menschlichen Individuums, das aufgerufen ist, den Prozess seiner Formierung zu durchlaufen. Folgt die Frage: Für wen ist dieses Buch ? Für wen ist dieses Buch, wenn es so verstanden wird, dass es für die höchste Form der menschlichen Individualität bestimmt ist, die des Wissenden [sage] ? Eine solche Untersuchung riskiert es, dass sie, durch den Überschuss an Individualismus, die grundlegende Historizität, für die sie die Verantwortung trägt, in der Zeitlosigkiet annulliert. [...] Was ist die Ethik ? Eine rationale Theologie ? Eine Theorie der Seele und ihrer Vermögen? Eine Erkenntnistheorie ? Eine Theorie der Leidenschaften ? Eine Theorie der Freiheit und des Glücks ? Sicherlich ist die Ethik all das, aber sie ist nicht die einfache Addition dieser zerstückelten Rubriken.
Die Ethik muss in ihrer wirklichen Originalität verstanden werden. Von der auf unendliche Weise(n) unendlichen [infinement infinie, vgl. Macherey, IE1, 46, Anm.2] Substanz zu den Modi, von den Modi zu jenem endlichen Modus, der der Mensch ist, dem es zugedacht ist, dass er seine eigene Fähigkeit sich in der Endlichkeit zu verwirklichen [capacité de s'actualiser], gemäss zweier grundlegender Register: zum einen die Passion-Imagination, zum anderen, die Aktion-Räson [raison-action]. Von der unendlichen Substanz zur Menschheit, die zunächst sklavisch und unwissend, dem Überleben in Gemeinschaften verschrieben ist, die ihres zusammengefassten Vermögens beraubt ist, hin zu einer Menschheit, die befreit und wissender, bewusster, schliesslich dafür geeignet ist, zu leben, gut zu leben, in einer Demokratie, - dies ist hier unten, auf der Erde, vorgesehen, dass sie zum Glück gelangt [en ses meilleurs représentants, ?]. So ist die Bewegung der Produktion, der Deduktion beschaffen. [18] Der Prozess wird sich fortsetzen durch seine Momente, seine Brüche, seine Übergänge hindurch.
Die Onto-Theologie ist ethisch-politisch: Gott, d.h. die Legalität einer immanenten Natur, übersetzt sich menschlich in die Immanenz einer Gesellschaft, die von Menschen geleitet wird, die fähig sind, zu denken und zu handeln. Umgekehrt ist die Ethik-Politk ontologisch. Der freie Mensch ist eine Möglichkeit der anonymen Natur. Die Fähigkeit, durch sich zur Kausalität und zum Begreifen zu gelangen, in den Grenzen, die einem Modus zugeschrieben sind, der immer durch etwas anders verursacht und begriffen wird - dadurch ist diese Fähigkeit dazu bestimmt die endliche Übersetzung des Unendlichen zu sein. Die Ethik ist nicht die Summe dieser zerstreuten Abhandlungen. Die Ontologie (E1), Anthropologie und Gnoseologie (E2), die Theorie der Leidenschaften (E3), die Theorie der rationalen Befreiung (E4) und die Theorie des ewigen Lebens (E5), sind verkettet, ohne dass sie sich addieren - um ein Buch des Lebens der modernen Zeit, ein Buch des Lebens der Zeit der Befreiung, die die Befreiung der Zeit, durch und in der Zeit, ist, zu bilden,
Der individualistische Aspekt mag verwirren, aber es handelt sich dabei um das Individuum, gedacht in seinem typischen, universellen Wesen und seinen Modalitäten der Singularisierung. In diesem Sinn ist die Ethik, ohne das absolute Wissen zu sein, ein entscheidendes, richtungsweisendes, epochales Buch. Sie ist das Buch, das den Prozess der Konstitution oder der Produktion der Lebensfomen logisch (re)produziert, wie es auch die unendliche Natur der Dinge als Formen der endlichen menschlichen Individualität produziert. Die Ethik ist wie die Verdichtung, die logische Formalisierung der dynamischen Struktur des Befreiungsprozesses. So als ob sie die Axiomatik des Übergangs von einer Produktionsweise des menschlichen Lebens zu einer anderen, mächtigeren, wäre. Sie erlaubt, auf dieser axiomatischen Grundlage und in diesem allgemeinen Rahmen, jede konkrete historische Konjunktur zu fassen und ihre Besonderheiten einzeln zu behandeln, dank der Morphologie der Lebensformen.
Die Ethik macht die Behandlung aller Konjunkturen möglich, denn sie produziert die wahren und notwendigen Erkenntnisse anlässlich der Produktion der Traktate, die die Singularität der Konjunkturen und ihre Probleme in Angriff nahmen. Allgemeine Axiomatik jeder möglichen Behandlung der Konjunktur, ihrer theoretischen Aneignung und ihrer praktischen Transformation, - so macht sich die Ethik in den Traktaten an die Arbeit. Sie ist anwesend im TPT und im PT. Spinoza schrieb sie, um gerade die singulären Probleme zu "theorematisieren", welche man alle mit der universellen, oder allgemeinen, Bedeutung des ethischen Übergangs [transition] von der Knechtschaft zur Freiheit in Beziehung setzen kann. Die Ethik ist das begriffliche Stenogramm des Befreiungsprozesses der menschlichen Individualität, ausgehend von ihrer Einschreibung in den produktiven Prozess der Natur. Dieser Prozess erleidet seinen entscheidenden Moment [19] insofern er von einer Produktions- und Reproduktionsweise der Individualität (welche selbst zugleich als Körper und Geist lesbar ist) zur anderen übergeht. Es handelt sich um ein Fortschreiten in der Fähigkeit der Körper sich mit anderen zusammenzusetzen und wiederzusammenzusetzen, um ihr Vermögen zu verwirklichen; Gleichzeitig handelt es sich um ein Fortschreiten in der Fähigkeit des Geistes die Dinge besser zu verstehen. Der vorrangige Gegenstand der Ethik ist also nicht die unendliche Substanz, sondern der ethische Befreiungsprozess insofern er durch die Bestimmung des Seins als Substanz causa sui passiert. Der rote Faden der Ethik, ausgehend von den allgemeinen onto-kosmologischen Bedingungen der natürlichen Produktivität, ist gerade die Verkettung, die Aufeinanderfolge, die Konkurrenz zwischen den Produktionsweisen der menschlichen Individualität und den Lebensformen, die sie bestimmen.
II. Die Umkehrung der traditionellen Onto-Theologie an der die Ethik gemessen werden kann. Es ist jene des radikalen Bruchs, der einen rationalistischen Pantheismus konstituiert, der durch die Immanenz beherrscht wird, durch die Univozität, die Affimativität. Dieser Pantheismus entwertet für immer alle Hierarchien, alle Eminationen [éminences], alle Dualismen (intelligibel-sinnlich, noumenal-phänomenal, Seele-Körper, geistig-materiell). Spinoza behauptet die Positivität des Seins, gedacht in der Gleichheit seiner wesentlichen Aspekte, indem er die Ausdehnung und das Denken etabliert (E1). E2 verkettet die Analyse der konstituiven Stukturen der Realität mit dem Erfassen des Wesens des Menschen, als Modus dieser einzigen und einheitlichen Realität. Er liefert eine Analyse der existentiellen Bedingung im Inneren des Systems von Verhältnissen, aus denen die Realität gebildet ist. Diese Analyse kann nur entwickelt werden, indem sie den Fall des Menschen als besonderen (nicht ausserhalbliegenden) Fall der Modalität einschliesst, d.h. durch Einbeziehung dessen, was durch ein anderes Ding begriffen wird und in einem anderen Ding ist. Die Modi, der Modus des Menschen, sind die gleichwertigen Elemente, demokratisch gleich, dank ihrer Natur (alle sind zunächst in einem anderen Ding), sie sind die Singularitäten die gleichermassen für die Welt konstitutiv sind. Diese Singularitäten werden aber ausgehend von der Perspektive interpretiert, unter der die condition humaine tendenziell sich begreifen kann und durch sich begriffen werden kann. Diese condition humaine begreift sich als Modifikation, die einen ausgedehnten Modus - den Körper - und einen Modus des Denkens - den Geist - vereint. Alle diese Modifikationen, auch wir selbst, in den Aspekten durch die wir sie erkennen, sind von Attributen abhängig. Jede körperliche Realität ist gleichzeitig ideelle Realität. Jedes physische Ding ist Denkform. Jede verursachte und verursachende Realität ist begriffene und begreifbare Idealität. E2 beruht auf dem strukturellen Parallelismus der Kausalität (Attribut der Ausdehnung) und dem Begreifen (Attribut des Denkens). Wir verursachen, handeln, - und wir begreifen; wir erfassen - begreifen und wir handeln. Wir handeln, soweit wir physisch verursachen, und wir verursachen soweit wir begreifen.
Die condition humaine benötigt um definiert werden zu können das doppelte Spiel der beiden Paare: durch sich/in sich; begriffen werden durch sich/begriffen werden durch ein anderes. Um [20] den Horizont der Singulaität als einheitliche Realität zu denken, ist es nötig, sie in das produktive System der Realität einzufügen, und diese letztere als produktives Vermögen zu denken, das Sein und das Denken produzierend, Identität der Verursachung [causation] und des Begreifens. In Wirklichkeit ist das ausschliessliche Interesse Spinozas unsere Ermächtigung/Befähigung [devenir-puissant], unser Ursache-Begriff-Werden [devenir cause-concept]. Aber dieses anthropozentrische Interesse vollzieht sich, indem es das Ende jedes theoretischen Anthropozentrismus bewirkt. Wenn Gott die Welt ist, die sich konstituiert und innerhalb der sich der menschliche Modus konstituiert, so ist dieser letztere ebenfalls Gott, und zwar ohne, dass der Unterschied zwischen "in einem anderen sein" und "durch sich sein" aufgehoben wäre; Denn das "Durch ein anderes sein" ist durch ein anderes produziert, aber gleichzeitig innerhalb des "Sein durch sich".
Spinoza unterstreicht die infinitesimale "Kleinheit" des Vermögens der menschlichen Singularität im Verhältnis des Rests des Feldes der Singularitäten, der als Ganzes aufgefassten Natur. Der Mensch, als ein "Durch ein anderes sein", befindet sich zwischen den Dingen, die in einem anderen sind und die in einem anderen begriffen werden. Die menschliche Singularität ist Teil von etwas. Die "persönliche" menschliche Identität ist, wie die eines jeden Eindzeldings, relational. Der Mensch existiert in den interpersonellen Verhältnissen, wie ein Interaktionen austauschendes Zentrum in einem Feld von Verhältnissen. Er ist kein substantielles Zentrum, er kann nicht getrennt von den Verhältnissen existieren, die nur in ihrem und durch ihr System existieren. Dieses System von Verhältnissen hat die selbe Struktur auf der Ebene der Produktionsverhältnisse zwischen Körper und Körper und auf der Ebene zwischen Idee und Idee. Das selbe Netz - jenes der galileischen Physik, mit seiner Bewegung und seinem Trägheitsgesetz - begründet die Welt der psycho-physichen Singularität. Es gibt keine Substanz der individuellen menschlichen Singularität, - und zwar aus dem Grund des ewigen Prozesses der Formierung, Deformierung und Reformierung der konstitutiven Bewegungs- und Ruhebeziehungen.
Die Abhängigkeit ist als Bedingung radikal, - aber sie ist unendlich veränderbar, da die Erkenntnis der Struktur der Realität und der relationalen-abhängigen Position des Menschen die notwendige Basis für jede Art der Initiative ist. Jede Erkenntnis der Modalität durch die Modalität wird zu einem Instrument für diese Initiative, indem sie den Menschen erlaubt, sich zu konstituieren und ihr Vermögen zu vergrössern, indem es ihnen erlaubt das "maximale ethos" zu erwerben. Die Menschen sind nicht die causa sui im absoluten Sinn und werden es niemals sein, sie werden die modale Differenz nie negieren und niemals überschreiten können; aber im Inneren dieser Differenz steht ihnen eine Zukunft, eine Geschichte offen. Die existierenden menschlichen Modi, die in unreduzierbarer Weise in ihrem Wesen und ihrer Existenz von der Natur-Substanz verursacht sind, sind gleichzeitig von anderen Menschen hervorgebracht, welche selbst wiederum von anderen Menschen hervorgebracht worden sind, gemäss einer unabänderlichen Ordnung, von der sie nicht abstrahiert werden können. Die Menschen kommen zur Welt in einem Augenblick, den sie nicht gewählt haben, mit einem genetischen Erbe, das eine Wirkung auf ihre physich-psychische Struktur hat und auf ihr zukünftiges Verhalten. Sie werden in ihrer Umwelt begriffen, [21] die von unzähligen Elementen gebildet sind, die ihnen fremd sind. Sie entwickeln sich in dieser Umwelt, beeinflusst durch die Veränderungen, denen diese unterworfen ist. Zwei Ebenen der Beeinflussung kreuzen sich also: Jene der äusseren Welt und jene der individuellen psycho-physischen Struktur (jedes Wesen des Modus ist darüberhinaus selbst relational.)
Auf dieser Grundlage, und unter dieser Bedingung, gibt es Platz für ein Ursache-Werden und ein Begreifen, ein Handlend-Werden und ein Handelnder-Werden [un devenir agissant et agent] des Menschen im Inneren des beweglichen und relationalen Systems von Bedingungen. Der Mensch, ein Teilaspekt und eine Modifikation der Totalität, vermag es nicht in sich die Notwendigkeit und die Freiheit zu identifizieren. Dennoch vermag er es, etwas adäquat zu begreifen und etwas adäquat zu bewirken; Denn selbst auf der niedrigsten Stufe der modalen Abhängigkeit, der Passivität, besitzen die Menschen eine kausale und theoretische Ausstattung, um etwas adäquat zu bewirken und zu begreifen, um, in der allgemeinen Bedingung des in alio, eine Sphäre der theoretischen und praktischen Verhältnisse in se zu entwickeln. Für den Menschen bestimmt sich der Konstitutionsprozess des Absoluten als konstitutiver Weg der Formierung des modalen Vermögens; und hier verortet sich E2. (wobei natürlich E2 auf E1 beruht)
Das göttlich Absolute wird zur Welt der Modi und zum Prozess der Produktion-Konstitution der Modi, der produktiven Kräfte, im Prozess der Ethisierung des menschlichen Modus. Diese Ethisierung vollzieht sich als eine Passage von einem Produktionsregime des produktiven Kraft-Modus zu einem anderen; entweder indem sich der menschliche Modus geduldig und unwissend, oder handelnd und wissend in das System der Notwendigkeit einschreibt. Zwei Produktionsweisen [modes de production] der menschlichen Modalität betreiben jeweils eine theoretische Haltung und ein praktisches Verhalten: jene des unaufgeklärten Menschen, der in Unwissenheit der Ursachen seines Wesens und der Strukturen der Realität handelt, jene des Wissenden, der auf der Grundlage der Erkenntnis der konkreten Situation, wo er sich bewegt, handelt, sich seiner Rolle im System der Verhältnisse bewusst, welche sein Handeln bedingen. Passage vom absoluten in alio zum in alio, das sich in das in se transformiert, - und zwar tendenziell hin zu einer unendlich zurückweichenden Grenze. Unendlicher Übergang.
III. Die Entgegensetzung von sklavischem Modus und freiem Modus ist absolut, Spinoza ist aber an dem Übergang von einem zum anderen interessiert, insofern dieser Übergang die natürliche Bedingung [condition] für den Menschen darstellt. In dieser Möglichkteit des Übergangs liegt die Möglichekit der Passage von der Knechtschaft zur Freiheit, d.h. die Möglichkeit für den Menschen in die Realität zu intervenieren, um sie zu erkennen, sie sich anzueignen, und sie auf der Grundlage ihrer Produktivkräfte zu verändern. Die Entgegensetzung behält ihren Wert, doch der erste Term, von dem man ausgeht, ist nicht die reine Abwesenheit von Erkenntnis und Handeln. Jedes Individuum ist durch sein Wesen als Produktivkraft bestimmt, und diese ist des Ergebnis einer immer offenen komplexen Reihe von Elementen, die einem notwendigen Produktions- und Reproduktionsprozess unterworfen sind. So gesehen, [22] kann es hier keine Unterbrechung, keinen Bruch einerseits zwischen einem Wesen, seiner individuellen Geschichte, der Umwelt in welcher es handelt und andererseits zwischen seinem Handeln geben. Die Handlungen sind immer die notwendigen Konsequenzen der bestimmten materiellen Voraussetzungen (objektive Bedingungen) und den geistigen Voraussetzungen (subjektive Bedingungen).
Der Unwissende ist jener, der keinen Zugang zu dem findet, was in der anscheinenden Spontanität des Individuums versteckt ist und der die realen Ursachen und Motivationen seines Handlens nicht identifizieren. Aber selbst dieser Unwissende handelt und denkt. Er bleibt individuelles Wesen, individuelles Vermögen, Teil des unendlichen Vermögens der Natur; Dieses individuelle Vermögen ist nicht, statisch gesehen, unbeweglich, sondern es ist in Wirklichkeit in Bewegung, affiziert durch die Handlungen der anderen Individuen mit welchen es Beziehungen unterhält. Dieses Wesen behält eine Reserve bei, die es ihm erlaubt, zu denken und adäquat zu wirken [causer]. Es kann sich nicht dauerhaft mit einem festgelegten Zustand oder einer fixierten Bedingung identifizieren, hingegen aber mit einem Zustand, einer Bedingung, welche jedesmal aus dem Typ der etablierten Verhältnisse zwischen dem Individuum und den anderen entsteht [naît].
Es ist also Platz für einen Übergang, welcher nur Befreiungsprozess entlang der allmählichen Steigerung [degrés] des Vermögens, der Handlungen und des adäquaten Begriffsvermögens [conception] sein kann, welche Schritt für Schritt erworben werden. Dieser Prozess beruht für den Menschen auf dem besonderen Typ der Beziehungen zwischen Geist und Körper, die so beschaffen sind, dass die Aktivität des einen sich auf die Fähigkeit beschränkt, das Vermögen des anderen auszudrücken und, indem sie auf diese Fähigkeit reflektieren, sich zur Fähigkeit der Verursachung umkehren. Der ethische Befreiungsprozess ist eine Angelegenheit der Steigerungen [degrés] des Vermögens. Die Prädikate der adäquaten Kausalität und des adäquaten Begreifens steigern sich allmählich [se gradulisent].
Noch einmal: Der Mensch ist weder ein absoluter Sklave, noch der Natur-Gott. Man kann drei Steigerungen in dieser Abstufung unterscheiden: absolute Abwesenheit des Prädikats, begrenzter und variabler Besitz, unbegrenzte Präsenz. Der Modus erlebt die Ablehnung des ersten Grade und des letzten. Das Prädikat vermag mehr oder weniger, es impliziert gewisse Aspekte, doch keine Totalität; es muss als Gegebenes und als Gebbares in gewissen Situationen (und nicht in allen) verstanden werden. Die Theorie der unendlichen Affirmation des Kosmos übersetzt sich für uns, nicht in eine unkritische Apologie des existierenden, sondern in eine Technik des quatenus [wieweit, insoweit: est quatenus bis zu einem gewissen Punkt, wie lange auf wie lange, insofern, weil], eine Technik der fortschreitenden Steigerung der Grade der Freiheit und des Begreifens. Wie jeder Modus muss das menschliche Wesen, jedes individuelle menschliche Wesen in einem gewissen Mass zugleich in etwas anderem und in sich sein. Es gibt immer Aspekte, die so beschaffen sind, dass ein und dasselbe begrenzte und besondere Ding (oder Individuum) mehr oder weniger an der Bestimmung des "in sich" und an der des "in etwas anderem" teilhat. Doch die Absolutheit der Opposition von in sich-in etwas anderem" relativiert sich. Das "in etwas anderem" ist nicht das Entgegengesetzte zu "in sich", sondern seine Negation, es [23] bezeichnet dasjenige, das nicht völlig in sich ist. Wenn nur - im strengen Sinne - das unendliche Vermögen der Produktion einer Unendlichkeit an gegenwärtigen [actuels] Modi "in sich" ist, so kann man auch sagen, dass dieses nicht existiert, sondern ist. Denn es existieren nur Modi, aber diese existieren ohne Sein. Gott ist immer schon durch seine Modi ausgedrückt, ohne die er nicht sein könnte. Wenn die Modi "in Gott" sind, so ist Gott "in sich" , was nichts Getrenntes ist. Das In-einem-anderen-sein charakterisiert das Verhältnis der Modi zu Gott und ist nur die Expressivität dieses Etwas. Ebenso kann man sagen, dass der Begriff Gottes sich auslöscht und sich in der unendlichen Expressivität der Substanz, oder vielmehr der Substanzialität, die sich in diesen Modi ausdrückt, erschöpft. Diese existieren gleichzeitig in der Substanz, ohne sich mit ihr zu vermischen. Die Existenz der Modi ist nur der immanente Prozess des objektiven (ohne a priori Finalität) Versuchs der Steigerung des Vermögens, der Versuch eines Teils der Substantialität, welche sich in der Beziehung herausbildet, aber selbst nie unendlich sein kann. Die Substanz steht in Wechselwirkung [se reciproque] mit der Substantialität. Gott zu lieben, Gott zu erkennen, das bedeutet nur zu versuchen, seine Substantialität anwachsen zu lassen, soweit man es kann, aufgrund seiner eigenen Individualität.
Jeder Modus ist teilweise in etwas anderem -, mehr oder weniger, in bestimmten Grade, in gewissen Beziehungen oder Interaktionen, unter gewissen Aspekten, unter gewissen Bedingungen. Die Freiheit ist die Fähigkeit, die adäquate Ursache von sich zu sein, vollständig, unter allen Verhältnissen, - sie ist also die Fähigkeit gänzlich und klar durch sich selbst verstanden zu werden. Was auch heisst, dass sie die Fähigkeit ist, total aktiv zu sein in Beziehung auf etwas, die Fähigkeit, die nicht die eines Modus sein kann. Der Modus ist in einem bestimmten Mass immer in etwas anderem durch das er begriffen wird, d.h. er ist immer durch etwas anders bedingt und erhält daher seine Notwendigkeit, d.h. er ist nicht frei. Trotzdem eröffnet sich der Weg für den Modus zur Erringung der Freiheit, der Steigerung seiner Kausalität und seiner Fähigkeit zu Begreifen, der Weg seines "In sich sein" auf der Grundlage des "In einem anderen sein". Der ethische Übergang ist Übergang des Vermögens, Entfaltung/Ermächtigung [potentialisation], Anwachsen des Vermögens zu handeln und zu denken. Für die Menschheit vollzieht sich dies zwischen einer bloss fiktiven Grenze, dem Nullgrad, und der Unendlichkeit, - eine Eigenschaft, die dem Modus vorenthalten ist [...]
Die einzig entscheidende Frage für die Menschen, die niemals ihr modales Wesen ablegen können, ist also die Erringung des Vermögens, des Prozesses der Substantialisation in der Konstitution der Verhältnisse des Vermögens. Es ist die Frage des Wachstums ihrer Aktivität, ihres Verstehens, ihrer Freiheit.
Es handelt sich darum, was der Mensch als Modus, also als Teil von etwas anderem durch das er ist und begriffen wird, werden kann. Wenn es hier auch keinen theoretischen Anthropozentrismus gibt, so doch einen ethischen. Das grundlegende Hauptinteresse Spinozas ist es, zu bestimmen, was der Mensch werden kann [24] auf der Grundlage dessen, was er ist. Das Wissen um die Dinge und die Welt ist konstituiert mit der Absicht, den Sinn der condition humaine und die Gesetze ihrer Bestimmung [destin] zu entdecken. Das Denken des Lebens hat nur zum Gegenstand, das unverletzbare Vermögen des einzig Heiligen zu enthüllen, das das Leben ist.
Wozu ist der menschliche Modus fähig ? E2 führt zu E3, zur Theorie des leidenschaftlichen Seins (welches zur Verwirklichung/zum Erkennen) des menschlichen Wesens (notwendig ist), welches den beiden dem Menschen möglichen Bestimmungen vorausgeht, - jene der Knechtschaft oder Unterwerfung unter die Leidenschaften, unter das Leben, das vom esse in alio und dem per aliud concipi (E4) beherrscht wird, und andererseits jene des Weges der Befreiung, Beherrschung der Realität der Leidenschaften durch die Erkenntnis der Vernunft [raison], d.h. das Leben das durch die Umkehrunng der absoluten Herrschaft des esse in alio geleitet wird, durch die Emergenz der adäquaten Handlung und durch das adäquate Begriffsvermögen [conception] (E5).
Die beiden Lebensarten, die die unaufhörliche [interminable] Passage von in alio zu in se kennzeichnen, mit ihrer immanenten Konversion, betreffen de facto zwei Modalitäten von Aneignung. Von E3 und v.a. von E4 an, kehrt die Ethik ihren Kurs um. Die These vom Teilhaben des Menschen an der Natur kehrt sich in die Perspektive ihrer Aneingung durch den Menschen um, der Teil dieser selben Natur ist. Die menschliche Welt ist wohl Ausdruck der Natur, aber sie wird als eine Produzentin einer spezifischen Welt analysiert und abgeleitet. Das Vermögen des Universums erweist sich von jetzt an im konstitutiven Vermögen der Welt der Modi, der menschlichen Welt. (Vorwort E3).
Von diesem Gesichtspunkt aus kann man von einem zweiten Kurs der Ethik sprechen, welcher sich um die Theorie des endlichen Modus dreht, dem conatus, als Einheit im Trieb des körperlichen Wirkens (causation) und des ideenhaften Begriffsvermögens. Die entscheidende Zäsur liegt nicht so sehr auf der Ebene von E3, als vielmehr auf der von E4. Denn E3 verfolgt die ontologische Ableitungsbewegung, gefasst in der Objektivität ihres "In-sich" und beginnt mit der Entdeckung der Koexistenz eines jeden Modus der Aktivität mit einem der Passivität, einem der Unwissenheit mit dem der Erkenntnis. Mit E4 vollzieht sich ein Bruch. Spinoza geht vom empirischen Ich und seiner Produktionsweise in der Knechtschaft aus, von seiner Erfahrung der Leidenschaften als Variationen seines Vermögens insofern es Teil der Natur ist.
So vollzieht sich auch die Formierung des Befreiungsprozesses im Inneren des ontologischen Prozesses des conatus und dem exemplarischen Lebensmodell, wie es sich bilden kann, indem es auf relative und relationelle Weise die Begriffe des Guten und des Bösen ins Spiel bringt.
IV. Man darf die Ethik also nicht spekulativ interpretieren. Man muss ihren einzigartigen Charakter des theoretisch-praktischen Werkes wiederherstellen, wo die Theorie die Praxis erhellt und umfasst. Unter Praxis [pratique] muss man zunächst den antiken Begriff der praxis verstehen, den Bereich der eigentlichen menschlichen Tätigkeit, des Zusammenwirkens der Menschen untereinnander im Rahmen der Polis und unter bezug auf das gute Leben, das gute Handeln, in welchem das Glück, die Vervollkommnung, das höchste Gut liegt. Diese völlig klassische, antike Fassung [25] erfüllt Spinoza mit einem neuen Sinn, welcher nicht der neue gewöhnliche Sinn ist, welcher in seiner Epoche herrschend war.
Die hier gemeinte Praxis schliesst nicht das Erzeugen von Gebrauchsgegenständen aus, was die Antike als eine Tätigkeit von niedriger Rangordnung betrachtete. Die Praxis Spinozas erlangt wieder den Sinn der Tätigkeit des conatus - d.h. die Suche nach dem eigenen Nutzen, insofern er sich in den Beziehungen mit den anderen Menschen und gleichzeitig in der Beziehung mit den nicht-menschlichen Dingen, den natürlichen und den erzeugten, verwirklicht [passe]. Dieser conatus impliziert seine Entwicklung im Wissen, und gleichzeitig verliert die theoria ihre autonome Transzendenz, welche die Tradition so hoch schätzte. Genauer: Spinoza schreibt die Modi oder Formen des Lebens in die unendliche Produktivität der Natur ein, die [die Modi und Formen] nicht ausgehend von sich selbst produziert werden können, die aber für eine differentielle Produktion empfänglich sind.
Ebenso wie die antike Tradition die dem Menschen eigene physis, ausgehend von der Dreiheit poeisis-praxis-theoria, untersucht, welche als die Hierarchie der dem Menschen eigenen Lebensarten gedacht wird, setzt Spinoza die Dreiheit von poiesis-praxis-theoria in der Einheit derselben Lebensform wieder zusammen. Jede Lebensform, jeder bios, ist eine spezifische Einheit von poiesis, praxis und theoria. Oder vielmehr: In jeder Lebensform korrespondiert einer Existenzmodalität des individuellen Körpers, im Verhälltnis zu anderen Körpern der Natur (poiesis) und zu Körpern des selben menschlichen Wesens (praxis) eine Existenzmodalität der Seele, oder des Geistes, der Erkenntnis (theoria).
Spinoza erneuert von Grund auf, durch Verbindung mit seiner Theorie der Individuation, die aristotelische-stoizistische Tradition der bioi, welche das philosophische Leben in einem Kontinuitäts- und Bruchverhältnis verortet, - und zwar zum einen mit dem praktischen Leben und zum anderen mit dem poietischen Leben, unter Zurückweisung des knechtischen Arbeitslebens und unter Zurückweisung des Gewinnstrebens. Ebenso wie das antike Denken diese bioi als ebensolche hierarchisierte Steigerungen erforscht, welche im selben Raum ein für alle mal gegeben sind, - so verteilt Spinoza sie auf gewisse Weise auf jede Lebensform oder jeden Lebensmodus (der Erkenntnis und des Handelns) seiner Unterscheidung. Jede Lebensart oder -form wird ausgehend von der Suche nach seinem eigenen Nutzen verstanden. Diese vereinigt wieder poiesis und praxis, nämlich, zum einen die Arbeit des Herstellens und er Aneignung der Elemente der Natur, die für das menschliche Leben nötig sind, und, zum anderen vereinigt sie das Ensemble der sozialen und politischen Verhältnisse, welche die Individuen untereinander eingehen, um ihr Leben zu organisieren. Dieses Streben nach dem eignen Nutzen ist immer mit der Fähigkeit der Erkenntnis mittels mehr oder weniger adäquater Ideen verbunden.
Tatsächlich resrtukturiert die Theorie des Parallelismus jene des bios: poiesis und praxis werden ausgehend vom Streben nach dem Nutzen neu gedacht, d.h. ausgehend von der Fähigkeit des individuellen Körpers zu handeln und zu erleiden; affiziert und bestimmt zu werden in der Interaktion mit anderen handelnden Körpern in seinen eigenen konstitutiven Teilen; die Eignung, die anderen Körper zu affizieren [26] und zu bestimmen indem er die Ursache ihrer Modifikationen und ihrer Integration in den Verhältnissen ist, welche für ihn Aneignungsbeziehungen sind. Ebenso wird gleichzeitig die theoria neu gedacht. Gleichzeitig und nicht im Vorhinein oder im Nachhinein, - die Fähigkeit des Körpers ist der Fähigkeit der Seele korrelativ. Definiert als Idee des Körpers, welche adäquate oder inadäquate Ideen des Körpers, der anderen und der eigenen, sind. Inadäquat bedeutet unvollständig und verstümmelt; adäquat bedeutet vollständig und umfassend [intégral]. Die theoria ist nicht das reine Denken, welches von seinem körperlichen Substrat losgelöst ist und seiner Empfindungen entkleidet. Sie ist das Vermögen, die Begriffe zu bilden, die ein reales Korrelat haben müssen [qui ne peuvent pas ne pas avoir]. Sie wertet die Nützlichkeit im strikten Sinne um.
Für Spinoza gibt es kein Leben zur technischen Herstellung der nützlichen Dinge, das als vereinigender Bezugspunkt [unité de référence] dienen könnte. Hier ein Leben zur Erledigung der schönen und guten Handlungen in Gemeinschaft mit anderen (und für diese Gemeinschaft); und dort eine Leben des reinen Denkens, das die anderen voraussetzt [et les accomplit, ?]. Es gibt auch keine ewige Theorie der menschlichen Natur und ihrer Fähigkeiten, als Grundlage der Verteilung und Teilung der gesellschaftlichen Funktionen (ökonomische Funktionen und Klassen der Erzeugung und Subsistenz, ethisch-politische Funktionen und Klassen der Anleitung, theoretische Funktionen und Klassen des Denkens und des Wissens), die diese Leben untermauern würde. Spinoza, als Übersetzer und fortgeschrittenster Kopf seiner Zeit, weist in der einfachen Sphäre der tierischen Bedingtheit der Menschheit die Arbeit und den arbeitenden Körper nicht zurück. Wenn er nicht explizit, wie Hobbes und Locke, die Arbeit im bürgerlichen Sinn (Verwertung durch den Gebrauch von Produktionsmitteln, Produktion von Mehrwert) thematisiert, so erforscht er dennoch die Voraussetzungen dieser Thematisierung - und zwar indem er die doppelte ökonomische und politische Dimension der Aneignungstätigkeit auf eine Physik, eine Anatomie des Körpers zurückführt, soweit, bis sie Theorie der menschlichen Natur und ihrer Fähigkeiten wird. Und diese Aneignung ist nicht mehr ausschliesslich privat.
Vielmehr ist die Reproduktionsweise [mode de reproduction] der körperlichen Individualität der Leitfaden: Diese reproduziert und erweitert ihre Erscheinungssphäre indem sie die inneren Lebensbedingungen reproduziert. Dies erfordert, dass sich dieser Körper, Teile anderer Körper aneignet, welche so entindividualisiert werden, - was die Neuzusammensetzung dieser Körperteile, ein neues Prozessgleichgewicht, impliziert. Was Spinoza von Lockke und Hobbes unterscheidet, welche beide Herolde der Meisterung der Aneignug der Natur durch das menschliche Subjdkt sind, scheint ihn paradoxerweise an die Vergangenheit zu binden: sein Interesse für die Interdependenzverhältnisse, die Zurückweisung jedes theoretischen Anthropozentrismus, die nichtreligiöse Erkenntnis des Bandes, das den Menschen mit den anderen natürlichen Wesen verbindet. Die Physik erweitert um die menschliche Individualität, dieses Substitut einer politischen Ökonomie der Aneignung, diese Grundlage vernünftiger Politik, gründet sich auf der modernen und materialistischen Instanz des Strebens nach dem Nutzen und Interesse. Aber das eigentliche der spinozistischen Interpretation des conatus ist, dass sein aneignender Dynamismus [27] keine absolute, monopolistische, demiurgische Instanz darstellt. Die Organisation des Lebens des Körpers, die Reproduktion seiner inneren Bedingungen setzt vielmehr eine Logik der Kräfteverhältnisse voraus, eine positive Expansivität; doch diese geht niemals soweit, dass sie aus diesem Körper das Mass aller Dinge macht, den Herrn der Natur. Die relationale Dimension des Verhältnisses, das den conatus konstituiert, wird niemals bis zum Absoluten, als Prinzip der Intelligibilität, getrieben. Also kein Idealismus, von diesem Gesichtspunkt. Noch weniger ein privates Ausschlussdenken der Aneignung.
Diese Aneignung vollzieht sich auf der Grundlage der Erkenntnis der Dependenz- und Interdependenzverhältnisse mit anderen Körpern. Es handelt sich darum, diese Umstände eher relativ als absolut zu meistern, einen Bereich oder eine Seite der angeeigneten Natur einzuführen, ohne die konfliktuellen Gleichgewichte mit dem Milieu abzubrechen. Die Nützlichkeitsbeziehung (oder der Gebrauch) mit den "anderen" natürlichen Dingen und mit den "anderen Menschen" vollzieht sich für Spinoza nur, wenn die Logik der unmittelbaren Kraft (die grossen Fische fressen die kleinen; die Mächtigeren unterwerfen die Schwächeren) sich ohne Kontinuitätsbruch in die Assoziationsverhältnisse mit anderen Körpern des selben Wesens übersetzt und bestimmt, welche so beschaffen sind, dass jeder Körper sich unter bezug auf das unendliche Vermögen der Dinge entwickeln kann. Spinoza erwartet eine Übersetzung der Kräfteverhältnisse in Austausch- und Kommunikationsverhältnisse: die Kraft ist nur wahrhaftige Kraft als Kommunikation, aneignende Integration. Der Austausch wird durch sich gedacht, jenseits der historischen Form des kapitalistischen Marktes, als Instanz der Zusammensetzung, als Ort der Anwendung der positiven Kräfte, als Prinzip einer meta-monopolistischen Gesellschaftlichkeit.
Von diesem Gesichtspunkt aus kann die erste Lebensart [genre de vie] auf seiner physich-körperlichen Ebene als Ebene definiert werden, wo die menschlichen Körper sich reproduzieren und dabei in die Schwierigkeiten der konfliktuellen Verhältnisse des Gebrauchs verwickelt sind, wo die Knechtschaft herrscht, wo sich der Austausch in der Form der instabilen Unterordnung realisiert. Die zweite Lebensart, gefasst auf ihrer physisch-körperlichen Ebene, ist jene, wo die Körper eine bessere Fähigkeit zur Reproduktion erhalten, indem sie die Ursache ihrer Handlungen auf das Äussere werden, - und dies wiederum indem sie das Netz der Kommunikation und des Austauschs, welche die Entgegensetzungen und Konflikte regulieren, wechselseitig bewirken und stabilisieren.
Spinoza hatte also, als Kern der Überarbeitung der poietischen-praktischen Instanz, auf eine Physik des körperlichen Tauschs abgezielt, deren Überlegenheit über eine einfache Physik possessiven Gebrauchs er voraussetzte: Es gibt Eigennutzen nur auf der Grundlage des allgemeinen Tauschs.
Bedeutet das nicht, zu sagen, dass Spinoza in Wahrheit die Anatomie der kapitalistischen Warengesellschaft dachte ? Es wird wenig über die Konflikte gesagt, welche auf dem Terrain des Tauschs entstehen und sich dort abspielen. Das ganze theoretische Problem von E4 und E5 ist es, das Aktiv-Werden der Modi zu denken, die Aneignung, die, durch die Austauschkonflikte, den geregelten Austausch konstituiert, der tendenziell von den Konflikten befreit ist. Der TPT [28] und der TP beweist, dass die spinozistische Politik die Tugenden des Warentauschs nicht idealisiert, aber auf der Notwendigkeit besteht, ihn zu konstruieren und zu meistern, im Austausch, wo die Konflikte sich als solche aufheben [finishing stroke, Malabou-Marx]. Somit besteht er auch auf einer Politik, die die Konfliktualität, welche ins Zentrum des monopolisitischen Tauschs unter Ungleichen eingeschrieben bleibt, kontrolliert und, wenn es nötig ist, unterdrückt [annuler].
Jedenfalls wird jede Lebensweise [mode de vie] ausgehend von seiner körperlichen Poetik und Praxis her gedacht, welche die ökonomische Aneignung und das ethisch-politische Verhalten wiedervereint. Die Lebensart [genre de vie], welche duch die Leidenschaften und die Imaginationen beherrscht wird, ebenso wie die Art, die durch die Tätigkeit und die Vernunft beherrscht wird, definieren sich durch ihren bezug zur Fähigkeit des Körpers zu handeln (poetisch und praktisch). Beide beinhalten also Produzenten und Politiker, welche auch als "Theoretiker" verstanden werden, denn der Fähigkeit des Körpers zu handeln und zu erleiden korrespondiert eine Fähigkeit des Verstandes, die adäquate Ursache der wahren Ideen zu sein.
Keine Erkenntnisart, die nicht mit einer Modalität der Aktualisierung/Verwirklichung des Handlungsvermögens des Körpers verbunden wäre, keine Aktualisierung/Verwirklichung dieses Vermögens, das nicht mit einer Erkenntnisart verbunden wäre.
V. Man versteht nun, warum die Ethik nicht mit der Erwähnung nur der Figur des Wissenden endet. Sie endet mit der Erwähnung der Antithese, welche durch die beiden Typen der menschlichen Individuation konstituiert wird, welche sich in ihnen konzentriert, - und sie endet mit der Differenz der beiden äusserten Formen des Lebens, sie endet mit der gegenwärtigen Realität ihrer Konfrontation - der Wissende und der Unwissende.
Denn ausser dass der Unwissende von äusseren Ursachen auf vielfache Weisen umhergetrieben wird und nicht im Besitz der wahre Befriedigung des Gemüts ist lebt er überdies gleichsam ohne Bewusstsein seiner selbst, Gottes und der Dinge, und sobald er aufhört zu leiden, hört er auf zu sein. Der Weise dagegen, insofern man ihn als solchen betrachtet, wird in seinem Gemüte kaum beunruhigt, sondern seiner selbst, Gottes und der Dinge mit einer gewissen ewigen Notwendigkeit bewusst, hört er niemals auf zu sein und ist immer im Besitze der wahren Befriedigung des Gemüts. (E5P42S)
Die Glückseligkeit ist zwar der Endzstand des Induviduationsprozesses, die letzte morphologische Etappe der menschlichen Produktivität mit ihren theoretischen, physischen, ökonomischen und politischen Aspekten, aber sie kann nur in einer dialektischen Konfrontationsbeziehung mit ihrer Antithese - der Unwissenheit, d.h. dem anfänglichen Zustand des morphologischen Prozesses, der noch für den Grossteil der Menschenn den einzigen Horizont darstellt - bestehen. Die Ethik unterstreicht in dieser letzten Anmerkung weniger die beide Pole dieses Individuationsprozesses, als vielmehr die Notwendigkeit der Umkehrung ihrer relativen Bedeutung [importance]. Sie endet, indem sie andeutet, dass der Wissende das Wissen dieser besonderen Sache produzieren muss, die die Koexistenz dieser beiden Produktionsweisen der menschlichen Individualität ist. Die Ethik endet, indem sie andeutet, dass das politische Problem jenes der Verwickeltheit dieser beiden Produktionsweisen der menschlichen Produktivkraft ist. Wenn das ethische Wissen seine Teilung impliziert und die Zusammensetzung der Geister und Körper erfordert, so bleibt die aktuelle Gegenwart [29] eine der Entgegensetzung der Geister und der Körper, der Entgegensetzung der beiden Produktionsweisen des menschlichen Lebens. Die Ethik weist die kollektive Aneignung der Natur, indem man die Produktivkraft anwendet, nicht zurück, aber sie deutet an, dass die Zusammensetzung von Wissenden und Unwissenden, als der Kampf zwischen zwei Seiten der Produktionsweise der menschlichenn Individualität, heute auf der Tagesordnung steht. Die Glückseligkeit - welche ihre eigene Politik entwickelt - bleibt nicht bei ihr stehen, sondern sie verlangt dass man Staatspolitik betreibt, dass man die Koexistenz der Lebensarten betreibt.
Die Glückseligkeit ist zugleich ein Zustand und ein Verlauf, ein Ergebnis und ein Weg. Wenn sie auch den historischen Prozess, der zu ihr führte zu annulieren scheint, so schliesst sie vielmehr mit einem Akt, der die durée nicht annuliert, sondern sie in jedem Moment als Weg der Befreiung bestimmt, als Weg der Verewigung, welchen es, auf der Grundlage des bereits erreichten, zu erringen gilt. Die Glückseligkeit ist eine unbeendbare Passage zu der Grenze, wo der Wissende die einzelnnen Wesen erkennt, welche für alle Wissenden zugänglich sind; wo er versteht, dass die Antagonismen des conatus sich zusammensetzen können, da sie an der selben Produktionsgemeinschaft teilhaben. Diese Passage zur Grenze wird nicht ausserhalb der Zeit und der Geschichte überwunden, - sie ist die Freude der wahren Zufriedenheit, welche sich aufgrund der neuen Erkenntnisse ereignet, ein neuer Aufschwung der Physik, der Politik, ein neuerliches Anwachsen unserer produktiven Fähigkeit.
"Wenn der Weg auch schwierig erscheint, so kann er dennoch gefunden werden." Ein Weg der immer grosse Mühe ihn zu finden (magno labore reperiri) erfordert.
Diese Gemeinschaft der Wissenden muss als physisch-ökonomisches Korrelat eine Maximierung unserer Aneignungskraft besitzen und gleichzeitig impliziert sie das Ende des Staats soweit er dem leidenschaftlichen Leben entspringt. Die dritte Lebensart vollendet jene zweite, deren Grenzen sie sprengt. Sie repräsentiert die kontrafaktische Kritik des Marktes und der Produktionsverhältnisse die ihm entsprechen, d.h. das Ende des homo oeconomicus. Ebenso repräsentiert sie das Ende der Staatspolitik und den Beginn einer Politik die jener der kollektiven Aneignung unserer eigenen sozialen Kraft ist.
Trotzdem ist es nicht nötig, den Spinozismus in einen Evolutionismus oder Historizismus zu transformieren. In unserer Gegenwart stellt sich das Problem der Koexistenz der Lebensformen und ihrer jeweiligen Hegemonie. Jene erste Lebensart, wenn sie auch die Matrix der passiven Lebensformen ist, die immer noch andauern, kann nicht völlig verschwinden. Sie ist nicht nur eine erste Etappe, welcher man morgen einem jeden Anwärter der menschlichen Individuation ersparen wird können. Sie ist ein erzwungener Anfang den jeder passieren und wiederholt passieren muss, selbst der Wissende. So verstanden, ist es möglich ihre Bedeutung zu vermindern und die Dauer der Passage zu verkürzen. Das ist mehr oder weniger leicht, wenn dieser Anwärter auf die Individuierung in einer Gesellschaft geboren wird, wo jene zahlreich und entwickelt sind, die jene erste Lebensart eingerichtet haben und die Beziehung zur Natur und zu den Menschen, die sie implizieren. Man kann die Idee einer Gesellschaft bilden, wo [30] die Mehrheit der Menschen die Formierung durch die erste Lebensart abgekürzt haben oder den Rückfall in sie vermindert haben und auf dem Niveau der zweiten Lebensart Leben werden, ihre Kinder, auf eine Weise erziehen werden, die, so gut es geht, den passiv-leidenschaftlichen Moment abkürzen, zumindest indem sie die verzweigten Strukturen, welche die erste Art produziert auflösen und sie durch "rationale" Strukturen ersetzen, durch kontrollierte leidenschaftliche Schemata, die die Menschen trotzdem "rational" bleiben lassen.
Der Weg, der hier für jedes Individuum angezeigt ist, kann erleichtert werden, wenn der letzte Term definitv konstituiert ist, wen er sich wie ein Block etabliert, von dem ausgehend, man die Proportion zwischen aktivem Leben und passiven Leben umkehren kann. Letzlich kann das, was für alle den Ausgangspunkt konstituiert hat, im Minimum wieder zugespitz werden. [?!] Der Staat und seine Institutionen können, wenn sie reformiert werden, dazu dienen, eine neue Grundlage zu konstituieren, die es erlaubt, aus der Bedingung der Unwissenheit und der Passivität einen einfachen Anfang zu machen, der von allen ideologischen, ökonomischen, politischen Formationen gereinigt ist, die er historisch beinhaltete. Spinoza sagt nicht, dass die Masse der Menschen immer schon leidenschaftlich war und für alle Zeiten sein wird, und das nur eine Minderheit zur höchsten Individuation vordringt. Er sagt darüberhinaus auch nicht, dass die Gegenüberstellung von Masse und rationaler Elite eine ewige und unveränderbare Situation ist. Spinoza sagt, dass bis heute der Wissende eine denkbare Realität ist, dass die höchste Lebensform eine Realität ist, die in Konkurrenz und in Diskussion mit der ursprünglichen [primaire] und niederen Lebensproduktion steht.
VI. Die Situation der Ethik ist in diesem Sinne einzigartig und epochal. Spinoza denkt diesen Übergang - den er als einzelner vollzogen hat, indem er ihn begreift - als letztlich für alle, für die Gattung verallgemeinerbar und universalisierbar, denn es handelt sich um eine menschliche Möglichkeit. Man kann die anfängliche Situation der Passivität, die der endlichen Modalität eigen ist, nicht völlig auflösen. Aber das Eigentümliche der menschlichen Natur ist es, ihre Fähigkeiten zu entdecken und zu realisieren und für einen jeden den Anfang in der Passivität auf ein Minimum zu reduzieren. Obwohl der Anfang für alle die Grundlage bleibt, kann er abgekürzt und überwunden werden. Es kann in ein inneres Moment "zurückgenommen" werden, das durch die höchsten Lebensformen bestimmt ist.
Die Historizität, die wir geneigt sind, in der Ethik zu lesen, findet sich weniger in der Aufeinaderfolge und in der Hierarchisierung der Lebensformen, als vielmehr in der unendlichen Passage von der einen zur anderen, in der Umkehrung ihrer jeweiligen Proportionen. Zwischen einer Situation, wo alle beginnen und in der ersten Lebensart verbleiben (indem sie das Ensemble der Bestimmungen dieser Lebensart entwickeln) und der Grenzsituation, wo alle für alle Zeiten zur dritten Lebensart gelangen und in ihr verbleiben - dazwischen gibt es den Raum eines Übergang, der die Historizität ist.
Die Ethik denkt die reale Möglichkeit der Hegemonie einer Lebensform. Die erste wird aus einer Grundlage und aus einem inneren Horizont zu einer "vorausgesetzten" Lebensform, deren Notwendigkeit man tendenziell reduziert. Letztlich bezeichnen [31] die Inhalte der ersten Lebensform einfach die ursprüngliche Bedingung einer Abhängigkeitsbeziehung hinsichtlich dem Anderen (Natur und Gesellschaft), der notwendigen Beziehung durch die der menschliche Modus zur "Kausalität durch sich" Zugang finden kann. Man kann ebenso sagen, dass der Feudalismus und der beginnende Kapitalismus die Grundtendenz [statut] haben zum Bodensatz und zur Grundlage einer zivilisierteren Form der Existenz zu werden, Kritik der Grenzen und der Widersprüche dieses Vorausgesetzten.
Die Zeitlosigkeit der Lebensformen schliesst tatsächlich die Differenzierung ihrer relativen Proportionen ein. Diese Zeitlosigkeit ist Schein. Der Pol durch den alles beginnt, muss die Vorherrschaft dem Pol überlassen, zu dem die Elite, die allerdings eine Avant-garde der Gattung ist, gelangt. Dieser erste Pol bezeichnet gleichzeitig eine ontologische, universelle und invariable Bedingung und die Variationen und Konfigurationen, die diese Bedingung verlangt [commande]. Es ist aber möglich, diese Bedingung von den Variationen zu trennen; Es ist gleichfalls möglich, in dieser Bedingung die Konstitution eines entgegengesetzten Pols zu konstruieren, - nämlich jenen der höchsten menschlichen Individualität, mit den Konfigurationen, die dieser überlegene Pole erfordert. In der Inversion der Polaritäten produziert sich, auf der uneliminierbaren Grundlage der Abhängigkeit, die Konstitution der Gattung im Element der Endlichkeit, im Element ihrer fähigkeit zu handeln und zu denken, im element ihrer produktiven Kraft und ihres logischen Vermögens. Die Historizität ist die Spannung dieser Passage von Pol zu Pol. Es gibt kein menschliches Leben, das völlig der Passivität ausgeliefert wäre, denn unser singuläres Wesen ist affirmativ. Es gibt aber noch weniger ein völlig aktives menschliches Wesen, den die Aktualität der Aktualisierung ist zugleich produziert und zu reproduzieren. Wie der Unwissende ein endlicher Modus an der Grenze zum Bewusstsein und zum Handeln bleibt, so ist der Wissende in sich quasi-substantiell, aber sein Sieg muss immer wieder errungen werden, da die Substantialität dem Modus verwährt ist. Die beiden anthropologischen Figuren des endlichen Modus mit denen die Ethik schliesst, verweist uns ebenso zurück auf die beiden ontologischen Instanzen, mit denen die Ethik beginnt - das "in einem anderen Ding sein" und "in sich sein". Die Verschiebung der menschlichen Modulierung, ausgehend vom "Sein in einem anderen" (die Knechtschaft) hin zum "Sein in sich" (die Freiheit) liegt also innerhalb des ontologischen Pulsierens, welches den Prozess des Realen durch sich dazu bestimmt, sich in einer Verkettung der Wesen [êtres] zu produzieren, die zunächst durch und in einem anderen sind.
VII. Läuft unsere Interpretation auf auf eine Art metahistorischer Typologie der Lebensformen hinaus, indem sie eine ewige Interpretation jeder möglichen Behandlung der durée und der Geschichte gibt? Handelt es sich darum, dass für jeden Menschen, in der Vergangenheit, Gegenwart und in Zukunft, der als endlicher Modus in der durée geboren wird, das ethische Problem das ist, sich aus einem Sklaven in einen freien Menschen zu verwandeln? Handelt es sich darum, zu behaupten, dass im Allgemeinen und für jeden Einzelmenschen gilt, dass seine erste Beziehung zur Realität und zur durée jene der Abhängigkeit, des in alio, der Knechtschaft ist? und dass für ihn der Prozess seiner Individuation als Erringung der Fähigkeit adäquate Ursache und adäquates Begriffsvermögen zu sein, auf dem Spiel steht? Auf gewisse Weise, ja. Für den Wissenden handelt es sich tatsächlich darum, zu verstehen, dass für seine Zeit, zu jeder [32] Zeit, sich die Frage dieser ewigen Passage stellt, - dieser ewigen Passage von der erlittenen durée zur verstandenen und bewirkten durée, von der Geschichte die "über" uns sich vollzieht, ohne uns, zur Geschichte, welche von uns gemacht, mit uns, - Passage von der Zeit zur Ewigkeit.
Aber die Ethik reduziert sich nicht auf diese metahistorische Typologie. Eine solche Interpretation riskiert immer eine Annulierung der durée, der Geschichte und der endlichen Modalität als Illusion oder Scheinhaftes, da es sich um die einfache Erklärung einer Eigenschaft handelt, die von jeder Ewigkeit in die Entwicklung der endlichen Modalität eingeschrieben wird. Nun, wenn es auf gewisse Weise legitim ist, die Möglichkeit des Expliziten, das als Tatsache gegeben ist, in einem Implziten, das es enthält, zu suchen, so ist es nötig zu verstehen, dass die Explikation nicht a priori vorausgesetzt werden kann: Deshalb weil sie stattgefunden hat, haben wir einen Grund zu sagen, das es stattfinden kann. Wenn es nicht so wäre, wäre die Ethik für sich selbst unintelligibel. Wenn die Ethik geschreiben wurde, wenn Spinoza, der sie schrieb, selbst auch möglich ist, so deshalb, weil die Zeit der Ethik und Spinozas die Bedingungen dieser Schrift vereinigen.
Die Zeit, die durée, die Geschichte können als wesentliche Dimension des ontologischen Prozesses interpretiert werden, soweit er für uns Befreiungsprozess ist. Unter diesen Bedingungen kann man sagen, dass die Ethik ihre eigen Gültigkeit für alle Zeiten denkt, für alle Zeiten, wo der primäre Indivviduationsprozess gemäss der Polarität von Knechtschaft und Freiheit (esse in alio und esse per se) skandiert werden muss. Der Beginn der intuitiven Wissenschaft als theoretische Modalität der höchsten Lebensform, die der Gemeinschaft der Wissenden zu eigen ist, reflektiert die Probleme der Gegenwart, auf der Basis der Bilanz, die der aktuellen Zustand des Formationsprozesses des Realen konstituiert, der in seiner Notwendigkeit erfasst wird und in der Notwendigkeit seiner Produktion gedacht wird. Die Ethik ist eine Theorie der Produktion des Befreiungseffekts. Von diesem Gesichtspunkt ist die scheinbare Unhistorizität (oder die schlecht verstandene Ewigkeit) der Ethik das, was ihre Historizität konstituiert: Sie behandelt die historische Zeit der Menschheit als Geschichte der Passage von der Knechtschaft, der absoluten Abhängigkeit "vom Anderen" (und den diversen Figuren des Anderen) zu Freiheit als relative Autonomie. Die Ethik bewahrt ihre metahistorische und gleichzeitig historische Wahrheit, gültig für die durée im Allgemeinen, für jede Geschichte in dem Mass, als es sich um eine Zeit der Knechtschaft handelt. Sie behält ihre Gültigkeit soweit die Grenzen und Hindernisse der gegenwärtigen Knechtschaft die gegenwärtige Notwendigkeit des Befreiungseffekts gebiert. Alle Zeit, wenn es die Zeit der Knechtschaft ist, wird von der Ethik als zukünftig gedacht, als Zeit des Anfangs, die kein vorherbestimmter Ursprung ist, da in ihm die Möglichkeit und die Notwendigkeit der Befreiung produziert ist.
Soweit die Menschen mit einer Lebensart beginnen, wo die Passivität und die Unwissenheit herrschen, so wird ihre Zeit jene sein, wo die Ethik , mit der ihr eigenen Artikulation mit den spezifischen Traktaten, die sie vervollständigen, auf der [33] Tagesordnung stehen wird. Von diesem Gesichtspunkt aus ist die Ewigkeit nichts anderes als die durée oder die in ihrer Notwendigkeit verstandene Geschichte. Für den Menschen ist sie nichts anderes als die Notwendigkeit seiner eigenen morphologischen Individuation, verstanden zugleich als Ergebnis und als Prinzip für ein neues Beginnen. Die Ewigkeit ist die verstandene Notwendigkeit des Verewigungsprozesses [vgl. Balibar, point of no return] die den Wissenden zum Resultat hat, d.h. die physische Vergegenwärtigung [actualisation] der Fähigkeiten des Körpers (gleichzeitig verstanden in seiner ökonomischen und politischen Dimension, in der kollektiven Aneignung der Natur und einer nicht-staatlichen Regulation der Gemeinschaft); d.h. die Vergegenwärtigung des Wissens dieser Vergegenwärtigung selbst. Das ist auch zugleich ein Ergebnis und ein Prinzip, das einem Beginnen, für seine Reproduktion, vorausgesetzt ist,
VIII. Die Ethik enthüllt ebefalls eine objektive Zielbestimmung des Seins und des menschlichen Seins, welches insofern vernebelt war, als die Knechtschaft der ersten Lebensart für die Mehrheit der Menschen herrschte. Die Ethik ist das Buch, das der endlichen Modalität enthüllt, dass sie die unendliche Spannung des esse in alio hin zum esse per se. Sie ist das Buch wo sich diese Spannung der endlichen Modalität enthüllt. Als metahistorische Axiomatik der Behandlung der Geschichte aller Zeiten, die von der Knechtschaft zur Freiheit führt, schliesst die Ethik nicht mit einem absoluten Wissen, sondern sie endet mit einer Bilanz, die sich selbst für ihre Reaktualisierung öffnet. Diese Eröffnung impliziert das Begreifen des realen Prozesses und der Strukturen, welche die endliche Modalität bedingen. Der Wissende, der am Ende dieses Prozesses erscheint muss ewig wieder durch die Totalität der Dinge und durch sich selbst hindurchgehen [repasser par la totalité des choses, et par lui-même], soweit er Moment dieser Totalität ist. Er ist dazu verdammt, neuerlich von einem bestimmten Zustand seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten auszugehen, und dieser Zustand ist als inneres Moment bestimmt, produziert durch die unendliche Produktivität, auch wenn er selbst schon für sich produktiv ist. Die Reaffirmation des per se impliziert immer das Beginnen durch das per alio. Es ist normal, dass der Wissende zu seiner eigenen Produktivität sich wieder Zugang verschafft, ausgehend von der Unpersönlichkeit des schaffenden "man" ["on" naturante], indem er die Etappen des morphologischen Prozesses wiederverkettet. Wenn es sich darum handelt unsere Bestimmung in alio zu reduzieren, so weiss der Wissende trotzdem, dass es damit nicht bei ihm schon zu Ende sein kann [que rien ne se termine à lui-même], dass er, unter der Bedingung, dass er sich immer verorten kann, sich im schaffenden Prozess und im geschaffenen Drama der Knechtschaft und der Befreiung verstehen kann, in seiner Weisheit verharren kann. Der Wissende weiss, dass jede Konfrontation mit der Gegebenheit der Welt, ihn der Situation aussetzt, seine erworbenen Fähigkeiten aufs Spiel zu setzen und dass er sich selbst dem Griff dessen aussetzen muss, das durch und in anderem ist.
Die Ethik endet mit dem Wissenden; dieser aber beginnt mit der Reproduktion - der abgekürzten, akkumulierten oder modifizierten, wie auch immer. Er beginnt aber mit der effektiven Reproduktion des schaffenden Prozesses, der ihn produziert. Der Wissende ist Ergebnis und er kann nur Prinzip der Wiedereringung von sich selbst sein auf der Grundlage des Verstehens der dezentrierten Strukur des realen Prozesses, der [34] ihn produziert. Der Wissende erlangt Zugang zur Kausalität nicht durch sich, sondern reproduziert sie nur auf der grundlage der absoluten Priorität der anonymen schaffenden Kausalität [abwesende Ursache?] in der er immer schon als produziert figuriert, verursachter Modus. Der Wissende ist also weder Ursprung noch Endziel. Er ist Ergebnis und Bilanz soweit die Priorität dem anonymen Prozess zukommt, der ihn produziert. Das Aus-sich-hinaustreiben [excentration] und die Innerlichkeit des Modus und der Substanz zugleich bezeichnet einfach die Objektivität eines Prozesses, der für uns ein immanentes Ziel (die Kausalität durch sich) produziert, der aber diese Kausalität nicht als Ziel an sich hat.
Zwischen der Art, in der ein Modus sich vollendet, indem er die Kausalität durch sich reproduziert und der causa sui, als Substanz, besteht eine Differenz, die niemals aufgehoben werden kann, selbst wenn die Beziehung dialektisch ist. Deshalb ist es nötig, jedesmal den Weg der ganzen Ethik wieder zu durchlaufen, indem man sich auf den Standpunkt des Prozessesin seiner Objektivität stellt, um daraus sein Produkt als Wirkung abzuleiten. Die Befreiung ist nicht Subjekt - sie ist Wirkung.Sie kann von dem Modus, der sie verwirklicht, nur von den Ermöglichungsbedingungen ausgehend verstanden werden, d.h. von der realen Ordnung der Produktion der Dinge, welche, ausgehend von ihren Strukturen, die Ordnung der sukzessiven Logik der Lebensformen produziert.
An sich und für uns, soweit wir das "An-sich" der Produktion der Möglichkeit eines "Für-uns" verstehen, wird abgeleitet, dass es nötig ist, mit der notwendigen und freien Entwicklung der unendlichen Produktion zu beginnen. Es ist nötig, die Bewegung zu reproduzieren, durch welche diese sich als einer ihrer Effekte der menschlichen Modalität setzt und die Entwicklung dieser Modalität in Lebensformen skandiert, welche selbst gemäss des unendlichen Übergangs, oder der Passage von der Passivität zur Aktivität, von der Unwissenheit zur Erkenntnis, von der Knechtschaft zur Freiht. Die Ethik ist zugleich zirkulär und linear. Linear, weil der Prozess oder Fortschritt der Verewigung [éternisation] offen ist. Zirkulär, weil sich dieser Prozess nur vollziehen kann, wenn er von der neuerlichen Verwirklichung [réeffectuation] seiner produktiven Ursache ausgeht, und zwar als Wirkung, die durch und in der unendlichen Produktivität der Natur, in welcher die endliche menschliche Modalität eingeschrieben ist (...). Die ewige Gegenwart der Verwirklichung [actualisation] unserer endlichen Modalität muss man als Wirkung des produktiven Prozesses der unendlichen Natur verstehen, - eine Wirkung, die sich nur reproduziert und sich nur akkumuliert, auf der Basis des früheren Stattfindens des Prozesses, dessen Wirkung er ist
Ebenso bleibt die Glückseligkeit, die als Zufriedenheit vollkommen ist, offen und unabgeschlossen. Es gibt einen Befreiungseffekt in Ewigkeit nur als Wirkung, als Geschichte. Jeder Geist, der existieren muss, muss auch auf eigene Verantwortung und zu seiner Zeit, soweit er in sich ist, den Prozess neuerlich bewirken, dem nichts vorangeht. Der Wissende beschränkt sich nicht, darauf den Prozess, der den Wissenden produziert spekulativ zu überdenken, d.h. die Möglichkeit des Prozess, den Wissenden in seinem eigenen Denken zu produzieren. Der Wissende, das Denken des Wissenden sind nicht das Mass des Prozesses. Indem der Wissende den Prozess der Verwigung in der Geschichte als das denkt, das sich nicht nicht wiederholen und reproduzieren kann [35] denkt er die Priorität, das frühere Stattfinden der Wirkung des Prozesses auf das Denken, die dieses reflektiert. Er denkt, dass die Funktion des Denkens nur das Denken der realen Reproduktion dieses Prozesses ist. Das Denken ist der Wirkung innerlich, das neuerliche Überdenken ist der neuerlichen Bewirkung innerlich. Für jeden Geist, zu seiner Zeit, ist es nötig, dass er zu allgemeinen Strukturen des unendlichen produktiven Vermögens gelangt, es ist nötig, sich als expressive Produktivkraft dieses Vermögens zu bestimmen und ausgehend vom Beginnen, das von der Knechtschaft auferlegt wird, den Befreiungsprozess abzuleiten, d.h. zu produzieren; - mit seinem Ergebnis - der Glückseligkeit, die Zufriedenheit adäquate Ursache und adäquates Denken zu sein. Man befreit sich nicht durch einfache "reflexive" Wiederholung im Befreiungsprozess . Man befreit sich auf eigene Rechnung, in seiner eigenen Zeit, zunächst als Wirkung der Knechtschaft, danach als Möglichkeit des Befreiungsprozesses. Man befreit sich ohne teleologische Garantie die Freiheit ein für allemall errungen zu haben, das diese in jedem Augenblick der modalen durée wieder aufs Spiel gesetzt wird, durch die Herausforderung, die unendlich von der Konjunktur produziert wird.
Die Zirkularität der Ehtik ist nicht jene der spekulativen Reflexion; sie ist jene des Neubeginnens eines Prozesses, wo sich etwas produziert, das sich akkumuliert, das fortschreiten kann nach jeder Rückkehr zu seinen eigenen Ermöglichungsbedingungen. Es gibt etwas Unschuldiges in unserer produktiven und logischen Kraft, die von der Formalisierung der Herrschaftsverhältnisse gereinigt ist, von der privaten Anneignung und vom gewaltsamen Zwang. In diesem Sinn schliesst das zirkuläre Neubewirken der Ethik auf allen ihren Wegen die Möglichkeit einer Behandlung der Konjunktur ein, die Möglichkeit einer spezifischen Abhandlung, welche eine singuläre Sache betrifft, die für den morphologischen Prozess wichtig ist. Der TPT und der PT sind die konkreten Formen dieses Neubeginnens, das die Behandlung der Konnjunktur gemäss der reinen "Axiomatik" der Befreiung ist.
Deshalb hat Spinoza, der die Ethik unterbrochen hat, um den TPT zu schreiben und der damit die Gemüter auf die Veröffentlichung der Ethik vorbereitet hat, den PT geschrieben - die Ethik, eben erst beendet, wendet er sich wieder der Politik zu, ohne dass man sagen könnte, dass dieser Abschluss das letzte Wort des Wissenden ist. In der Theorie von der Gegenwart als Gegenwart der Befreiung liegt es, dass die Ethik sich als Logik der Historizität, als Syntax der Passage von der Passivität zur Aktivität in der Politik enthüllt.